Überzeugungen müssen sich auszahlen
Unsere Gehirne können ganze Netzwerke an Glaubensinhalten konstruieren, die in sich konsistent sind und sich gegenseitig zusammenhalten. Überprüfen wir unsere Annahmen über die Welt nicht regelmässig, laufen wir Gefahr, sogenannte „schwebende Glaubenssysteme“ mit uns herumzutragen. Diese sind nicht durch Voraussagen in der Realität verankert und können sich niemals als nützlich erweisen und halten uns demnach davon ab, unsere Ziele zu erreichen.
Im Post „Schlupfloch im Glauben – was alles erlaubt, erklärt nichts“ wird anhand von Joschuas Glaubenssystem beschrieben, warum es problematisch ist, wenn man mit derselben Überzeugung gegensätzliche Ereignisse zu erklären versucht und dafür im Nachhinein die Erklärung anpasst. Religiöse Glaubenssysteme stellen aber keine Ausnahmefälle dar, in denen Überzeugungen schädliche Voraussagen generieren. Möchten wir unsere Ziele möglichst gut erreichen, sind wir auf ein Weltbild angewiesen, das möglichst präzise Voraussagen darüber macht, was wir zu erwarten haben. Eine falsche Erwartungshaltung kann unsere Arbeit unter Umständen um Jahre zurückwerfen.
Würde die European Space Agency bei der Entwicklung ihres Satellitennavigationssystems „Galileo“ die Standortbestimmungen ohne die Erkenntnisse der Relativitätstheorie und nur mit der Newtonschen Physik durchführen, könnten sie niemals die Genauigkeit des amerikanischen GPS erreichen. Die ESA würde ziemlich viel Geld investieren, doch niemand würde ihr System benutzen wollen und die Überzeugungen der Newtonschen Physik würden sich in diesem Falle niemals auszahlen.
Ein „schwebendes System“ bezeichnet ein Netzwerk an Glaubensinhalten und Überzeugungen, das keine klaren Voraussagen bezüglich beobachtbaren Ereignissen produziert, somit nicht in der Realität verankert ist und sich dadurch nicht überprüfen lässt. Zwei prominente Eigenschaften, die Systeme „schweben“ lassen können sind:
- Unsauber definierte Begriffe: Diese machen es unmöglich zu wissen, was zu erwarten wäre.
- Rein tautologische Verknüpfungen: Sie können logisch keine Voraussagen auf Sachverhalte ausserhalb ihrer gegenseitigen Verknüpfungen machen.
Unnötige Begriffsstreitigkeiten
Wenn Sie einen Aufsatz über die politische Einstellung von Christopher Hitchens schreiben wollen und Ihnen eine Journalistin erzählt, dass er als Neo-Konservativer zu verstehen sei, Sie aber nichts mit dem Begriff anfangen können, haben Sie keine Möglichkeit, ihre Aussage selbständig zu überprüfen. Sie können zwar seine Position zum Irak-Krieg als neo-konservativ bezeichnen und die besagte Journalistin wird Ihnen beipflichten, doch Sie werden damit noch nicht überprüfen können, ob es stimmt, und werden es somit auch nicht in Ihrem Aufsatz als Tatsache hinstellen.
Nehmen wir weiter an, ich verstehe unter dem Begrif „neo-konservativ“ etwas anderes als Sie. Wir können uns stundenlang streiten, ja uns sogar in unzähligen Aufsätzen gegenseitig Dummheit vorwerfen, wir werden nie zu einer Lösung kommen. Der einzige Ausweg besteht darin, uns zu fragen, inwiefern sich die aus unseren Definitionen abgeleiteten Voraussagen bezüglich zukünftiger Erfahrungen unterscheiden. Wenn keine solche Unterschiede festgestellt werden können, diskutieren wir sehr wahrscheinlich lediglich über die unterschiedlichen Beschriftungen in unseren Überzeugungs- und Glaubens-Netzwerken und nicht über deren Inhalte. Oder noch schlimmer, wir könnten beide in schwebenden Systemen gefangen sein, die keine klaren Voraussagen bezüglich Erwartungen generieren und unabhänging von der Umwelt existieren.
Zu diesem Punkt führt Eliezer Yudkowsky in seinem Artikel „Making beliefs pay rent“ ein weiteres Beispiel an, nämlich die berühmte „philosophische“ Frage: Wenn im Wald ein Baum umfällt, aber niemand anwesend ist um zuzuhören, erzeugt es dann ein Geräusch? Nehmen wir an, Ihre Freundin Alice meint dazu: „Ja, tut es, da es Vibrationen in der Luft kreiert.“ Aber Ihr Freund Bert entgegnet: „Nein tut es nicht, da keine auditive Verarbeitung in einem Gehirn stattfindet.“ Anstatt dass sich die zwei nun streiten, können Sie das Problem leicht lokalisieren und das vermeintliche Paradoxon als Begriffsverwirrung entlarven und aufzeigen, dass Alice und Bert unterschiedliche Definitionen von „Geräusch“ verwenden. Sie haben in weiser Voraussicht ein Tonaufnahmegerät neben dem Baum im Wald platziert und fragen nun Alice und Bert nach ihren Erwartungen, was sie beim Abspielen des Tonbandes hören werden. Nun sind sich die beiden plötzlich einig. Mit dem einfachen Trick, zu fragen, welche Sinneswahrnehmungen Alice und Bert erwarten, haben Sie das zuerst unlösbar scheinende Problem in ein empirisch überprüfbares überführt. Die hilfreichen Erwartungen, welche wir auch überprüfen können, beziehen sich schlussendlich immer auf eine Sinneswahrnehmung.
Tautologische Systeme
Ihr Psychologie-Professor unterrichtet Sie eines schönen Tages über den Körper-Geist-Dualismus. Sie können dies auswendig lernen und an der Prüfung brav wiedergeben, dass Körper und Geist unabhängig voneinander existieren und dass der Geist unabhängig vom Körper nicht beobacht- oder messbar sei. Diese Lehre generiert somit keine Voraussage darüber, was wir beobachten oder messen könnten, um sie zu bestätigen oder zu widerlegen.
Die einzigen Aussagen, über deren Wahrheitsgehalt wir genau genommen wirklich hundert Prozent sicher sein können, sind tautologische Aussagen wie „Es regnet, wenn es regnet“ oder „Die Blume blüht, wenn sie ihre Blüte öffnet und dies die Definition von ‚blühen‘ ist“. Konstruieren wir mit tautologischen Sätzen ein Netzwerk an Glaubensinhalten und Überzeugungen, so können wir ganz gewiss sein, dass sie wahr sind. Doch solange dieses Netzwerk keine Voraussagen macht, was wir für Sinneswahrnehmungen zu erwarten haben, sind seine Inhalte zwar konsistent, sagen aber nichts über die Welt aus und sind somit allesamt nutzlos.
Was darf ich erwarten?
Einen Satz verstehen, heisst, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist.
(Man kann ihn also verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist.)
Man versteht ihn, wenn man seine Bestandteile versteht.– Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, Satz 4.024
Angenommen, der Körper-Geist-Dualismus wäre eine akkurate Beschreibung der Realität. Was wäre dann der Fall bezüglich den zu erwartenden Sinneswahrnehmungen? Und was würden Sie unter keinen Umständen erwarten dürfen? Wenn Ihr Professor dies nicht beantworten kann, versteht er nicht, was der Körper-Geist-Dualismus bedeutet. Oder wenn Joschua glaubt, dass sein Gott allmächtig und alliebend ist, was dürfte niemals geschehen? Dürfte dann Leid existieren? Und falls Leid existiert, wäre Joschua dann bereit seinen Glauben zu überdenken? Wenn er ehrlich mit sich selbst ist, bleibt ihm in diesem Fall nichts anderes übrig (Theodizee-Problem). Im eingangs erwähnten Beispiel des Satellitennavigationssystems „Galileo“ wäre es für das Gelingen des Projektes fatal, die Einsteinsche Relativitätstheorie nicht zu berücksichtigen. Wird eine höhere Genauigkeit durch Vewendung anderer Theorien und deren Voraussagen erreicht, kann niemand ernsthaft behaupten, eine Berechnungsmethode nach Newtonscher Physik wäre vorzuziehen. Genauso sollten wir auch mit unseren anderen Überzeugungen über die Funktionsweise der Welt vorgehen.
Joschua und das Theodizee-Problem
Wenn ein allmächtiger und allliebender Gott existieren soll, darf es kein unnötiges Leid im Universum geben. Wenn es einen wirklich allmächtigen Gott gibt, ist jedes Leid unnötig. Durchlebt ein Wesen trotzdem Leid, so muss dem postulierten Gott zwingend mindestens eine der beiden Eigenschaften aberkannt werden. Folgt Joschua den Gesetzen der Logik, bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Glauben an einen logisch widersprüchlichen Gott aufzugeben.
Beobachtbare & nicht beobachtbare Überzeugungsgehalte
Natürlich generiert nicht jede Überzeugung unmittelbar eine Erwartungshaltung bezüglich einer Sinneswahrnehmung. Auch können wir Vorstellungen und Glauben haben, welche wir aus Beobachtungen hergeleitet haben. Die Überzeugung, dass die Gravitationsbeschleunigung g ~9.81 beträgt, kann nicht direkt überprüft werden und doch nehmen wir an, dass g einen Parameter darstellt, der etwas über die Natur und das Funktionieren des Universums aussagt. Dank einem Modell, das g in Relation mit anderen (messbaren) Grössen setzt, können wir jedoch Voraussagen bezüglich denselben generieren. Lassen Sie einen Stein vom Balkon einer der beiden Basler Münstertürme fallen, können Sie die Anzahl Sekunden voraussagen, die verstreichen werden, bis Sie den Aufprall hören und diese mit einer einfachen Stoppuhr nachprüfen. Somit lohnt es sich nicht, wie Alice und Bert über Konzepte streiten, deren Voraussagewert und deren Nützlichkeit einfach überprüft werden können. Auch macht eine Diskussion mit Joschua über seine Vorstellung von einem Gott nicht viel Sinn, wenn er die empirische Überprüfung der Voraussagen, die sein Glaube kreiert, ignoriert. Die entscheidende Frage ist auch hier nicht „Was sollen wir glauben?“ sondern „Was sollen wir erwarten?“.
Ihre Überzeugungen sollten so gut getestet sein, dass Sie auf jede, dem Überzeugungsgrad entsprechend, jederzeit um Geld wetten könnten. Zahlt sich ein Glied in Ihrem System nicht aus und spielt nur Trittbrettfahrer, streichen Sie dieses aus Ihrem Weltverständnis und ersetzen es durch Überzeugungen, welche eine genauere Voraussage liefern. Schliesslich ist unsere Hirnkapazität nicht unendlich und Überzeugungen, die sich darin aufhalten dürfen, sollen wenigstens für ihren Unterhalt aufkommen und sich auszahlen.
Serie: Glauben und Überzeugungen
- Schlupfloch im Glauben – was alles erlaubt, erklärt nichts
- Sind religiöse Behauptungen unfalsifizierbar?
- Überzeugungen müssen sich auszahlen
- An einen Glauben glauben (folgt)