Sara Savona – GBS Schweiz https://gbs-schweiz.org Aufklärung im 21. Jahrhundert Thu, 07 Aug 2014 14:23:56 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.6.1 Aber möglich ist es trotzdem, nicht? https://gbs-schweiz.org/blog/aber-moeglich-ist-es-trotzdem-nicht/ https://gbs-schweiz.org/blog/aber-moeglich-ist-es-trotzdem-nicht/#respond Fri, 22 Nov 2013 17:42:45 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=3121 Vor einigen Jahren äusserte eine Person im Gespräch, dass sie nicht an die Evolutionstheorie glaube. Darauf entgegnete ich

Wir sind nicht mehr im 19. Jahrhundert. Als Darwin zum ersten Mal die Evolutionstheorie vorschlug, mag es vernünftig gewesen sein daran zu zweifeln. Aber nun schreiben wir das 21. Jahrhundert. Wir können Gene lesen. Menschen und Schimpansen teilen 98% ihrer DNA. Wir wissen, dass Menschen und Schimpansen verwandt sind. Es ist aus.

und es entstand folgender kurze Wortwechsel

Vielleicht ist es ja Zufall, dass die DNA so ähnlich ist.

Diese Wahrscheinlichkeit dürfte bei etwa 2^750’000’000 zu eins liegen.

Aber die Möglichkeit besteht doch noch, oder?

Nun gibt es einige Gründe, wieso ich keinen vollständigen moralischen Sieg meines damaligen Ichs beanspruchen kann. Zum einen kann ich mich nicht erinnern, woher ich die erwähnte Wahrscheinlichkeit habe, wobei es auf die richtige Meta-Grössenordnung treffen dürfte. Zum anderen verwendete ich damals nicht das Konzept des justierten Gewissheitsgrades. In der gesamten Geschichte der Menschheit, in der die Wahrscheinlichkeit von 2^(750’000’000):1 gegen etwas berechnet wurde, lagen die Menschen unumstritten mehr als einmal in 2^(750’000’000) falsch.  Zum Beispiel wurde mittlerweile die Höhe der geteilten Gene von 98% auf 95% revidiert – und diese Prozentangabe mag auch nur für die 30’000 bekannten Gene und nicht auf das gesamte Genom zutreffen, in welchem Falle es eine falsche Meta-Grössenordnung repräsentiert.

Aber ich denke immer noch, dass die Antwort dieser Person ziemlich seltsam war.
Ich weiss nicht mehr was ich darauf antwortete – wahrscheinlich etwas wie „Nein, tut sie nicht.“ – aber ich erinnere mich primär an dieses Ereignis, weil es mir verschiedene Einblicke in die Denkgesetze von Menschen ermöglichte, die weniger aufgeklärt sind.
Mir fiel zum ersten Mal auf, dass menschliche Intuitionen eine qualitative Unterscheidung zwischen „unmöglich“ und „eine winzig kleine Möglichkeit, bei der es sich nichtsdestotrotz lohnt, sie weiterzuverfolgen“ treffen. Diese Erkenntnis ist in der Lotterie-Debatte ersichtlich, wo jemand einmal sagte, dass ein grosser Unterschied bestünde zwischen einer Null-Wahrscheinlichkeit und einer Epsilon-Wahrscheinlichkeit zu gewinnen. Aber es gibt sehr wohl Unterschiede in der Reihenfolge von Epsilon; andernfalls wäre Epsilon mit eins über Googolplex (1:(1.0 x 1010100)) gleichzusetzen.

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Das Problem besteht darin, dass die Wahrscheinlichkeitstheorie uns Wahrscheinlichkeiten berechnen lässt, die teilweise tatsächlich zu klein sind, als dass es sich lohnen würde, ihnen mentalen Raum einzuräumen – aber zum Zeitpunkt dieser Erkenntnis hat man bereits die Berechnungen durchgeführt. Menschen verwechseln die Landkarte mit dem Territorium. Das Aufspüren einer symbolisch beschriebenen Wahrscheinlichkeit fühlt sich dadurch intuitiv an wie „eine Möglichkeit, dessen Weiterverfolgung sich lohnt“, auch wenn der Referent der symbolischen Beschreibung eine winzig kleine verschwindende Zahl darstellt. Wir können tatsächlich Wörter benutzen, um derart kleine Zahlen zu beschreiben, aber keine Gefühle – ein solch kleines Gefühl existiert nicht, es feuert nicht genug Neuronen oder setzt nicht genügend Neurotransmitter frei, als dass es gefühlt werden könnte. Aus diesem Grund kaufen Menschen Lotterielose – niemand kann die Geringfügigkeit einer solch kleinen Wahrscheinlichkeit fühlen.

Aber noch faszinierender ist die qualitative Unterscheidung zwischen „gewissen“ und „ungewissen“ Argumenten, die erlaubt, ungewisse Argumente zu ignorieren. Ist die Wahrscheinlichkeit gleich null, muss der Glauben aufgegeben werden. Liegt sie hingegeben bei eins über Googol, darf sie beibehalten werden.

Wir leben nun mal in einem freien Land und niemand sollte aufgrund illegalen Urteilsvermögens verhaftet werden. Aber wenn ein Argument für eine Sache ignoriert wird, dessen Wahrscheinlichkeit bei eins über Googol (1:(1.0 x 10100)) geschätzt wird, wieso sollte dann nicht auch ein Argument ignoriert werden, dessen Wahrscheinlichkeit auf 0 geschätzt wird? Solange ohnehin Beweise ignoriert werden, ist es schwer zu sagen, wieso es so viel schlimmer sein sollte sichere Beweise zu ignorieren als unsichere Beweise zu ignorieren.
Daraus kann geschlossen werden, dass wir Menschen, wenn wir schon eine Wahrscheinlichkeit von eins über Googol nicht ignorieren können (nur weil wir das wollen), wir auch eine Wahrscheinlichkeit von 0.9 nicht ignorieren können (nur weil wir das wollen). Beides repräsentiert die gleiche rutschige Klippe.

Vielleicht sollte man daran zurückdenken, wenn man sich in Diskussionen bei Gedanken ertappt wie: „Aber du kannst mir nicht das Gegenteil beweisen!“. Wenn man bereit ist, ein probabilistisches Gegenargument zu ignorieren, wieso sollte man dann nicht auch einen Beweis ignorieren?

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In der Politik geht uns der Verstand verloren https://gbs-schweiz.org/blog/in-der-politik-geht-uns-der-verstand-verloren/ https://gbs-schweiz.org/blog/in-der-politik-geht-uns-der-verstand-verloren/#comments Thu, 19 Sep 2013 17:56:17 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=1003 Die meisten von uns werden ganz irre, wenn sie über Politik reden. Die evolutionären Gründe dafür sind zu offensichtlich, als dass es sich lohnen würde, sie an dieser Stelle lange auszuführen: Im Umfeld unserer Ahnen war Politik eine Frage von Leben und Tod – so wie Sex, materielle Güter, Verbündete oder Reputation.
Wenn man heutzutage in eine Auseinandersetzung gerät, ob „wir“ etwa den Mindestlohn erhöhen sollten, werden kognitive Anpassungen an eine vergangene Umwelt aktiviert, in der die Vertretung der falschen Seite (zumindest mit einiger Wahrscheinlichkeit) einem Todesurteil entsprochen hätte. Auf der richtigen Seite zu stehen, konnte der Person hingegen ermöglichen, ihren Gegner zu bezwingen – es gilt: Wir gegen sie.

Themenbereiche wie die Politik sind Verstandestöter: Sie haben die Tendenz, eine Verzerrung der Sachlage durch Biases (kognitive Fehlschlüsse) zu fördern. Die Einführung politischer Perspektiven kann zu fehlerhaften Denkweisen verleiten und rationale Diskussionen ruinieren. Will man eine Aussage über Wissenschaft oder Rationalität treffen, ist es deshalb ratsam, nicht einen Bereich der gegenwärtigen Politik zur Illustration heranzuziehen, falls dies irgendwie umgangen werden kann. Politik ist in der Tat ein äusserst wichtiges Gebiet, in das wir alle individuell unsere Rationalität einbringen sollten – aber es ist ein höchst ungeeignetes Gebiet, um Rationalität zu erlernen oder zu diskutieren.

Eine verbreitete Denkweise in der Politik liesse sich etwa folgendermassen karikieren: Politik ist eine Erweiterung des Krieges mit anderen Mitteln. Argumente sind Soldaten. Sobald einer Person bewusst ist, welcher Seite sie angehört (bzw. angehören will – was ein Bias-Risiko mit sich bringt), müssen alle Argumente dieser Seite unterstützt werden und alle Argumente bekämpft werden, die die gegnerische Seite favorisieren könnten – ungeachtet ihrer Qualität. Andernfalls käme dies der Untat gleich, eigenen Soldaten Messer in den Rücken zu rammen – den Feinden Hilfe und Trost darbietend. Menschen, die in ihrem beruflichen Leben als WissenschaftlerInnen bei der objektiven Gewichtung aller Seiten eines Problems rational verfahren, können bei vorhandener Parteimeinung plötzlich zu parolensingenden Zombies werden und sogar Argumente ins Feld führen, die sie selbst nicht glauben, aber von denen sie denken, dass sie in einer Diskussion überzeugend wirken. Politik ist bei Weitem nicht das einzige Themengebiet, bei dessen Diskussion viele Menschen den Verstand verlieren. Eine kritische Auseinandersetzung mit sozialen Tabus oder identitätsbildenden Gewohnheiten zieht oft ähnliche Reaktionen nach sich.

Daraus folgt keineswegs, dass die Überwindung von Biases apolitisch wäre, oder dass wir gar Wikipedias Ideal der „Neutralen Sichtweise“ annehmen sollten. Aber wir sollten versuchen, von den guten Sticheleien Abstand zu nehmen. Wenn die Thematik beispielsweise legitim mit den kreationistischen Bestrebungen zusammenhängt, die Evolutionstheorie von den Lehrplänen zu streichen, dann muss dies natürlich thematisiert werden – aber es sollte nicht eine bestimmte Partei beschuldigt werden. Wie auch bei Wikipedias neutraler Sichtweise ist hier nicht ausschlaggebend, ob (man denkt, dass) eine bestimmte Partei wirklich im Unrecht ist. Es ist für das kognitive Wachstum der Gesellschaft schlicht besser, die Thematik zu diskutieren, ohne dabei Bezug auf die Farbpolitik zu nehmen.

In Anlehnung an den englischen Originalartikel der LessWrong-Community.
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Wieso ein Argument nicht stärker wird, wenn man es wiederholt https://gbs-schweiz.org/blog/ein-argument-gegen-eine-armee-von-argumenten/ https://gbs-schweiz.org/blog/ein-argument-gegen-eine-armee-von-argumenten/#respond http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=1269 Angenommen, das Land Freedonia diskutiert darüber, ob sein Nachbarland Sylvania dafür verantwortlich ist, dass kürzlich Meteoriten auf seine Städte niedergestürzt sind. Es gibt verschiedene Anhaltspunkte, die das nahelegen: Die Meteoriten trafen Städte nahe der sylvanischen Grenze; die sylvanischen Aktienmärkte verzeichneten vor dem Meteoriteneinschlag ungewöhnliche Schwankungen und den sylvanischen Botschafter Trentino hörte man etwas von “himmlischer Vergeltung” murmeln.

Doch dann sagt dir jemand: “Ich denke nicht, dass Sylvania für die Meteoriteneinschläge verantwortlich ist. Ihr Handel mit uns beläuft sich jährlich auf Milliarden von Dinars.” Du wendest ein: “Aber die Meteoriten trafen Städte, die nahe bei Sylvania liegen, ihre Aktienmärkte waren auffällig volatil und ihr Botschafter sprach danach von himmlischer Vergeltung.” Da diese drei dir bereits bekannten Argumente das eine neue überwiegen, bleibst du der Ansicht, dass Sylvania verantwortlich ist. Du glaubst eher, als dass du zweifelst.

Priors unzulässigerweise verstärken

Doch eine weitere Person widerspricht dir: “Ich denke nicht, dass Sylvania für die Meteoriteneinschläge verantwortlich ist. Einen Asteorideneinschlag zu steuern, ist sehr schwierig. Sylvania besitzt hingegen nicht einmal ein Raumfahrtprogramm.” Du antwortest: “Aber die Meteoriten trafen Städte in der Nähe von Sylvania, ihre Investoren wussten es und der Botschafter hat es zugegeben!“ Diese drei Argumente überwiegen erneut das eine neue. Also bleibst du weiter dabei, dass Sylvania verantwortlich ist. Ja, deine Überzeugung hat sich sogar verstärkt. Zweimal hast du nun die Anhaltspunkte gewichtet und beide Male sprachen sie mit einem Verhältnis von 3 zu 1 gegen Sylvania.

Du stösst auf immer neue Argumente, die Sylvania entlasten, aber jedes neue Argument unterliegt mit 3 zu 1. Dadurch wird dein Prior, dass Sylvania tatsächlich verantwortlich ist, jedesmal verstärkt. (Ein Prior ist die Überzeugung, die man bezüglich einer Hypothese hat, bevor man mit neuen Argumenten zu dieser Hypothese konfrontiert wurde.) Das Problem ist aber, dass du deinen Prior auf unzulässige Weise verstärkt hast. Du hast die dir bereits bekannten Argumente einfach jedesmal rezitiert, wenn du auf neue Argumente gestossen bist. Und mit jeder neuen Wiederholung hast du sie argumentativ erneut gewichtet. Ein Argument wird jedoch nicht dadurch stärker, dass es wiederholt wird. Diese Logik wäre selbst dann falsch, wenn du alle Argumente mehrfach zähltest. (Stelle dir einen Wissenschaftler vor, der ein Experiment mit 50 Versuchspersonen durchführt, das ihm aber keine statistisch signifikante Ergebnisse liefert, worauf er einfach die Ergebnisse mehrfach gewichtet.) Aber selektiv nur einzelne Argumente mehrfach zu zählen, ist eine reine Farce. (Ich erinnere mich, wie ich als Kind einen Trickfilm geschaut habe, in dem ein Schurke die Beute seiner Bande nach folgendem Algorithmus an ihre Mitglieder verteilte: “Eins für dich, eins für mich. Eins für dich, eins-zwei für mich. Eins für dich, eins-zwei-drei für mich.”)

Priors probabilistisch anpassen

Wenn eine rationale Person neuen Argumenten begegnet, die ihrem Prior widersprechen, sollte sie seine Wahrscheinlichkeit den neuen Argumenten entsprechend nach unten anpassen. Die Wahrscheinlichkeit des Priors mag dann immer noch hoch sein, aber entsprechend tiefer als sie es ohne die neuen Argumente wäre. Man kann sich dem Updating seines Priors nicht entziehen, indem man einfach die bereits bekannten Argumente, die den Prior unterstützen, immer wieder aufsagt, denn man hat sie bereits berücksichtigt und sie können deshalb seine Wahrscheinlichkeit nicht ungeachtet der neuen Argumente aufrechterhalten oder gar erhöhen.

Wenn sie mit neuen Argumenten konfrontiert werden, die ihrem Prior widersprechen, versuchen jedoch viele Leute, ihren Prior zu rechtfertigen, ohne seine Wahrscheinlichkeit herunterzuschrauben. Und natürlich finden sie unterstützende Argumente, die sie bereits kennen. Ich muss auch immer aufpassen, diesen Fehler nicht selbst zu machen. Er kann im Extremfall dazu führen, dass wir aufgrund eines einzigen Arguments unseren Prior gegen eine Vielzahl neuer guter Argumente verteidigen – und zwar einfach nur deshalb, weil wir das eine Argument, das den Prior unterstützt, genügend oft wiederholen. Das entspricht nicht unserem Ziel, die Wahrscheinlichkeit unserer Priors graduell an neue Argumente anzupassen.

Quellenangabe
Yudkowsky, E. (2007). One Argument Against An Army. Übersetzt und ergänzt von S. Savona. LessWrong (9.4.2013)
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Sind religiöse Behauptungen unfalsifizierbar? https://gbs-schweiz.org/blog/sind-religiose-behauptungen-unfalsifizierbar/ https://gbs-schweiz.org/blog/sind-religiose-behauptungen-unfalsifizierbar/#respond Fri, 15 Mar 2013 11:18:03 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=2859 Der vielleicht älteste bekannte Bericht eines wissenschaftlichen Experiments ist – ironischerweise – die Geschichte von Elijah und den Baalspropheten.

Das Volk Israel schwankt zwischen Jahwe und Baal, also verkündet Elijah, er wolle ein klärendes Experiment durchführen – ein ziemlich neues Konzept für diese historischen Tage! Der Baalsprophet wird einen Stier auf einen Altar stellen, und Elijah wird Jahwes Stier auf einen Altar stellen, aber keinem sei erlaubt, das Feuer zu entzünden; welcher Gott auch immer der echte ist, wird Feuer auf seine Opfergabe herbeirufen. Die Baalspropheten dienen Elijah als Kontrollgruppe – das gleiche hölzerne Brennmaterial, der gleiche Stier, und die gleichen Propheten und Aufrufe, aber an einen falschen Gott. Dann schüttet Elijah Wasser über seinen Altar – dadurch zerstört er die Symmetrie des Experiments, aber das entschuldigt gewiss die frühe Zeit der Experimentdurchführung – um seine bewusste Kenntnisnahme der Beweispflicht zu signalisieren, entsprechend dem Gebrauch eines 0.05-Signifikanzniveaus. Das Feuer entfacht auf Elijahs Altar, das stellt also die Versuchsbeobachtung dar. Die beobachtenden Leute Israels rufen aus „Der Herr ist Gott“ – Peer Review.

Anschliessend schleift das Volk die 450 Baalspropheten zum Fluss Kishon und durchschneidet deren Kehlen. Das ist eine harte Massnahme, aber notwendig. Man muss die falsifizierte Hypothese entschieden verwerfen und dies schnell tun, bevor dieselbe zum Selbstschutz Ausreden generieren kann. Wenn den Baalspropheten – nach ihrer Niederlage im Beweisverfahren – erlaubt wird, zu überleben, werden sie beginnen, Religion als separate Sphäre zu bezeichnen, in der weder bewiesen noch widerlegt werden kann.

In früheren Jahren glaubten die Menschen ihre Religionen, statt nur an sie zu glauben. Die biblischen Archäologen auf der Suche nach der Arche Noahs dachten nicht, sie würden ihre Zeit verschwenden; sie erwarteten, berühmt zu werden. Erst nach dem erfolglosen Versuch, bestätigende Nachweise zu finden – und stattdessen auf widerlegende Beweise zu treffen – vollführten Religionsanhänger, was William Bartley the retreat to commitment nannte: „Ich glaube, weil ich glaube.“

Damals gab es kein Konzept, das Religion als separate Sphäre auffasste. Das Alte Testament ist ein universaler kultureller Abladeplatz: Geschichte, Gesetz, moralische Gleichnisse, und ja, Modelle über das Funktionieren des Universums. In keiner Passage des Alten Testaments wird man irgendjemanden über das überragende Wunder der Komplexität des Universums reden hören. Aber man wird reichlich wissenschaftliche Behauptungen finden, wie etwa, dass das Universum in sechs Tagen erschaffen wurde (was eine Metapher für den Big Bang darstellt), oder dass Hasen Wiederkäuer seien (was eine Metapher darstellt für …).

In alten Zeiten hätte die Aussage, dass die lokale Religion „nicht bewiesen werden kann“, zur Verbrennung am Pfahl geführt. Ein Kernglaube des orthodoxen Judentums ist, dass Gott auf dem Berg Sinai erschien und in einer Donnerstimme verkündete: „Ja, es ist alles wahr.“ Von einer bayesianischen Perspektive aus betrachtet, ist das ein verdammt unmissverständlicher Beweis für eine mächtige übermenschliche Entität. (Wenngleich sie nicht beweist, dass es Gott per se gibt, oder dass es sich um eine wohlwollende Entität handelt – es könnten ausserirdische Teenager sein.) Die überwiegende Mehrheit der Religionen in der Geschichte der Menschheit – exklusive jene, die erst vor extrem kurzer Zeit erfunden wurden – erzählen Geschichten, die untrügliche Beweise liefern würden. Die angebliche Orthogonalität der Religion und der faktischen Fragen („zwei nicht-überlappende Sphären“) sind ein neues und ausschliesslich westliches Konzept. Die Menschen, die die ursprünglichen Schriften schrieben, kannten nicht einmal den Unterschied. Und es ist in der Tat auch völlig unverständlich, welche Sphäre die Religion einnehmen bzw. was der Gegenstand der Religion sein könnte, wenn sich die Religion dem Wettstreit gegen die empirischen Wissenschaften und weiter auch gegen die Philosophie und die Ethik entziehen will. Wie kann die Welt aussehen, in der wir leben, und wie sieht sie faktisch aus (Philosophie und empirische Wissenschaften)? Und was wollen/sollen wir in dieser Welt tun, was ist zu tun gut, wer wollen/sollen wir in dieser Welt sein (Philosophie und Ethik)? Wenn es in der Religion um diese Fragen geht, befindet sie sich voll und ganz in der Sphäre von empirischen Wissenschaften und Philosophie – und muss sich den entsprechenden Argumentationen, Beweisen und Widerlegungen stellen. Wenn es in der Religion hingegen nicht um diese Fragen geht, worum dann? Es scheinen keine bedeutsamen Fragen übrig zu sein. Bleiben wir aber vorerst bei den empirisch-faktischen Angelegenheiten – zur Ethik unten mehr.

Das Römische Reich erbte die Philosophie der alten Griechen, schuf Recht und Ordnung in seinen Provinzen, hielt ein bürokratisches Register und setzte religiöse Toleranz durch. Das Neue Testament, erschaffen in der Zeit des Römischen Reiches, trägt als Folge einige moderne Spuren. Man konnte keine Geschichte erfinden, in der Gott die gesamte Stadt Roms auslöscht (à la Sodom und Gomorrha), weil die Historiker Roms hellhörig werden würden und man sie nicht einfach steinigen könnte.

Im Gegensatz dazu konnten die Menschen, die sich die Geschichten des Alten Testaments ausdachten, beliebige Geschichten erfinden. Frühe Ägyptologen waren aufrichtig schockiert, keinerlei Spuren von hebräischen Stämmen in Ägypten zu finden – sie erwarteten keine Aufzeichnungen der Zehn Gebote, aber sie erwarteten, etwas zu finden. Wie sich herausstellte, fanden sie etwas. Sie fanden heraus, dass während der angeblichen Zeit des Exodus Ägypten grosse Teile von Kanaan beherrschte. Wir haben hier also einen riesigen historischer Irrtum, aber wenn keine Bibliotheken vorhanden sind, kann niemand zur Rede gestellt werden.

Das Römische Reich besass Bibliotheken. Folglich postuliert das Neue Testament nicht grosse, geopolitisch weit umgreifende Prunkwunder, wie es das Alte Testament routinemässig tat. Stattdessen macht das Neue Testament kleinere Wunder geltend, die nichtsdestotrotz in den gleichen Beweisrahmen passen. Ein Junge fällt hinunter und schäumt; der Grund ist ein unreiner Geist; von einem unreinen Geist könnte vernünftigerweise erwartet werden, dass er vor einem wahren Propheten flieht, aber nicht vor einem Scharlatan; Jesus treibt den bösen Geist aus; demzufolge ist Jesus ein wahrer Prophet und kein Scharlatan. Hier liegt eine gewöhnliche bayesianische Beweisführung vor, wenn man die Prämisse einräumt, dass Epilepsie von Dämonen verursacht wird (und dass das Ende eines epileptischen Anfalls die Flucht des Dämons beweist).

Religion pflegte – wie angetönt – nicht nur Behauptungen über faktische und wissenschaftliche Angelegenheiten zu machen, Religion pflegte Behauptungen über alles zu machen. Religion schrieb das Gesetzbuch – vor den Parlamenten; Religion setzte die Geschichte fest – vor Historikern und Archäologen; Religion bestimmte die Sexualmoral – vor der Frauenbewegung; Religion bestimmte die Regierungsformen – vor den Staatsverfassungen; und Religion beantwortete wissenschaftliche Fragen, von der biologischen Taxonomie bis zu der Formation der Sterne. Das Alte Testament redet nicht von einem allgemeinen „Staunen über die Komplexität des Universums“ – es war zu sehr damit beschäftigt, die Todesstrafe für männerkleidertragende Frauen festzulegen, was fester und zufriedenstellender religiöser Inhalt dieser Ära war. Das moderne Konzept der Religion als einer insbesondere ethischen Angelegenheit leitet sich davon ab, dass jeder andere Bereich augenscheinlich von besseren Institutionen übernommen wurde. Ethik ist, was übrigbleibt.

Oder eher: Menschen denken, Ethik sei, was übrigbleibt. Man nehme eine Kulturhalde von vor 2500 Jahren. Über die Jahre wird die Menschheit immens voranschreiten, und Teile der alten Kulturhalde werden immer deutlicher veralten. Ethik ist gegenüber menschlichem Fortschritt nicht immun – zum Beispiel runzeln wir die Stirn über bibelgenehme Praktiken wie die Sklavenhaltung. Wieso denken Menschen, die Ethik sei immer noch vogelfrei?

An sich keine Kleinigkeit gibt das ethische Problem auf, tausende unschuldige erstgeborene männliche Kinder zu schlachten, um einen nicht gewählten Pharao zu überzeugen, Sklaven zu befreien, die logisch hätten aus dem Land teleportiert werden können. Dies sollte offenkundiger sein als der vergleichsweise triviale wissenschaftliche Irrtum, dass Heuschrecken vier Beine haben. Und doch werden die Leute eine Person für verrückt halten, wenn sie behauptet, die Erde sei flach. Aber wenn eine Person die Bibel als Quelle ihrer Ethik angibt, werden Frauen sie nicht ohrfeigen. Das Rationalitätskonzept der meisten Leute wird von dem determiniert, wovon sie denken, damit ungestraft davonkommen zu können; sie denken, sie können mit biblischer Ethik davonkommen; und so erfordert es lediglich eine machbare Selbsttäuschung, das Problem mit der biblischen Moral zu übersehen. Man hat sich gemeinsam geeinigt, den riesigen Elefanten im Zimmer nicht zu bemerken – und diese Sachlage kann sich selbst für einige Zeit erhalten.

Vielleicht wird die Menschheit eines Tages weiter voranschreiten, und jeder, der die Bibel als Quelle der Ethik befürwortet, wird gleich behandelt werden wie Trent Lott, der die Präsidentschaftskampagne von Storm Thurmond befürwortet. Und dann wird gesagt werden, dass der „wahre Kern“ der Religion schon immer Ahnenforschung gewesen sei (oder so).

Die Idee, dass Religion eine separate Sphäre darstellt, in der weder bewiesen noch widerlegt werden kann, ist eine Grosse Lüge – eine Lüge, die repetiert und repetiert wird, so dass sie die Leute ohne zu überlegen wiedergeben. Unter kritischer Betrachtung erweist sie sich aber als offensichtlich falsch. Es handelt sich um eine starke Verzerrung dessen, wie sich Religion historisch abspielte, wie die Schriften ihre Glaubenssätze präsentieren, was Kindern erzählt wird, um sie zu überzeugen, und was die Mehrheit der religiösen Menschen auf der Erde noch immer glaubt. Man muss die schiere Unverfrorenheit bewundern – auf einer Stufe mit „Ozeanien lag schon immer im Konflikt mit Ostasien“. Der Ankläger schwingt die blutige Axt, und der augenblicklich schockierte Angeklagte denkt schnell nach und sagt: „Aber du kannst meine Unschuld nicht mit Beweisen widerlegen – es ist eine separate Sphäre!“

Und wenn das nicht funktioniert, kann man sich immer noch ein Papier schnappen und darauf eine Freikarte aus dem Gefängnis kritzeln.

Serie: Glauben und Überzeugungen

  1. Schlupfloch im Glauben – was alles erlaubt, erklärt nichts
  2. Sind religiöse Behauptungen unfalsifizierbar?
  3. Überzeugungen müssen sich auszahlen
  4. An einen Glauben glauben (folgt)
Aus dem Englischen übersetzt und inhaltlich erweitert von Sara Savona. Originalartikel auf lesswrong.com
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Hindsight Bias – im Nachhinein ist man immer „schlauer“ https://gbs-schweiz.org/blog/hindsight-bias-im-nachhinein-ist-man-immer-schlauer/ https://gbs-schweiz.org/blog/hindsight-bias-im-nachhinein-ist-man-immer-schlauer/#respond Sat, 26 Jan 2013 11:16:43 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=1267 Der Hindsight Bias tritt auf, wenn Menschen, welche die Antwort auf eine Frage bereits kennen, die Vorhersagbarkeit oder Offensichtlichkeit dieser Antwort erheblich überschätzen. Der Hindsight Bias wird auch I-knew-it-all-alongEffekt genannt.

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Konfliktausgänge

In einem Experiment präsentierten Fischhoff und Beyth (1975) Studierenden unvertraute historische Ereignisse, wie den Konflikt von 1814 zwischen den Gurkhas und den Briten. Vier Experimentalgruppen wurde jeweils einer von vier Ausgängen des Konflikts als das tatsächliche historische Ereignis vermittelt. Der fünften Gruppe, der Kontrollgruppe, wurde kein historischer Ausgang genannt. Danach wurden alle Gruppen gefragt, welche Auftrittswahrscheinlichkeit sie den vier Ausgängen zuschreiben würden: Gewinn der Briten, Gewinn der Gurkha, Stillstand mit Friedensabkommen, oder Stillstand ohne Friedensabkommen. Die Auswertung zeigte: In jedem Fall schätzten die Experimentalgruppen die Wahrscheinlichkeit des ihnen beschriebenen Ausgangs beträchtlich höher ein als die anderen Gruppen. 

Hochwasserwahrscheinlichkeit

In einem anderen Experiment von Kamin und Rachlinski (1995) wurden zwei Versuchsgruppen gefragt, wie hoch die Wahrscheinlichkeit sei, dass eine unüberwachte Zugbrücke bei Hochwasser Schaden erleide. Allen Versuchsgruppen wurde dabei mitgeteilt, dass die zuständige Stadt vor der Entscheidung stand, einen Brückenwart einzustellen oder die Brücke unbeaufsichtigt zu lassen. Nur 24% der Kontrollgruppe gaben an, dass eine Flut so wahrscheinlich sei, dass entsprechende Massnahmen eingeleitet werden sollten. Die Experimentalgruppe bekam die zusätzliche Information, die Stadt habe sich schlussendlich gegen einen Brückenwart entschieden. Unglücklicherweise sei es daraufhin tatsächlich zu einem Hochwasserschaden gekommen. Laut der Vorgabe der Versuchsleiter, sollte das Handeln der Stadt als fahrlässig eingestuft werden, falls die vorhersehbare Wahrscheinlichkeit einer Überschwemmung 10% übertreffe. Die Ergebnisse waren erstaunlich: Tatsächlich gaben 57% der Versuchspersonen an, dass aufgrund der hohen Wahrscheinlichkeit einer Flut weitere Vorkehrungen getroffen werden sollten. Eine dritte Experimentalgruppe wurde explizit angehalten, nicht dem Hindsight Bias zu verfallen. Dies führte jedoch zu keinem Unterschied: 56% waren der Meinung, dass die Stadt fahrlässig gehandelt habe.

Challenger-Katastrophe

Es wird deutlich, dass wir uns bei Kosten-Nutzen-Abwägungen oftmals deutlich verschätzen. 1986 explodierte die Challenger aufgrund eines Dichtungrings, der bei tiefer Temperatur an Flexibilität verlor. Zur Verhinderung der Challenger-Katastrophe hätte es jedoch nicht ausgereicht, sich dem Problem der Dichtungsringe zuzuwenden. Man hätte jedes Warnzeichen auf derselben Wichtigkeitsstufe wie die Dichtungsringe einbeziehen müssen, ohne das Wissen um die tatsächlichen Ereignisse aus der späteren Einsicht (Hindsight) verwenden zu können. Dies hätte aber eine präventive Generalpolice erfordert, die viel teurer ausgefallen wäre als die blosse Reparatur der Dichtungsringe. Weil wir die Kosten einer Generalpolice nicht erkennen, fokussieren wir übermässig auf partikuläre Elemente, die zwar faktisch eingetreten sind, im Wahrscheinlichkeitsraum unter Umständen aber nicht viel Platz einnehmen. Nach dem 11. September hat die FAA Teppichmesser in Flugzeugen verboten – als wäre zur Problemprävention allein diese bestimmte „offensichtliche“ Sicherheitsmassnahme notwendig. Aber: Der Kostenpunkt effektiver Präventionsmassnahmen ist sehr hoch, weil auch Probleme miteinbezogen werden müssen, die weniger offensichtlich scheinen, bzw. weil viele potenzielle Problemereignisse abgedeckt werden müssen, wenn man die Wahrscheinlichkeit, dass Präventionsmassnahmen etwas bewirken, signifikant erhöhen will.

Vor Gericht

Der Hindsight Bias ist besonders gravierend, wenn RichterInnen oder eine Jury bestimmen sollen, ob eine angeklagte Person fahrlässig gehandelt hat (Sanchiro 2003). Er verzerrt unsere Wahrscheinlichkeitsprognosen systematisch, indem den faktischen Ereignisausgängen rückblickend eine weit höhere Wahrscheinlichkeit zugesprochen wird, als sie vorausblickend tatsächlich hatten. Eine Jury anzuweisen, dem Hindsight Bias aktiv entgegenzuwirken, hilft dabei auch nicht; die Vorhersagen müssen im Vornherein niedergeschrieben werden, bevor die Kenntnis über den tatsächlichen Ereignisausgang vorhanden ist. In Fischhoffs Worten:

Wenn wir versuchen, vergangene Ereignisse zu verstehen, testen wir implizit unsere Hypothesen oder Regeln, die wir sowohl zum Interpretieren als auch zum Vorhersagen der uns umgebenden Welt nutzen. Wenn wir retrospektiv die Überraschung systematisch unterschätzen, welche die Vergangenheit für uns bereit hielt und hält, so unterwerfen wir diese Hypothesen übermässig schwachen Tests. Vermutlich finden sich auf diese Weise wenige Gründe, diese entsprechend zu ändern.

Baruch Fischhoff (1982)

 

Quellenangabe
Fischhoff, B. (1982). For those condemned to study the past. In Kahneman, D. et al. (Eds.). Judgement under uncertainty. Heuristics and biases, 332–351.
Fischhoff, B., Beyth, R. (1975). I knew it would happen: Remembered probabilities of once-future things. Organizational Behavior and Human Performance 13, 1-16.
Kamin, K., Rachlinski, J. (1995). Ex Post ≠ Ex Ante. Determining Liability in Hindsight. Law and Human Behavior 19 (1), 89-104.
Sanchiro, C. (2003). Finding Error. Michigan State Law Review 1189.
Yudkowsky, E. (2007). Hindsight bias. Übersetzt von S. Savona. LessWrong (26.1.2013)

 

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