Micha Eichmann – GBS Schweiz https://gbs-schweiz.org Aufklärung im 21. Jahrhundert Tue, 07 Jan 2014 10:16:39 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.6.1 Überzeugungen müssen sich auszahlen https://gbs-schweiz.org/blog/uberzeugungen-mussen-sich-auszahlen/ https://gbs-schweiz.org/blog/uberzeugungen-mussen-sich-auszahlen/#respond Sun, 17 Mar 2013 11:10:28 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=2353 Unsere Gehirne können ganze Netzwerke an Glaubensinhalten konstruieren, die in sich konsistent sind und sich gegenseitig zusammenhalten. Überprüfen wir unsere Annahmen über die Welt nicht regelmässig, laufen wir Gefahr, sogenannte „schwebende Glaubenssysteme“ mit uns herumzutragen. Diese sind nicht durch Voraussagen in der Realität verankert und können sich niemals als nützlich erweisen und halten uns demnach davon ab, unsere Ziele zu erreichen.

Im Post „Schlupfloch im Glauben – was alles erlaubt, erklärt nichts“ wird anhand von Joschuas Glaubenssystem beschrieben, warum es problematisch ist, wenn man mit derselben Überzeugung gegensätzliche Ereignisse zu erklären versucht und dafür im Nachhinein die Erklärung anpasst. Religiöse Glaubenssysteme stellen aber keine Ausnahmefälle dar, in denen Überzeugungen schädliche Voraussagen generieren. Möchten wir unsere Ziele möglichst gut erreichen, sind wir auf ein Weltbild angewiesen, das möglichst präzise Voraussagen darüber macht, was wir zu erwarten haben. Eine falsche Erwartungshaltung kann unsere Arbeit unter Umständen um Jahre zurückwerfen.

Würde die European Space Agency bei der Entwicklung ihres Satellitennavigationssystems „Galileo“ die Standortbestimmungen ohne die Erkenntnisse der Relativitätstheorie und nur mit der Newtonschen Physik durchführen, könnten sie niemals die Genauigkeit des amerikanischen GPS erreichen. Die ESA würde ziemlich viel Geld investieren, doch niemand würde ihr System benutzen wollen und die Überzeugungen der Newtonschen Physik würden sich in diesem Falle niemals auszahlen.

Ein „schwebendes System“ bezeichnet ein Netzwerk an Glaubensinhalten und Überzeugungen, das keine klaren Voraussagen bezüglich beobachtbaren Ereignissen produziert, somit nicht in der Realität verankert ist und sich dadurch nicht überprüfen lässt. Zwei prominente Eigenschaften, die Systeme „schweben“ lassen können sind:

  • Unsauber definierte Begriffe: Diese machen es unmöglich zu wissen, was zu erwarten wäre.
  • Rein tautologische Verknüpfungen: Sie können logisch keine Voraussagen auf Sachverhalte ausserhalb ihrer gegenseitigen Verknüpfungen machen.

Unnötige Begriffsstreitigkeiten

Wenn Sie einen Aufsatz über die politische Einstellung von Christopher Hitchens schreiben wollen und Ihnen eine Journalistin erzählt, dass er als Neo-Konservativer zu verstehen sei, Sie aber nichts mit dem Begriff anfangen können, haben Sie keine Möglichkeit, ihre Aussage selbständig zu überprüfen. Sie können zwar seine Position zum Irak-Krieg als neo-konservativ bezeichnen und die besagte Journalistin wird Ihnen beipflichten, doch Sie werden damit noch nicht überprüfen können, ob es stimmt, und werden es somit auch nicht in Ihrem Aufsatz als Tatsache hinstellen.

Nehmen wir weiter an, ich verstehe unter dem Begrif „neo-konservativ“ etwas anderes als Sie. Wir können uns stundenlang streiten, ja uns sogar in unzähligen Aufsätzen gegenseitig Dummheit vorwerfen, wir werden nie zu einer Lösung kommen. Der einzige Ausweg besteht darin, uns zu fragen, inwiefern sich die aus unseren Definitionen abgeleiteten Voraussagen bezüglich zukünftiger Erfahrungen unterscheiden. Wenn keine solche Unterschiede festgestellt werden können, diskutieren wir sehr wahrscheinlich lediglich über die unterschiedlichen Beschriftungen in unseren Überzeugungs- und Glaubens-Netzwerken und nicht über deren Inhalte. Oder noch schlimmer, wir könnten beide in schwebenden Systemen gefangen sein, die keine klaren Voraussagen bezüglich Erwartungen generieren und unabhänging von der Umwelt existieren.

Zu diesem Punkt führt Eliezer Yudkowsky in seinem Artikel „Making beliefs pay rent“ ein weiteres Beispiel an, nämlich die berühmte „philosophische“ Frage: Wenn im Wald ein Baum umfällt, aber niemand anwesend ist um zuzuhören, erzeugt es dann ein Geräusch? Nehmen wir an, Ihre Freundin Alice meint dazu: „Ja, tut es, da es Vibrationen in der Luft kreiert.“ Aber Ihr Freund Bert entgegnet: „Nein tut es nicht, da keine auditive Verarbeitung in einem Gehirn stattfindet.“ Anstatt dass sich die zwei nun streiten, können Sie das Problem leicht lokalisieren und das vermeintliche Paradoxon als Begriffsverwirrung entlarven und aufzeigen, dass Alice und Bert unterschiedliche Definitionen von „Geräusch“ verwenden. Sie haben in weiser Voraussicht ein Tonaufnahmegerät neben dem Baum im Wald platziert und fragen nun Alice und Bert nach ihren Erwartungen, was sie beim Abspielen des Tonbandes hören werden. Nun sind sich die beiden plötzlich einig. Mit dem einfachen Trick, zu fragen, welche Sinneswahrnehmungen Alice und Bert erwarten, haben Sie das zuerst unlösbar scheinende Problem in ein empirisch überprüfbares überführt. Die hilfreichen Erwartungen, welche wir auch überprüfen können, beziehen sich schlussendlich immer auf eine Sinneswahrnehmung.

Tautologische Systeme

Ihr Psychologie-Professor unterrichtet Sie eines schönen Tages über den Körper-Geist-Dualismus. Sie können dies auswendig lernen und an der Prüfung brav wiedergeben, dass Körper und Geist unabhängig voneinander existieren und dass der Geist unabhängig vom Körper nicht beobacht- oder messbar sei. Diese Lehre generiert somit keine Voraussage darüber, was wir beobachten oder messen könnten, um sie zu bestätigen oder zu widerlegen.

Die einzigen Aussagen, über deren Wahrheitsgehalt wir genau genommen wirklich hundert Prozent sicher sein können, sind tautologische Aussagen wie „Es regnet, wenn es regnet“ oder „Die Blume blüht, wenn sie ihre Blüte öffnet und dies die Definition von ‚blühen‘ ist“. Konstruieren wir mit tautologischen Sätzen ein Netzwerk an Glaubensinhalten und Überzeugungen, so können wir ganz gewiss sein, dass sie wahr sind. Doch solange dieses Netzwerk keine Voraussagen macht, was wir für Sinneswahrnehmungen zu erwarten haben, sind seine Inhalte zwar konsistent, sagen aber nichts über die Welt aus und sind somit allesamt nutzlos.

Was darf ich erwarten?

Einen Satz verstehen, heisst, wissen was der Fall ist, wenn er wahr ist.
(Man kann ihn also verstehen, ohne zu wissen, ob er wahr ist.)
Man versteht ihn, wenn man seine Bestandteile versteht.

– Ludwig Wittgenstein, Tractatus Logico-Philosophicus, Satz 4.024

Angenommen, der Körper-Geist-Dualismus wäre eine akkurate Beschreibung der Realität. Was wäre dann der Fall bezüglich den zu erwartenden Sinneswahrnehmungen? Und was würden Sie unter keinen Umständen erwarten dürfen? Wenn Ihr Professor dies nicht beantworten kann, versteht er nicht, was der Körper-Geist-Dualismus bedeutet. Oder wenn Joschua glaubt, dass sein Gott allmächtig und alliebend ist, was dürfte niemals geschehen? Dürfte dann Leid existieren? Und falls Leid existiert, wäre Joschua dann bereit seinen Glauben zu überdenken? Wenn er ehrlich mit sich selbst ist, bleibt ihm in diesem Fall nichts anderes übrig (Theodizee-Problem). Im eingangs erwähnten Beispiel des Satellitennavigationssystems „Galileo“ wäre es für das Gelingen des Projektes fatal, die Einsteinsche Relativitätstheorie nicht zu berücksichtigen. Wird eine höhere Genauigkeit durch Vewendung anderer Theorien und deren Voraussagen erreicht, kann niemand ernsthaft behaupten, eine Berechnungsmethode nach Newtonscher Physik wäre vorzuziehen. Genauso sollten wir auch mit unseren anderen Überzeugungen über die Funktionsweise der Welt vorgehen.

Joschua und das Theodizee-Problem

Wenn ein allmächtiger und allliebender Gott existieren soll, darf es kein unnötiges Leid im Universum geben. Wenn es einen wirklich allmächtigen Gott gibt, ist jedes Leid unnötig. Durchlebt ein Wesen trotzdem Leid, so muss dem postulierten Gott zwingend mindestens eine der beiden Eigenschaften aberkannt werden. Folgt Joschua den Gesetzen der Logik, bleibt ihm nichts anderes übrig, als den Glauben an einen logisch widersprüchlichen Gott aufzugeben.

Beobachtbare & nicht beobachtbare Überzeugungsgehalte

Natürlich generiert nicht jede Überzeugung unmittelbar eine Erwartungshaltung bezüglich einer Sinneswahrnehmung. Auch können wir Vorstellungen und Glauben haben, welche wir aus Beobachtungen hergeleitet haben. Die Überzeugung, dass die Gravitationsbeschleunigung g ~9.81 ms^{-2} beträgt, kann nicht direkt überprüft werden und doch nehmen wir an, dass g einen Parameter darstellt, der etwas über die Natur und das Funktionieren des Universums aussagt. Dank einem Modell, das g in Relation mit anderen (messbaren) Grössen setzt, können wir jedoch Voraussagen bezüglich denselben generieren. Lassen Sie einen Stein vom Balkon einer der beiden Basler Münstertürme fallen, können Sie die Anzahl Sekunden voraussagen, die verstreichen werden, bis Sie den Aufprall hören und diese mit einer einfachen Stoppuhr nachprüfen. Somit lohnt es sich nicht, wie Alice und Bert über Konzepte streiten, deren Voraussagewert und deren Nützlichkeit einfach überprüft werden können. Auch macht eine Diskussion mit Joschua über seine Vorstellung von einem Gott nicht viel Sinn, wenn er die empirische Überprüfung der Voraussagen, die sein Glaube kreiert, ignoriert. Die entscheidende Frage ist auch hier nicht „Was sollen wir glauben?“ sondern „Was sollen wir erwarten?“.

Ihre Überzeugungen sollten so gut getestet sein, dass Sie auf jede, dem Überzeugungsgrad entsprechend, jederzeit um Geld wetten könnten. Zahlt sich ein Glied in Ihrem System nicht aus und spielt nur Trittbrettfahrer, streichen Sie dieses aus Ihrem Weltverständnis und ersetzen es durch Überzeugungen, welche eine genauere Voraussage liefern. Schliesslich ist unsere Hirnkapazität nicht unendlich und Überzeugungen, die sich darin aufhalten dürfen, sollen wenigstens für ihren Unterhalt aufkommen und sich auszahlen.

Serie: Glauben und Überzeugungen

  1. Schlupfloch im Glauben – was alles erlaubt, erklärt nichts
  2. Sind religiöse Behauptungen unfalsifizierbar?
  3. Überzeugungen müssen sich auszahlen
  4. An einen Glauben glauben (folgt)
]]>
https://gbs-schweiz.org/blog/uberzeugungen-mussen-sich-auszahlen/feed/ 0
Schlupfloch im Glauben – was alles erlaubt, erklärt nichts https://gbs-schweiz.org/blog/schlupfloch-im-glauben-was-alles-erlaubt-erklart-nichts/ https://gbs-schweiz.org/blog/schlupfloch-im-glauben-was-alles-erlaubt-erklart-nichts/#respond Thu, 14 Mar 2013 09:54:07 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=2675 Überzeugungen und Glauben sind zwei (scheinbar) unterschiedliche Konzepte. Beide beeinflussen unser Leben jedoch in gleicher Weise, insofern wir unsere Handlungen den Erwartungen anpassen, die wir aus unseren Überzeugungen und Glaubensinhalten ableiten. Doch was bedeuten enttäuschte Erwartungen?

Es ist kurz vor Mitternacht. Das nervöse Zucken der Blaulichter wird von den Häuserfassaden rund um den Messeplatz in Basel reflektiert und wirft ein gespenstisches Licht auf die tragische Szene in der Mitte. Ein Mann mittleren Alters ist vom Tram erfasst und tödlich verletzt worden. Während sich die Einsatzkräfte um den Toten, die Trampassagiere, den unter Schock stehenden Tramchauffeur und die Spurensicherung kümmern, steht etwas abseits eine Gruppe junger Erwachsener. Sie sind zu einer Jugendkonferenz der schweizerischen Freikirchen angereist und betrachten tief betroffen das Geschehen. Nach ein paar Minuten beginnt einer laut zu beten und fleht Gott an, den Verunglückten wieder zum Leben zu erwecken. Die anderen stimmen mit ein und gemeinsam rufen sie laut zu Gott. Die Szene hat sich vor fast zehn Jahren wirklich so abgespielt. Ein Bekannter aus meiner damaligen Freikirchenzeit – nennen wir ihn Joschua – war bei der betenden Gruppe junger Christen dabei. „Diese Nacht ist mir echt eingefahren, ich bin vorher noch nie direkt mit einem Toten konfrontiert worden“, berichtete mir Joschua. „Die umstehenden Leute haben uns ziemlich argwöhnisch beäugt. Doch das war uns egal. Wir wussten, dass Gott die Macht hat, Menschen von den Toten zurückzuholen, die Bibel ist voll von solchen Berichten. Also standen wir da in Einheit und baten Gott um ein Wunder. Leider ist nichts passiert und wir gingen schliesslich ziemlich bedrückt zur Jugendherberge zurück.“ Joschua seufzte und fuhr fort: „Rückblickend ist es aber sehr ermutigend, wie fest wir im Glauben standen und tatsächlich erwarteten, dass der Mann wieder aufsteht. Wir standen vereint im Glauben da und waren wahrscheinlich die einzigen auf dem ganzen Platz, welche nicht erstaunt gewesen wären, wenn er wirklich wieder aufgestanden und herumgegangen wäre! Diese tiefe Einheit im Geiste mit Mitbrüdern und -schwestern habe ich noch nie zuvor erlebt. Doch Gott hatte anscheinend andere Pläne.“ Verdutzt und enttäuscht schaute ich ihn an und fragte: „Wart ihr denn nicht enorm enttäuscht, dass Gott kein Wunder geschehen liess?“ – „Zuerst schon, doch dass ich nicht der einzige war, der an Wunder in unserer modernen Zeit glaubt, hat mir Mut gegeben, auch öffentlich zu meinem Glauben stehen zu dürfen und sogar für Tote beten und an Wunder glauben zu dürfen. Falls mir Gott wieder einmal eine ähnliche Situation zukommen lässt, kann ich nun mit stärkerem Mut um ein Wunder beten!“

So tragisch diese Geschichte ist, sie zeigt, wie robust Glaubensinhalte auch bei der Konfrontation mit enttäuschten Erwartungen sein können. Joschua wird auch in Zukunft Enttäuschungen erleben, wenn er für Auferstehungen beten wird. Doch ich bezweifle, dass diese seinem Glauben etwas anhaben können. Sein Glaube generiert zwar Erwartungshaltungen bzw. probabilistische Vorhersagen bezüglich seinen zukünftigen Erlebnissen (z.B. eben: „Es ist nicht ausgeschlossen, dass Tote aufgrund eines Gebets wieder zum Leben erweckt werden“), doch die tatsächlichen Erlebnisse haben keine Rückwirkung auf seinen Glauben. Entspricht eine Erfahrung der Erwartung seines Glaubens, so sieht er diese als Bestätigung für seinen Glauben. Doch werden seine Erwartungen nicht erfüllt, so kommt die Joker-Karte „Gottes Wege sind unergründlich“ zum Zuge. In Joschuas Weltbild offenbart dies nicht die wahrscheinliche Falschheit des der Erwartung zugrundeliegenden Glaubens („Gott wirkt auch heute noch Wunder“), sondern veranlasst ihn, seine Erwartungshaltung nachträglich an das Beobachtete anzupassen, ohne seinen Glauben hinterfragen zu müssen. Mit dieser Immunisierungstaktik opfert Joschua aber den Erklärwert, ja letztlich den Gehalt seines Glaubens.

Arguments that explain everything explain nothing.

– Christopher Hitchens

Alle Überzeugungen, welche als wissenschaftlich weitreichend abgesichert gelten, sind durch den wiederholten Ablauf folgender drei Schritte entstanden.

  1. Formulierung einer Theorie bezüglich der Zusammenhänge eines Sachverhaltes
  2. Ableitung einer Voraussage aus dieser Theorie
  3. Überprüfung der Zuverlässigkeit dieser Voraussage durch Manipulation der beteiligten Faktoren und Beobachtung der Ergebnisse
  1. Anpassung der Theorie (nicht der Voraussage aus der ursprünglichen Theorie!)
  2. Ableitung einer neuen Voraussage aus der neuen Theorie

Eine Theorie hat nur soviel Erklärwert, wie sie auch überprüfbare Voraussagen generiert und diese bestätigt bzw. widerlegt werden können. Joschuas Glaube befolgt diese Spielregeln nicht. Ob Joschua den Mann aufstehen und herumgehen sieht oder nicht, hat keinerlei Auswirkungen auf seinen Glauben. Sein Überzeugungsgrad verändert sich nicht durch die Beobachtung eines Sachverhaltes. Da er mit seinem Glauben sowohl erklären kann, warum der Verstorbene nicht auferstanden ist, als auch, warum er auferstanden ist (wenn dies geschehen wäre), hat Joschuas Glaube keinen Erklärwert bzw. keinen Voraussagewert und ist damit letztlich überflüssig und nutzlos in der Interaktion mit der Welt, d.h. bei der Verfolgung unserer Ziele (vgl. die Ausführungen zur instrumentellen Rationalität). Wer mit erhoffter Kausalwirkung betet, muss – im Gegensatz zu jemandem, der dies nicht tut – eine nicht-vernachlässigbare Wahrscheinlichkeit darauf setzen, dass die voraussagende Hypothese (Kausalwirkung des Gebets) tatsächlich wahr ist. In diesem Fall muss das Nicht-Eintreten der probabilistisch vorhergesagten Gebetswirkung aber auch als probabilistische Falsifizierung anerkannt werden. Mit anderen Worten: Der Gewissheitsgrad bezüglich der Hypothese muss sinken – es sei denn, es ist uns egal, dass unsere kognitiven Prozesse die Welt vollkommen falsch abbilden. Das kann uns aber nicht egal sein, wenn wir unsere Ziele erreichen wollen. (Wenn wir von A nach B gelangen wollen und unsere kognitiven Prozesse so fehlgehen, dass sie die Mauer nicht erfassen, die zwischen A und B steht und die man umschiffen müsste, wird unser Kopf Bekanntschaft mit der Mauer machen.) Und unsere Ziele erreichen wollen wir per definitionem.

Erklär- bzw. Vorhersagewert einer Theorie im Bayestheorem:

Wenn die Wahrscheinlichkeit einer Hypothese h (Beten kann Tote zum Leben erwecken) bei Beobachtung einer Evidenz e (Toter wird lebendig) gleich gross ist wie bei der Beobachtung der Evidenz nicht-e (\bar{e}, Toter wird nicht lebendig), so kann daraus nur folgen, dass die die Wahrscheinlichkeit der Hypothese h absolut unabhängig der Evidenz e ist: P(h|e) = P(h|\bar{e}) \rightarrow P(h|e) = P(h)
Setzen wir dies ins Bayestheorem P(h|e) = P(h) \cdot \frac{P(e|h)}{P(e)} ein, erhalten wir P(e|h) = P(e).
Dies bedeutet, dass die Wahrscheinlichkeit, dass ein Toter wieder lebendig wird, genau gleich gross wird, ob Joschuas Glaube, dass Gebete Tote wiedererwecken kann, nun stimmt oder nicht. Doch das kann nicht sein. Der Grund, warum Joschua (im Gegensatz zu anderen) betet, muss ja darin bestehen, dass er die Erfolgswahrscheinlichkeit dieser Massnahme aufgrund seines Glaubens höher einschätzt als andere.

Man wird vielleicht einwenden, dass viele Menschen an ihren Glauben gar nicht den Anspruch stellen, konkrete Voraussagen über die Welt zu machen, sondern vielmehr Trost und Orientierung darin suchen. Das mag durchaus zutreffen. Konsistenterweise müsste man dann auch zugeben, dass man Trost in etwas sucht, für dessen Existenz man keine Evidenz hat und daher auch keine stimmigen Wahrscheinlichkeiten angeben kann. Dies läuft dem Begriff des Glaubens aber zuwider, da dieser zu implizieren scheint, dass man das Geglaubte mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit für wahr hält. Ist dieser Glaube in irgendeiner Form handlungs- bzw. lebensrelevant, folgen aus ihm mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit auch Erwartungen bzw. Vorhersagen. Und damit setzt sich, wer glaubt und handelt, nolens volens der Möglichkeit aus, einen Fehler zu machen. Die Fehlermöglichkeit ihrerseits impliziert konkrete Möglichkeiten, korrigiert zu werden.

Joschaus religiöser Glaube ist nicht die einzige Art von Überzeugung, die keine überprüfbaren Voraussagen über die Welt macht (oder die welche machen will und macht, sich dann aber nicht korrigieren lässt, wenn die Voraussagen nicht eintreten). Viel zu oft schleichen sich in unsere Weltansicht Vorstellungen und Überzeugungen ein, welche wir jahrelang mit uns herumtragen und welche dann in unserem Überzeugungssystem sogar eine für andere Glaubensinhalte fundamentale Position einnehmen. Überprüfen wir unsere Annahmen über die Welt nicht regelmässig, laufen wir Gefahr, uns ganze Netzwerke an Glaubensinhalten und Überzeugungen anzueignen, die sich weit von der Realität entfernen und damit das Erreichen unserer Ziele sabotieren. Ich nenne hier absichtlich „Überzeugung“ und „Glauben“ im selben Atemzug. Es ist mir bewusst, dass diese Begriffe unterschiedlich konnotiert sind und auf psychologische Unterschiede hinweisen. Während ein Glaube gemeinhin als „persönliche Weltansicht“ akzeptiert wird, welche gegenüber anderen Personen „nicht bewiesen werden muss“, stellt eine Überzeugung viel mehr eine Annahme und Behauptung dar, die wiederholt überprüft und deren Plausibilität aufgezeigt werden kann und muss. Doch im Endeffekt wirken sich beide – ein „Glaube“ und eine „Überzeugung“ – auf unser Handeln aus, indem sie eine Erwartungshaltung generieren, nach der wir unsere Handlungsoptionen bewerten und uns dann entsprechend entscheiden und verhalten. Ob ich mich aufgrund eines „Glaubens“, einer „Annahme“ oder einer „Überzeugung“ für eine Handlungsoption entscheide, spielt für die Konsequenzen, welche die Handlung nach sich zieht, keine Rolle. In allen Fällen stellt meine Handlung eine Wette dar, bei der ich Energie, Zeit und/oder Geld investiere und etwas aufs Spiel setze. In diesem Sinne können die Begriffe „Glaube“ und „Überzeugung“ austauschbar verwendet werden.

Stellen wir uns vor, Joschua hätte nicht als Privatperson seinen Gott um eine Wunder gebeten, sondern als kandidierender Bundesrat vor laufender Fernsehkamera. Was er dabei aufs Spiel gesetzt hätte, wäre um Grössenordnungen mehr gewesen: Er hätte sich nicht nur lächerlich gemacht, sondern seine gesamte Karriere verspielt. Und was geschieht, wenn ganze Gesellschaften falsch wetten, zeigt die Geschichte (und zu einem guten Teil wohl auch die Gegenwart) eindrücklich.

Serie: Glauben und Überzeugungen

  1. Schlupfloch im Glauben – was alles erlaubt, erklärt nichts
  2. Sind religiöse Behauptungen unfalsifizierbar?
  3. Überzeugungen müssen sich auszahlen
  4. An einen Glauben glauben (folgt)
Artikelbild: © littleny – Fotolia.com
]]>
https://gbs-schweiz.org/blog/schlupfloch-im-glauben-was-alles-erlaubt-erklart-nichts/feed/ 0
Trügerisches Einheitsgrau: Der Grau-Fehlschluss https://gbs-schweiz.org/blog/der-grau-fehlschluss-und-das-trugerische-einheitsgrau/ https://gbs-schweiz.org/blog/der-grau-fehlschluss-und-das-trugerische-einheitsgrau/#respond http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=1097

Der Weltkluge: Die Welt ist nicht schwarz-weiss. Niemand tut nur Gutes oder nur Schlechtes. Alles ist grau. Deshalb sind niemandes Handlungen besser als die Handlungen irgendeines anderen.

Der Skeptiker: Du kennst nur Grau, aber daraus schlussfolgerst du, dass jedes Grau die gleiche Schattierung hat. Du belächelst die Naivität der zweifarbigen Schwarz-Weiss-Weltsicht, um sie dann durch eine einfarbige zu ersetzen.

Marc Stiegler, David’s Sling

Das Problem beim Grau-Fehlschluss liegt in der Ersetzung eines Zwei-Kategorien-Weltbildes (in schwarz und weiss) durch ein Ein-Kategorien-Weltbild (in Einheitsgrau). Den Grau-Fehlschluss begeht man oft, wenn man sich entscheiden muss, ob eine Handlungsoption im Gegensatz zu den vorhandenen Handlungsalternativen richtig oder falsch, besser oder schlechter ist. Stellt sich dies als schwierig heraus, so tendieren wir dazu, zu sagen, dass keine Handlung 100% richtig (weiss) und keine 100% falsch (schwarz) sei und dass folglich alles gleichermassen unsicher sei (Einheitsgrau). Also komme es nicht darauf an, welche Handlung man letztlich ausführe.

Weiter tritt der Grau-Fehlschluss auch oft in Diskussionen auf, in denen zwei Diskussionspartner gegenteilige Ansichten vertreten, die angeführten Argumente aber deutlicher für eine Seite als für die andere sprechen. Für die unterlegene Person scheint es dann vorteilhaft, wenigstens auf ein Unentschieden zu pochen, statt ihre Meinung der Faktenlage anpassen zu müssen. Sie weist also auf ein paar kleine Unsicherheiten im Evidenzmaterial des anderen hin, übertreibt sie und stellt schliesslich fest, dass keine Positionen zweifelsfrei bewiesen (weiss) oder absolut sicher widerlegt (schwarz) werden kann. Daraus leitet sie dann fälschlicherweise ab, dass beide gleich wahrscheinlich sind und nicht entschieden werden kann, welche Ansicht besser belegt sei (Einheitsgrau).

Quantitativ-probabilistisches Denken

Hilfreicher wäre es aber, die Weltbildoptionen als Kontinuum zu sehen, indem zwischen die praktisch kaum erreichbaren 100- bzw. 0-Prozent-Gewissheiten ein grosses Spektrum an Graustufen gelegt wird. Wenn also etwas nicht dem einen oder dem anderen Extrem zugeschrieben werden kann, so ist es trotzdem meistens möglich, anhand der vorhandenen Daten die Wahrscheinlichkeit zweier unterschiedlicher Hypothesen auf dem Kontinuum relativ zueinander zu verorten und anzugeben, welche Hypothese angesichts der vorliegenden Evidenz wahrscheinlicher ist.

Der Wahrheitsgehalt der Aussagen “Der Mond besteht aus Kräuterkäse” und “Die Sonne besteht hauptsächlich aus Wasserstoff und Helium” ist in beiden Fällen unsicher, aber nicht in demselben Grad.

Als die Menschen dachten, die Erde sei flach, lagen sie falsch. Als die Menschen dachten, die Erde sei kugelförmig, lagen sie falsch. Doch wenn du denkst, dass zu denken, dass die Erde kugelförmig ist, gleich falsch ist wie zu denken, dass die Erde flach ist, dann ist deine Ansicht falscher als beides zusammen.

Isaac Asimov, The Relativity of Wrong

Quantitativ-probabilistische Überlegungen vermindern das Denken in abgeschlossenen Kategorien. Denkvorgänge und Handlungen sollten bestmöglich ihrem Effekt nach gemessen und beurteilt werden. In gewissen Lebensbereichen erscheint es uns logisch, quantitativ zu denken. Wenn ein Firmenbesitzer z.B. eine Arbeitskraft einstellt, legt er grossen Wert darauf, die beste verfügbare Wahl zu treffen. Innerhalb der Kategorie “Arbeitnehmerwahl” quantifiziert der Firmenbesitzer und vergleicht verschiedene mögliche Arbeitnehmer miteinander. In anderen Bereichen hingegen denken viele Menschen nicht quantitativ.

„Hauptsache, man spendet überhaupt.“
Dieses Kredo ist weit verbreitet und einer der Bereiche, in welchem selten quantitativ entschieden wird. Spendet jemand Geld für einen guten Zweck, so ist dies lobenswert und ein erster Schritt. Doch genauso wichtig wie die Entscheidung, überhaupt eine Geldmenge zu spenden, ist auch die Entscheidung, nach welchen Kriterien an welche Organisation diese geht. Hier rational zu entscheiden, kann viel bewirken und über Leben und Tod entscheiden. Quantifizierungen im Zuge einer Evaluation von Hilfsorganisationen haben gezeigt, dass eine Spende an die kosteneffektivste Stelle mehr als 1000-mal soviel bewirken kann wie dieselbe Spendensumme an eine ineffektive.

Freier & klarer denken

Dank der Kognitionspsychologie wissen wir heute, dass unser Gehirn einige suboptimale Abkürzungen im Denken verfolgt, welche sich in systematischen Denkfehlern, sogenannten kognitiven Biases, äussern. Lange Bias-Listen halten uns unsere eigene Fehlbarkeit vor Augen und man könnte meinen, es sei unmöglich, sich all dieser Biases bewusst zu werden und sie sich abzugewöhnen. Doch das sollte uns nicht davon abhalten, uns möglichst viele Biases klarzumachen und uns von möglichst vielen zu befreien. Selbst wenn es uns nicht gelingt, alle Biases komplett zu eliminieren, lohnt es sich doch, ihre Anzahl in unserem Denken zu verkleinern. Letztlich stellt jeder einzelne Bias, den wir loswerden können, eine Verbesserung hin zu klarerem Denkvermögen dar – das zu einem wahrscheinlicher wahren Weltbild und zu wahrscheinlicherer Zielerreichung führt. Es lohnt sich also auch hier, quantitativ zu denken. Und wenn wir von Mitmenschen auf verbleibende Biases oder falsche Weltsichten aufmerksam gemacht werden, sollten wir ehrlich mit uns selbst sein und nicht der Einheitsgrau-Strategie verfallen, um mit ihr auf argumentatives Unentschieden pochen. Wenn ich in einer meiner Weltsichten irre, kann ich ohnehin nur gewinnen, wenn ich mir dessen bewusst werde. Denn jeder eliminierte Fehler macht es wahrscheinlicher, dass mein Weltbild korrekt ist und dass ich aufgrund dieser korrekten Information über die Welt meine Ziele in der Welt erreichen werde.
Auch wenn es kein Schwarz und kein Weiss gibt, so gibt es doch hellere und dunklere Graustufen, an denen wir unsere Überzeugungen ausrichten sollten. Den Grau-Fehlschluss nicht zu begehen, heisst, den Erkenntnisgewinn nicht aufzugeben, sondern ihn graduell zu optimieren.

Quellenangabe
Yudkowsky, E. (2008). The Fallacy of Gray. LessWrong (3.1.2013).
]]>
https://gbs-schweiz.org/blog/der-grau-fehlschluss-und-das-trugerische-einheitsgrau/feed/ 0