Stefan Huber – GBS Schweiz https://gbs-schweiz.org Aufklärung im 21. Jahrhundert Sat, 23 Nov 2013 07:55:00 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.6.1 Können wir überhaupt etwas tun? – Das Prinzip der Kosteneffektivität und deren Folgen für unser Handeln https://gbs-schweiz.org/blog/koennen-wir-ueberhaupt-etwas-tun-das-prinzip-der-kosteneffektivitaet-und-deren-folgen-fuer-unser-handeln/ https://gbs-schweiz.org/blog/koennen-wir-ueberhaupt-etwas-tun-das-prinzip-der-kosteneffektivitaet-und-deren-folgen-fuer-unser-handeln/#respond Tue, 17 Sep 2013 05:46:53 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=5075 In der Serie Eine Welt ohne Armut – Utopie oder Möglichkeit? wurden Ansatzpunkte aufgezeigt, wie Armut minimiert oder gar in die Geschichtsbücher verbannt werden kann. Nicht nur deren Wirksamkeit, sondern auch ihre Realisierbarkeit sind schwierig einzuschätzen. Das sollte uns jedoch nicht zur Inaktivität verleiten. Denn dies entspräche dem Evaluability Bias – der kognitiven Verzerrung, dass man Ziele verwirft, weil deren Erreichung schwierig scheint. Man könnte hier auch durchaus von einer Erweiterung des Omission Bias sprechen – der kognitiven Verzerrung, dass etwas Schlechtes nicht zu verhindern sich davon unterscheide etwas Schlechtes zu tun.

Wenn wir also anerkennen, dass es Wege gibt die Armut auf der Welt zu bekämpfen oder zumindest zu verringern, haben wir dann nicht die ethische Verpflichtung dies auch zu tun?

Der australische Ethiker und Philosoph Peter Singer (und Autor des Buches und Mitgründer der gleichnamigen Organisation The Life You Can Save) hat zu dieser Frage bereits 1997 seinen StudentInnen ein eindrückliches Gedankenexperiment vorgestellt.

Das ertrinkende Kind
Stellen Sie sich vor, Ihr Schul- oder Arbeitsweg führt Sie an einem ruhigen Teich vorbei. Eines Morgens sehen Sie in dem Teich ein Kind, das zu ertrinken droht. Es wäre für Sie ein Leichtes, in den Teich zu gehen und das Kind zu retten, doch Sie würden dadurch Ihre Kleidung ruinieren und müssten sich für Ihre Abwesenheit bei der Schule oder bei der Arbeit entschuldigen.
Angesichts dieser Faktenlage: Haben Sie die ethische Verpflichtung das Kind zu retten? Die grosse Mehrheit unter Ihnen – wie auch der StudentInnen Peter Singers – bejaht diese Frage. In der Gesetzgebung spricht man schliesslich auch von „unterlassener Hilfeleistung“.
Gleichzeitig erkennt die Ethik des 21. Jahrhunderts (und damit wohl auch Sie selbst) an, dass Menschen unterschiedlicher Nationalitäten und Wohnorte gleichwertig sind.
Doch wenn man nun gedanklich dieses ertrinkende Kind in dem Teich in Ihrer Wohngegend in ein anderes Land oder gar einen anderen Kontinent transportiert und damit höchst wahrscheinlich dessen Nationalität verändert, so schwindet bei Singers StudentInnen das Gefühl der ethischen Verpflichtung zur Hilfe. Und das obwohl wir nicht nur gedanklich, sondern real zum Preis einer CD, einigen Kaffees oder eines neuen Pullovers das Leben hilfsbedürftiger Menschen merklich verbessern oder gar retten könnten.

Der Vergleich von Produkten oder Dienstleistungen (wie Auto, Massage oder Auslandsreise), die wir in unserem „westlichen“ Alltag beziehen, und möglichen Hilfsaktionen sind uns allen bekannt und oft misstrauen wir diesen Gegenüberstellungen. Gerade deshalb ist es erstaunlich, dass es erst seit wenigen Jahren Organisationen gibt, welche die Kosteneffektivität als bedeutendes Merkmal von Hilfsorganisationen wissenschaftlich untersuchen und beurteilen.

We seek charities that are „cost-effective“ in the sense of changing lives as much as possible for as little money as possible.

– Givewell

Givewell ist eine gemeinnützige Organisation, welche sich dem Zweck widmet, ausserordentliche Hilfsorganisationen zu identifizieren. Die jeweiligen Untersuchungen werden vollumfänglich publiziert. Givewell ist dabei bestrebt, vertiefte und umfassende Beurteilungen hervozubringen, die eine Aussage darüber zulassen, wie viel Gutes die jeweilige Hilfesorganisation pro Geldeinheit erreicht. Nur jene Hilfsorganisationen, welche sich als aussergewöhnlich kosteneffektiv herausstellen, werden von Givewell empfohlen.

Giving What We Can ist die zweite erwähnenswerte Organisation. Ihr Schwerpunkt liegt im Bereich der Gesundheit, da diese grossen Einfluss auf die Lebensdauer und -qualität der Betroffenen hat und bereits viel wissenschaftliche Forschung dazu vorliegt. Andere Bereiche (wie politische Aktivitäten oder Bildung), die schwieriger zu quantifizieren sind, versucht Giving What We Can ebenfalls zu untersuchen, gibt jedoch keine offiziellen Empfehlungen dazu ab, weil eine Gegenüberstellung nicht wissenschaftlich sauber durchgeführt werden kann.

Unter den empfohlenen Hilfsorganisationen finden sich die Against Malaria Foundation (AMF) und Deworm the World. AMF stellt langlebige mit Insektiziden behandelte Netze bereit, lässt sie mit den benötigten Informationen zu deren Benutzung abgeben und untersucht danach über Jahre hinweg deren Anwendung und Nutzen. Deworm the World unterstützt die Regierungen von Kenya und Indien bei der Umsetzung von Entwurmungsprogrammen und versucht solche Bestrebungen auch in Südamerika, Asien und Afrika voranzutreiben. Es ist intuitiv nachvollziehbar, dass gerade Massnahmen gegen Malaria und Wurminfektionen sehr kosteneffektiv sind, da mit wenigen Mitteln schwerwiegende, teilweise lebensbedrohliche Folgen verhindert werden können.

Mit der Organisation Effective Fundraising haben Kosteneffektivität und Wissenschaftlichkeit nun auch ihren Weg in die Kapitalbeschaffung gefunden. Ihr Ziel ist es, für AMF und The Humane League (eine der zwei kosteneffektivsten Tierrechts-Organisationen) so viel Spendengelder wie irgend möglich zu sammeln.

Kombiniert man also Kosteneffektivität und ethische Verpflichtung zur Spende, wird schnell klar, dass oft die falschen Fragen gestellt werden. Es geht nämlich nicht darum zu klären, warum Sie spenden sollen oder wieviel, sondern wohin. Antworten darauf liefern Ihnen die Empfehlungen von Giving What We Can und die Empfehlungen von Givewell.

Sagen Sie heute noch

Ich habe die Informationen.
Ich habe die finanziellen Mittel.
Ich habe die Organisationen.

Und spenden Sie heute noch, damit Sie morgen sagen können

Ich habe die Welt verbessert.

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Korruption und Vetternwirtschaft – Institutionelle Probleme oder problematische Institutionen? https://gbs-schweiz.org/blog/institutionelle-probleme-oder-problematische-institutionen/ https://gbs-schweiz.org/blog/institutionelle-probleme-oder-problematische-institutionen/#respond Mon, 19 Aug 2013 17:57:17 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=4844

Welchen Nutzen besitzt ausländische Entwicklungshilfe, wenn das Geld am Ende gar nicht dort ankommt, wo es am meisten benötigt wird?

Es ist unumstritten, dass in ärmeren Ländern die Korruption und die Gleichgültigkeit der politischen Elite gegenüber der Bevölkerung am grössten ist. Drei politische Umstände erhöhen nach Banerjee und Duflo das Korruptionsrisiko:

  • Wenn die Regierung den Menschen verschiedene Massnahmen aufzuzwingen versucht, welche sie nicht befürworten (z.B. Helmtragepflicht oder Impfungspflicht)
  • Wenn die Bevölkerung von Seiten des Staates etwas erhält, dessen Wert viel höher ist als der Preis, den sie momentan dafür bezahlen müsste (z.B. ein Krankenbett in einem Spital wird an alle gratis zur Verfügung gestellt, weshalb reiche Leute durch Bestechung schneller an dieses Gut gelangen können)
  • Wenn BürokratInnen unterbezahlt und überarbeitet sind und zudem schwach überwacht werden

Eine unwissende Bevölkerung und mehrfache Regierungsfehler führten in vielen Entwicklungsländern zu einem Vertrauensverlust der Bürger und Bürgerinnen gegenüber ihrem politischen System und dessen Angestellten. Doch auch träge und fehlgeleitete Entscheidungsprozesse hindern Entwicklung und fördern Schlupflöcher für Korruption.

Das Problem der Drei I’s (Banerjee und Duflo)

  • Ideology (Weltanschauung): Das Pensum von Krankenschwestern ist auf einer Ideologie aufgebaut, welche diese als engagierte Sozialarbeiterinnen betrachten, ohne darauf zu achten, dass diese sie nicht immer den geforderten Arbeitsaufwand erledigen können.
  • Ignorance (Unwissen): Diese Weltanschauung wird in der Realität oftmals ohne grosses Wissen über die Zustände vor Ort umgesetzt.
  • Inertia (Trägheit): Die Trägheit des Systems sorgt dafür, dass Veränderungen nur sehr langsam durchgesetzt werden können.

Ritva Reinikka und Jakob Svensson untersuchten, wie viel staatliches Fördergeld auch tatsächlich in den Schulen ankam und wie viel in den Taschen der örtlichen Ämter landeten. Ernüchtert mussten sie feststellen, dass schlussendlich bloss 13 Prozent der Gelder die Schulen erreichten.

Nach Veröffentlichung dieser Zahlen machte sich in Uganda ein entrüsteter Aufschrei in der Bevölkerung bemerkbar und das Finanzministerium gab seither jeden Monat – in der grössten Zeitung des Landes – bekannt, wie viel sie den einzelnen Landesteilen für ihre Bildungsausgaben zugesprochen hatten. Seither erhielten die Schulen im Durchschnitt 80 Prozent des Geldes, sprich mehr als das Sechsfache. Es benötigt also nicht zwingend eine grosse Veränderung des institutionellen Prozesses, um Korruption zu bekämpfen. Schrittweiser Fortschritt durch öffentliche Kampagnen und die Akkumulation kleiner Veränderungen resultieren manchmal auch im gewünschten Wandel.

In der Politikwissenschaft und der Ökonomie unterteilt man Institutionen in zwei Bereiche:

  • ökonomische Institutionen (wie z.B. Eigentumsrechte oder Steuersysteme)
  • politische Institutionen (wie z.B. Demokratie oder Autokratie)

Acemoglu und Robinson stellen in ihrem Buch Why Nations Fail (dessen Inhalt der Ansicht vieler WissenschaftlerInnen der politischen Ökonomie entspricht) die These auf, dass das Funktionieren dieser zwei Institutionen ausschlaggebend für die Prosperität einer Gesellschaft sei. Ein Hauptproblem läge in der egoistischen Handlungsweise vieler politischer und wirtschaftlicher MachthaberInnen, welche nicht notwendigerweise im Interesse der Allgemeinheit handelten. Oft führe dies zu einer restriktiven Wirtschaft, da diese ihre eigenen Interessen schützen und den Einfluss der Konkurrenz einschränken wolle. Dies wird auch das Eherne Gesetz der Oligarchie genannt, welches zu einer massiven Ineffizienz der Entwicklungshilfe führt, da das Geld in der Tasche der herrschenden Elite verloren geht.

Viele Entwicklungsländer leiden noch immer unter den Folgen kolonialer Machtstrukturen, da diese darauf aus waren, die Länder so effizient wie möglich auszubeuten und den eigenen Profit zu maximieren. Nach der Dekolonisation übernahmen die lokalen Eliten die bestehenden Institutionen und nutzten sie zu ihrem eigenen Vorteil, so dass sich die Verhältnisse der Allgemeinheit oftmals nicht verbessern konnten.

Militärische Intervention oder Freier Markt?

Aus den ursprünglichen Thesen von Acemoglu und Robinson resultierten zwei Denkrichtungen mit zwei diametralen Ansichten: Die Eine geht davon aus, dass reiche Länder Entwicklungsländern förderliche Institutionen auferlegen sollten – wenn nötig auch mit Gewalt. Die Andere gibt zu bedenken, dass ein institutioneller Wechsel nur von innen heraus stattfinden kann und reiche Länder in diesen Prozess nicht eingreifen sollten. Viele Beispielländer, allen voran der Irak, deuten diesbezüglich eher daraufhin, dass eine Top-Down-Strategie das Ziel verfehlt.

William Easterly ist nicht nur diesbezüglich sehr skeptisch, sondern allgemein in Bezug auf Entwicklungshilfe. Seiner Meinung nach verursacht sie noch mehr Leid, da die korrupte Elite das Geld für sich beansprucht und ihre Institutionen noch stärker auf Kosten der Bevölkerung ausbaut. Demokratische Regierungen und deren Gesetze besässen die notwendigen institutionellen Voraussetzungen, um das gewünschte Ziel zu erreichen. Freiheit könne und dürfe aber nicht mit militärischer Gewalt aufgezwungen werden.

Banerjee und Duflo geben zu bedenken, dass es signifikante institutionelle Veränderungen gibt, welche von aussen beeinflusst werden können und in der Vergangenheit verbessert worden sind, ohne dass gleich eine militärische Intervention von Nöten war oder eine soziale Revolution ausbrach. Und der Hoffnung, dass sich die Dinge ohne Hilfe von aussen genauso schnell verändern, stehen sie skeptisch gegenüber. Zudem weisen sie darauf hin, dass nebst den sogenannten „grossen“, institutionellen Strukturen in der aktuellen Diskussion die „kleinen“, lokalen Institutionen oftmals unbeachtet bleiben. So sind demokratische Institutionen beispielsweise in keinem Land gleich aufgebaut und unterscheiden sich auf lokaler und auch nationaler Ebene in vielen gesetzlichen Bereichen. Dementsprechend enthalten auch autokratische Regierungen teilweise demokratische Elemente. Für eine genaue Analyse, wie Institutionen das Leben armer Menschen beeinflussen, sollten deshalb auch institutionelle Details Beachtung finden.

Von schlechten politischen Strukturen zu weniger schlechten?

Auch in autoritären Regimes konnten sich demokratische Institutionen auf lokaler Ebene zu einem gewissen Mass durchsetzen. So zum Beispiel in Indonesien unter Suharto, in Brasilien während der militärischen Diktatur, in Mexiko unter der Herrschaft der PRI (Partei der institutionellen Revolution), in Saudi Arabien im Jahr 2005 oder in Jemen im Jahr 2001. Die Reformen stiessen im Westen auf grosse Skepsis, da die Wahlen oftmals gefälscht waren und die gewählten Amtspersonen über eingeschränkte Macht verfügten. Dennoch zeigten sich erstaunliche Auswirkungen auf lokaler politischer Ebene. Eine in China durchgeführte Studie über die Einführung  von ländlichen, lokalen Wahlen, veranschaulicht dies: Nach den ersten Wahlen fand ein Wechsel der öffentlichen Ausgaben statt, welche vermehrt den Bedürfnissen der Dorfgemeinschaft zu Gute kamen.

Nebst dem schon erwähnten Beispiel aus Uganda konnte auch in Indonesien die Korruption verringert werden. Banerjee und Duflo zeigten anhand eines Beispiels in Indien wie mit verschiedenen Interventionen die polizeiliche Verantwortung gegenüber der Bevölkerung (vor allem der armen Bevölkerung) durch sogenannte decoys verstärkt werden kann. Es wurde gezeigt, dass Korruption auch mit knappen finanziellen und personellen Mitteln effektiv verringert werden kann. In Brasilien wurde in den späten Neunzigern elektronische Wahlen eingeführt, welche Menschen ohne Lesekenntnisse erst die Möglichkeit bieten am politischen Prozess teilzunehmen. Die Anzahl an ungültigen Stimmen sank danach um 11 Prozent.

Selbst in korrupten und auch autoritären Ländern können die vorhandenen „grossen“ Institutionen oftmals auf lokaler Ebene durch funktionierende „kleine“ Institutionen aufgewertet werden, so dass auch die Armen davon profitieren und ihre Interessen stärker berücksichtigt werden. Dasselbe trifft auch auf politische Massnahmen zu, welche nicht vollständig determiniert sind durch politische Rahmenbedingungen. So können gute Massnahmen auch in einer schlechten politischen Umgebung eingeführt werden, und umgekehrt.

Alle Macht dem Volk?

Die heutige Ansicht, dass schlussendlich die armen Menschen die alleinige Entscheidung über ihre politischen Massnahmen treffen sollen, scheint auf den ersten Blick völlig einleuchtend. In der Praxis ist es aber nicht ganz so einfach und hängt sehr stark von der Art und Weise der Implementierung ab, der Beteiligung der Gemeinschaft am Prozess der Entscheidungsfindung und davon, wie dezentral diese Entscheidungen getroffen werden.

Viele Studien in Indien weisen darauf hin, dass Frauen in den politischen Führungspositionen fast immer zu einer positiven Veränderung der Zustände beigetragen haben. Über die Zeit betrachtet, scheinen sie auch effektiver mit dem zur Verfügung stehenden Geld umgehen zu können und reagieren weniger anfällig auf Bestechungsgelder als Männer. Die Evidenz zeigt, dass sich Frauen auch in Indien langsam aber sicher durchsetzen können und auf leisen Sohlen die Politik mit gestalten beginnen. Diese Tendenz ist in jeglichen Belangen wünschenswert und sollte mit den nötigen Gesetzen gefördert werden. In Brasilien wurden seit 2003 jeden Monat zufällig sechzig Gemeinden ausgewählt und auf ihre Buchhaltung überprüft. Da die Ergebnisse über das Internet und die lokalen Medien veröffentlicht wurden, gingen schon ein Jahr später die Wahlchancen von korrupten AmtsinhaberInnen um 12 Prozent zurück, während diejenigen von nicht korrupten PolitikerInnen um 13 Prozent anstieg.

Wie kann nun gewährleistet werden, dass auch unterprivilegierte Gruppen wie ethnische Minderheiten oder beispielsweise Frauen adäquat und gerecht im politischen Prozess eingebunden werden? Diese Frage hängt stark von den lokalen Regeln und Normen ab: Wer darf an Dorfversammlungen seine Meinung kundtun? Wer ist überhaupt eingeladen? Wer setzt  schlussendlich die Beschlüsse in den Alltag um? Es ist unklar, ob eine Dezentralisierung auch wirklich die institutionell beste Lösung ist, um das Armutsproblem zu bekämpfen. Wenn politische Regeln von den Dörfern dezentral umgesetzt werden, besteht die grosse Gefahr, dass die lokale Elite ihre eigenen Interessen durchsetzt und die ärmeren Bevölkerungsgruppen auf politischer Ebene deshalb ausschliesst. Eine zentrale Autorität, welche durch gewisse Gesetze und Regeln die betroffenen Gruppen in die Politik mit einbezieht, kann deshalb für die Implementierung einer anschliessenden Dezentralisierung, von grosser Bedeutung sein. Die Macht dem Volk, aber mit gewissen Bedingungen.

Mehr Bildung und ein höherer Lebensstandard für arme Menschen haben längerfristig einen positiven Einfluss auf die Entwicklung gut funktionierender Institutionen. Ebenso wichtig ist das Verständnis der Motivationsgründe und Hemmnisse aller Akteure, damit die bestmöglichen Massnahmen und Institutionen eruiert werden können, welche zu weniger Korruption und mehr Vertrauen führen. Wie diese armutsreduzierenden Programme aussehen, hat diese Blogsequenz in den letzten vier Kapiteln aufzuzeigen versucht. Sie sollen den Ausgangspunkt einer leisen Revolution darstellen; deren Startschuss der nächste Artikel gibt.

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Zwischen Einstein und Ramanujam – Wie in jedem Kind ein Genie schlummert https://gbs-schweiz.org/blog/wie-in-jedem-kind-ein-genie-schlummert/ https://gbs-schweiz.org/blog/wie-in-jedem-kind-ein-genie-schlummert/#respond Fri, 16 Aug 2013 15:08:58 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=4747 Wie nicht anders zu erwarten, scheiden sich auch in der Bildungspolitik die Geister. Eine grosse Mehrheit der EntscheidungsträgerInnen internationaler Politik sind der Meinung, dass man die Kinder einfach in ein Schulzimmer zu setzen braucht, eine gut ausgebildete Lehrperson hinzufügt und sich der Rest dann von selbst erledigen wird.

Die Supply Wallahs

Banerjee und Duflo nennen Personen mit dieser Ansicht „Supply Wallahs“ – die Verfechter der Angebotsseite. Diese Position ist wiederum in den Millennium-Entwicklungszielen der UNO wiederzufinden:

Primärschulbildung für alle: Bis zum Jahr 2015 ist sichergestellt, dass Kinder in der ganzen Welt, Mädchen wie Jungen, eine Primärschulbildung vollständig abgeschlossen haben.

Diese Sichtweise scheint sich durchgesetzt zu haben, denn in fast allen Ländern ist die Schule kostenlos (zumindest auf Primarschulstufe) und die meisten Kinder sind auch eingeschrieben. So haben Banerjee und Duflo in ihrem Datensatz von 18 Ländern sogar unter den extrem armen Menschen eine Immatrikulationsrate von über 80 Prozent in der Hälfte der Länder vorgefunden.

Die Milleniumsziele und viele bildungspolitische Massnahmen der Supply Wallahs gehen davon aus, dass die Qualität der Bildung und die des Lernens mit der schulischen Einschreibung und einem Abschluss Hand in Hand gehen. Leider präsentiert sich die Realität ein bisschen komplizierter.

Wie schlecht dürfen LehrerInnen sein?

Die Konklusion einer Studie der Weltbank über die Abwesenheitsraten von Lehrpersonen in Bangladesch, Ecuador, Indien, Indonesien, Peru und Uganda hat gezeigt, dass diese im Durschnitt an einem von fünf Tagen nicht anwesend sind. In Indien und Uganda ist diese Zahl noch höher. In Indien hat sich herausgestellt, dass sogar Anwesenheit der LehrerInnen diese oftmals noch anderen Aktivitäten nachgehen und sich nicht auf den Unterricht konzentrieren. Insgesamt verbringen Lehrpersonen in Indien nur die Hälfte ihrer vorgesehenen Zeit vor ihren Schulklassen. Die Folgen davon sind unschwer zu erörtern.

Pratham untersuchte diesbezüglich 700’000 Kinder in verschiedenen, zufällig ausgesuchten indischen Dörfern (über 1’000 Kinder pro Dorf) auf ihre schulischen Fähigkeiten. Fast 35 Prozent der sieben- bis vierzehnjährigen Kinder konnten keinen einfachen Absatz und knapp 60 Prozent keine einfache Geschichte lesen. Dasselbe trifft auf mathematische Kenntnisse zu. Ähnliche Resultate wurden unter anderem in Pakistan und Kenia vorgefunden.

Die Demand Wallahs

Eine zweite Position präsentiert einen anderen Lösungsvorschlag, welcher nicht das Angebot in den Vordergrund rückt, sondern sich auf die Nachfrage fokussiert. Diese sogenannten „Demand Wallahs“ weisen darauf hin, dass durch die alleinige Bereitstellung von Schulen kein grosser Nutzen entsteht, solange nicht gleichzeitig auch eine Nachfrage nach Schulbildung vorhanden ist. Ihrer Meinung nach ist die Qualität der Bildung in gewissen Ländern so gering, weil sich die Eltern nicht genügend um die schulischen Aktivitäten ihrer Kinder kümmern, solange sie keinen Vorteil darin erkennen. Wenn der längerfristige finanzielle Nutzen aus der Schulbildung sichtbar ist, wird automatisch auch die Nachfrage nach Privatschulen oder – wo diese zu teuer sind – die Nachfrage nach öffentlichen Schulen steigen und das Angebot quantitativ als auch qualitativ zunehmen.

Betrachtet man dabei Indien in Bezug auf die Grüne Revolution oder die Verlagerung der Call Centers in diese Region, so hatte die Nachfrage eindeutig einen Einfluss auf die Schulbildung in diesen Gebieten. Sie stieg in jenen Regionen an, in welchen die Menschen eine bessere Ausbildung benötigten, um auf dem neu entstandenen Arbeitsmarkt erfolgreich mithalten zu können. Weiter konnte Robert Jensen einen Zusammenhang zwischen dem Anstieg an Call Centern und dem Anstieg der Immatrikulierungsrate von Mädchen erkennen, da die Nachfrage nach Frauen in diesem Beruf sehr gross war und diese in diesen Positionen weniger diskriminiert wurden.

Daraus folgern Demand Wallahs, dass staatliche Investitionen indirekt die Nachfrage nach Bildung vergrössern können durch mehr wirtschaftliche Attraktivität. Da so die Bildung ein konkretes Ziel verfolgt, steigt der Druck auf Lehrpersonen; ein kompetitiver Markt von privaten und öffentlichen Schulen sorgt zudem für eine weitere Verbesserung der schulischen Zustände.

Darf schulische Ausbildung nur eine Investition sein?

Es ist wohl unbestritten, dass der ökonomische Nutzen der Schulbildung eine wichtige Rolle für Eltern spielt, aber es gibt auch viele andere Dinge, welche ebenso in die Entscheidung der Eltern miteinfliessen. So zum Beispiel deren Hoffnungen bezüglich der Zukunft oder deren Erwartungen und Grosszügigkeit gegenüber ihrem Kind.

Hier würden Supply Wallahs aufhorchen und darauf hinweisen, dass genau dies der Grund ist, weshalb man Schulen auch ohne die nötige Nachfrage errichten soll. Man dürfe nicht den Eltern alleine die Entscheidung überlassen, ob ihr Kind nun ausgebildet sein sollte oder nicht. Diese könnten nur schon aus finanziellen Gründen (z.B. Geiz oder auch, weil sie ihre Kinder lieber auf der eigenen Farm arbeiten lassen wollen) ihren Kindern die Schule verunmöglichen. Die Regierung solle deshalb für alle Familien freien Zugang zu Bildung ermöglichen und den Eltern Anreize schaffen.

Es hat sich in verschiedenen Studien herausgestellt, dass das Einkommen der Haushalte eine wichtige Rolle spielt. So hat ein Kind aus einem armen Haushalt im Durchschnitt eine geringere schulische Ausbildung als ein Kind aus einer reicheren Familie. Dies trifft auch dann zu, wenn der langfristige ökonomische Nutzen derselbe ist. Da die Anzahl der Kinder oftmals vom Einkommen abhängig ist, steigen die Ausgaben pro Kind in einer reicheren Familie verhältnismässig zum Gesamtkonsum schneller an. Oder etwas provokanter ausgedrückt: Ein talentiertes Kind aus einer armen Familie hat nicht dieselben Bildungs- und Karrierechancen wie ein weniger talentiertes Kind aus einer reicheren Familie.

Die Schule ist entscheidend

Wie zu Beginn des Textes erwähnt, so hat eine weltweite Studie über die Abwesenheitsrate von Personen im Bildungs- und Gesundheitswesen gezeigt, dass Lehrpersonen in Privatschulen in Entwicklungsländern im Schnitt öfters anwesend sind, als deren KollegInnen in öffentlichen Schulen und die indische Research-Organisation ASER hat herausgefunden, dass knapp 50 Prozent der SchülerInnen an öffentlichen Schulen in der fünften Klasse nicht in der Lage sind, die ihnen vorgelegten Texte zu lesen; im Gegensatz zu 32 Prozent der SchülerInnen aus Privatschulen. Auch in Pakistan zeigen Studien das selbe Bild: So sind Kinder aus Privatschulen in der dritten Klasse den Kindern aus öffentlichen Schulen im Englisch um eineinhalb Jahre voraus. Im Fach Mathematik sogar um zweieinhalb Jahre. Das ist nicht alleine darauf zurückzuführen, dass vor allem reiche Familien ihre Kinder in Privatschulen schicken; zum einen sind die Kosten der Privatschulen dank der grossen Nachfrage stark gesunden; zum anderen ist der Leistungsunterschied zwischen Privat-SchülerInnen und jenen an öffentlichen Schulen fast zehn Mal grösser als der Unterschied zwischen SchülerInnen der reichsten und der tiefsten sozioökonomischen Schicht.

Kinder in Privatschulen lernen mehr, doch auch sie könnten noch effizienter unterrichtet werden. Woran liegt es, dass auch viele Privatschulen den Anforderungen nicht gerecht werden? Der Markt scheint auch hier nicht so zu funktionieren wie er eigentlich sollte. Vielleicht liegt zu wenig kompetitiver Druck auf den Schulen oder die Eltern sind diesbezüglich nicht genügend informiert. Einzigartig ist auf jeden Fall folgender Kernpunkt: Es besteht ein grosser Unterschied bezüglich der Erwartung von Seiten der Gesellschaft an das Bildungssystem und dem tatsächlichen Resultat, welches private und die öffentliche Schulen anbieten.

Die Rolle der Eltern und des Umfeldes

In einer Studie in Madagaskar zeigte sich, dass die Eltern falsche Informationen bezüglich dem abgeschlossenen Bildungsniveau und dem zu erwartenden Einkommen besitzen. Bei einem Abschluss auf Primarschulebene erwarten sie eine Erhöhung von 6 Prozent, für jedes Jahr auf der Sekundarstufe eine Erhöhung von 12 Prozent und für jedes Jahr in der Maturitätsstufe eine Erhöhung von 20 Prozent. In Marokko fand man ähnliche Werte. Banerjee und Duflo konnten aufzeigen, dass sich das zukünftige Einkommen für jedes investierte Jahr mehr oder weniger proportional erhöht. Dies trifft auch auf Menschen zu, welche danach keinem Beruf im formellen Sektor nachgehen. Die Eltern sehen also eine Armutsfalle wo gar keine ist. Diese falsche Ansicht sorgt oftmals dafür, dass sich arme Eltern mit mehreren Kindern auf ihr „hoffnungsvollstes“ Kind fokussieren und das meiste Geld in die bestmögliche Ausbildungsstufe dieses  Kindes investieren, anstatt das Geld auf die Ausbildung aller Kinder zu verteilen und somit deren Grundbildung zu sichern.

In Kolonialzeiten hatten Schulen vor allem den Zweck lokale Eliten auszubilden und die Distanz zwischen diesen und der restlichen Bevölkerung zu erhöhen. Auch heute findet man in vielen Ländern diskriminierende Verhältnisse im Bildungssystem. Kinder aus traditionell benachteiligten Bevölkerungsgruppen (in Indien beispielsweise entsprechend der Kastenzugehörigkeit) erhalten nicht dieselbe Aufmerksamkeit. Mädchen noch viel mehr als Knaben. Daraus resultiert eine doppelten Armutsfalle, da Eltern als auch Lehrer nicht in Kinder investieren, welche nicht alle Erwartungen und Kriterien erfüllen. Diese Haltung hat natürlich auch Auswirkungen auf das Selbstvertrauen des Kindes, welches dadurch extrem geschwächt wird und das schlechte Abschliessen in der Schule auf eigenes Verschulden und nicht dasjenige der Eltern und Lehrpersonen zurückführt.

Der Grund, weshalb private Schulen gegenüber öffentlichen Schulen in Bezug auf die Leistung eines durchschnittlichen Kindes nicht wirklich merklich besser abschneiden, liegt in der Gestaltung des Bildungssystems. Dieses legt den Fokus auf einen kleinen Anteil der SchülerInnen und konzentriert sich auf die Bildung einer Elite, anstatt allen Kindern die bestmögliche Ausbildung anzubieten. Viele talentierte SchülerInnen werden deshalb vernachlässigt und haben keine Chance auf eine vollständige Ausbildung.

Wie bekämpfen wir also diese Missstände?

Erfolgreiche Versuche in verschiedenen Ländern, unter anderem auch den USA, zeigen Mittel, wie gegen diese Probleme vorgegangen werden kann.

  1. Der Fokus sollte vor allem auf der Bildung von Grundkenntnissen liegen und der Verpflichtung gegenüber der Idee, dass jedes Kind diese Kenntnisse erlangen kann, unabhängig von Geschlecht oder ethischer Zugehörigkeit. Charter Schools in den USA oder die Schulprogramme von Pratham in Indien sind auf diesen Prinzipien aufgebaut und weisen einen grossen Erfolg auf in ihrer Umsetzung.
  2. Es ist wichtig Aushilfskräfte auszubilden und in den schulischen Prozess zu integrieren. So haben freiwillige junge Aushilfskräfte (oftmals StudentInnen) im indischen Bundesstaat Bihar zu einer grossen Verbesserung der schulischen Leistung beigetragen, nachdem sie über 7 bis 10 Tagen eine kurze pädagogische Ausbildung absolviert hatten.
  3. In Kenia hat sich herausgestellt, dass die beste Methode für effizientes Lernen in der Unterteilung der Kinder nach ihren Fähigkeiten und Kenntnissen liegt. So können sie ihrem eigenen Tempo folgen und am besten ihr Potential entfalten. Eine andere Möglichkeit läge in der Auflösung der festgefahrenen Klassenstufen. So könnten SchülerInnen jene Fächern, in welchen sie Probleme bekunden, eine Klassenstufe tiefer absolvieren und dennoch in ihrer Hauptklasse bleiben.
  4. Die oben schon erwähnte Studie aus Madagaskar sowie eine aus der Dominikanischen Republik konnten einen signifikanten Zusammenhang zwischen der Haltung der Eltern gegenüber der schulischen Bildung und der Leistung ihrer Kinder erkennen. Die Weitergabe von Informationen über den Nutzen der Schule an Eltern ist die mit Abstand günstigste Möglichkeit die herrschenden Zustände zu verbessern, da dies für die Lehrkräfte mit wenig Aufwand verbunden ist.
  5. Da es in Entwicklungsländern nicht so einfach ist gut ausgebildete und motivierte Lehrkräfte zu finden, bietet der Gebrauch von technologischen Hilfsmitteln eine zusätzliche Möglichkeit den Unterricht ausgewogener zu gestalten. Banerjee und Duflo konnten mit einem entsprechenden Experiment, welches in Indien durchgeführt wurde, eine Verbesserung der schulischen Leistung erkennen.

Eine Vereinfachung des Lehrplans auf den Fokus der Kernkompetenzen, sowie eine Schulbildung, welche die Bedürfnisse und Talente jedes einzelnen Kindes berücksichtigt, würde die Bildungsverhältnisse in den Entwicklungsländern stark verbessern. Das Genie, welches in jedem Kind steckt, kann sich nur dann entfalten, wenn diskriminierende Einschränkungen in der Schule dessen Selbstvertrauen nicht zerstören. Die Schule soll den Kindern dienen und nicht umgekehrt!

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Gesundheit und Krankheit – ein schmaler Grat zwischen Glaube, Prokrastination und Moskitonetzen https://gbs-schweiz.org/blog/ein-schmaler-grat-zwischen-glaube-prokrastination-und-moskitonetzen/ https://gbs-schweiz.org/blog/ein-schmaler-grat-zwischen-glaube-prokrastination-und-moskitonetzen/#respond Tue, 06 Aug 2013 16:10:49 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=4683 Krankheiten sind verantwortlich für viele verschieden Arten von Armutsfallen. So führen gesundheitsschädigende Lebensumstände zu einer höheren Abwesenheitsrate in der Schule und bei der Arbeit, und kranke Mütter haben eine erhöhte Wahrscheinlichkeit, dass ihre Kinder schon krank geboren werden. Diese gesundheitlichen Mechanismen erhöhen die Gefahr andauernder Armut.

Treffen diese Annahmen zu, so können wir mit der nötigen finanziellen Hilfe die Krankheiten bekämpfen und diese Armutsfalle stark minimieren, wie dies zum Beispiel von Jeffrey Sachs propagiert wird. Dies illustriert Sachs gerne anhand von Malaria: Länder in denen ein hoher Anteil der Bevölkerung der Gefahr von Malaria ausgesetzt ist, sind viel ärmer als „gesunde“ Länder. Aufgrund dieser Armut ist es umso schwieriger diese Krankheit zu bekämpfen, weshalb sie weiterhin krank und somit arm bleiben. Investitionen in die öffentliche Gesundheit zur Bekämpfung von Malaria (zum Beispiel durch Verteilung von Malarianetzen) hätten somit zur Folge, dass die Menschen weniger oft krank sein werden und somit mehr und produktiver arbeiten können und zudem die öffentlichen Ausgaben längerfristig mehr als gedeckt wären.

Diese Zusammenhänge scheinen auf den Blick ziemlich logisch, doch stimmen sie schlussendlich auch mit der Empirie überein? SkeptikerInnen weisen darauf hin, dass die Armut dieser Länder nicht unbedingt auf Krankheiten wie Malaria zurückzuführen sind, sondern auf die fehlenden Institutionen, welche diese Probleme nicht bekämpfen können. Solange die Institutionen also schwach und korrupt bleiben, würde die Ausrottung von Malaria nichts zur Armutsbekämpfung beitragen.

Was zeigen die wissenschaftlichen Untersuchungen dazu?

Um diese Fragen zu beantworten, müssen wir die empirischen Untersuchungen analysieren, welche diesbezüglich in einigen Ländern schon durchgeführt wurden. Diese Studien haben dabei Anti-Malaria-Kampagnen untersucht und Regionen des gleichen Landes miteinander verglichen, in welchen Malaria stark beziehungsweise kaum verbreitet ist und dabei den Einfluss auf das zukünftige Einkommen der dort lebenden Kinder analysiert. Alle Studien haben gezeigt, dass Kinder in ehemals stark betroffenen Malariagebieten nach der Kampagne in Bezug auf ihr Einkommen und ihren Bildungsstand zu den anderen Kindern aufschliessen konnten. Dies deutet stark darauf hin, dass die Ausrottung von Malaria tatsächlich zu einer Reduktion von längerfristiger Armut führen kann, auch wenn die Effekte nicht so stark sind, wie von Jeffrey Sachs angenommen wurde. So hat eine Studie über den Süden der USA, dessen Gebiet bis 1951 malariaverseucht war, und verschiedene Länder in Lateinamerika gezeigt, dass ein gesundes Kind als erwachsene Person jedes Jahr über 50 Prozent mehr verdienen wird, als ein malariainfiziertes Kind beziehungsweise eine malariainfizierte erwachsene Person. Qualitativ gleiche Resultate wurden in Indien, Paraguay und Sri Lanka gefunden, wenn auch mit einer gewissen Varietät der Werte.

Nebst Malaria gibt es noch andere Beispiele von Krankheiten, welche mit einfachen Mitteln bekämpft werden könnten. Eine Schätzung von UNICEF weist darauf hin, dass 768 Millionen Menschen keinen Zugang zu aufgebessertem Wasser besitzt. Dabei sterben jedes Jahr über 1,5 Millionen Kinder an den Folgen von Durchfall, welcher vor allem durch Dehydration ausgelöst wird. Man kann davon ausgehen, dass der Zugang zu Leitungswasser und sanitären Einrichtungen einen grossen Einfluss auf die Gesundheit von armen Menschen hat. Diese Verbesserungen haben zwischen 1900 und 1946 dafür gesorgt, dass die Kindersterblichkeit um drei Viertel gesunken ist und die Sterblichkeitsrate aller Menschen um fast die Hälfte reduziert wurde. Zudem beeinflusst die Erkrankung an Durchfall die physische und kognitive Entwicklung von Kindern.

Nebst der Möglichkeit sauberes Leitungswasser zur Verfügung zu stellen, deren Bau doch nicht ganz kostenfrei ist, existieren auch andere effektive Mittel dieses Problem zu bekämpfen, wie zum Beispiel Chlortabletten für die Säuberung von Trinkwasser oder „Oral Rehydration Salts“ (ORS). Chlor wird in vielen Ländern subventioniert zu einem sehr günstigen Preis angeboten und würde das Durchfallrisiko von Kinder um bis zu 48 Prozent verringern. Diese Hilfsmittel werden aber von den betroffenen Menschen nicht genügend oft benutzt.

Der Frage, ob subventionierte medizinische Hilfeleistung von armen Menschen überhaupt in Anspruch genommen wird, gingen Jessica Cohen und Pascaline Dupas nach. Sie konnten in ihrer Studie einen Zusammenhang zwischen der Nachfrage von Moskitonetzen und dem dafür verlangten Preis erkennen. Dabei haben sie in verschiedenen, zufällig ausgewählten Spitälern Moskitonetze zu verschiedenen Preisen, unter anderem auch gratis, angeboten. Fast jede und jeder hat die gratis zur Verfügung stehenden Moskitonetze mitgenommen, während die anderen nicht so häufig gekauft wurden. Der Verkauf von Netzen, welche von PSI (eine weltweit tätige Gesundheitsorganisation) für 0.75$ zum Kauf zur Verfügung standen belief sich auf praktisch null. Sachs Theorie ist diesbezüglich also nicht falsifiziert worden.

Liegt eine weitere mögliche Erklärung darin, dass sich arme Menschen nicht wirklich um ihre Gesundheit kümmern? Die Daten weisen auf das Gegenteil hin. So gibt der Durchschnittshaushalt in Indien bis zu 6 Prozent und derjenige in Pakistan, Panama und Nicaragua bis zu 5 Prozent des monatlichen Einkommens für gesundheitliche Anliegen aus. Zudem kann die Ursache von Stress in vielen Fällen auf eigene gesundheitliche Probleme oder diejenigen von Angehörigen zurückgeführt werden (in Udaipur zum Beispiel bis zu 44 Prozent der Fälle).

Die Frage ist nicht, ob  überhaupt Geld für gesundheitliche Zwecke ausgegeben, sondern wie  dieses investiert wird!

In vielen Entwicklungsländern werden Gesundheitssysteme oftmals gratis angeboten. In Indien hat sich aber gezeigt, dass viele Menschen dieses Angebot gar nicht nützen und öfters private Einrichtungen besuchen. Die armen Menschen in Udaipur scheinen also eher die teureren Heilmethoden vorzuziehen: Heilung anstatt Prävention und der Besuch von privaten Ärzten und Ärztinnen anstatt gratis zur Verfügung stehende öffentliche Krankenschwestern oder Doktoren. Dies würde Sinn machen, sofern die privaten Doktoren und Doktorinnen besser qualifiziert wären, was hingegen nicht der Fall ist. Nur etwas über der Hälfte haben einen medizinischen Universitätsabschluss und zwei Drittel der Hilfskräfte in den privaten Kliniken haben keinen formalen Abschluss in Medizin.

Das Fehlen eines Abschlusses führt nicht zwangsweise zu Inkompetenz, weshalb Jishnu Das und Jeff Hammer (zwei Ökonomen der Weltbank) das Wissen der Ärzte und Ärztinnen mit verschiedenen Tests genauer unter die Lupe genommen haben. Es stellte sich heraus, dass die durchschnittliche Kompetenz der Ärzte und Ärztinnen sehr gering war und sogar die Besten (Top 20 Prozent) davon nur die Hälfte der Fragen richtig beantworteten (die Schlechtesten hingegen nur einen Sechstel). Die unqualifizierten privaten Ärzte und Ärztinnen, welche am ehesten in armen Wohngegenden arbeiten, führten diesen Test dabei mit Abstand am schlechtesten durch, während die qualifizierten privaten Fachkräfte am besten abschlossen. Eine Folge davon ist das Auftreten von vielen Fehlern in der Diagnose sowie eine zu starke medizinische Behandlung, vor allem mit Antibiotika. Daraus resultiert eine grössere Wahrscheinlichkeit von antibiotika-resistenten Bakterien.

Wieso geben die Armen so viel Geld für gesundheitliche Hilfe aus, welche zum einen nicht viel nützt und zum anderen sogar schädlich sein kann und lehnen dabei billige und effektive Hilfe ab?

Ein Grund dafür mag in der ablehnenden Haltung gegenüber dem öffentlichen Gesundheitssystem liegen. Studien haben gezeigt, dass öffentliche Gesundheitszentren (im Gegensatz zu privaten Zentren) während ihren Öffnungszeiten oftmals geschlossen haben und dass die Behandlungsweise weniger freundlich und zuvorkommend ist, als diejenige von privaten Ärzten und Ärztinnen. Dies kann aber nicht der einzige Grund sein, denn Moskitonetze, Chlortabletten und Impfungen werden nicht ausschliesslich von öffentlicher Seite zur Verfügung gestellt. So hat Seva Mandir in Indien einen privaten Impfungsservice angeboten, welcher bei den Haushalten persönlich vorbei geht und die Impfungen vor Ort durchführt. Dennoch war am Schluss nur ein Fünftel der Kinder vollständig geimpft. Die staatliche Hilfe ist also nicht die Hauptursache für diese ablehnende Haltung gegenüber präventiven medizinischen Angeboten.

Könnte es sein, dass die Menschen die Technologien nicht honorieren, gerade weil sie so billig geworden sind? Verschiedene Studien haben herausgefunden, dass subventionierten Preise nicht verkaufsschädigend sind. So werden zum Beispiel in Malawi über 85% der Moskitonetze, welche gratis zur Verfügung stehen auch tatsächlich genutzt. Zudem fand man keinen Unterschied im Gebrauch von teuren oder gratis zur Verfügung gestellten Moskitonetzen.

Ist eine mögliche Ursache die fehlende Bildung über die menschliche Anatomie? Menschliche Entscheidungen werden immer in Bezug auf die vorhandenen Informationen und das vorhandene Wissen gefällt. Ärmere und ungebildetere Menschen in Entwicklungsländern verfügen über kein grosses Wissen in Bezug auf den biologischen Aufbau und Funktionsweise ihres Körpers. Kein Wunder also haben viele von ihnen noch das Gefühl, dass Medikamente, welche direkt in ihr Blut gelangen, am effizientesten sind um Krankheiten zu heilen. Hinzu kommt eine oftmals vorherrschende Inkompetenz und Unprofessionalität vieler Ärzte und Ärztinnen, weshalb die Entscheidungen armer Menschen in Bezug auf ihre Gesundheit nicht einfacher gestaltet und deshalb nicht die besten Lösungen getroffen werden. Auch ein vielfach noch vorherrschender Glaube an Geister und andere unnatürliche Erklärungsmöglichkeiten führt zu einer ineffizienten Wahl der Behandlungsmethoden. So werden oftmals traditionelle Wunderheiler und spirituelle Behandlungen vorgezogen, da die Immunisierungsmethoden in ihrem Glaubenssystem keinen Platz finden.

Wie stark ist diese Glaubenssystem tatsächlich? Gibt es Möglichkeiten, die Menschen durch gewisse Anreize vom Gegenteil zu überzeugen und sich dennoch immunisieren zu lassen? Seva Mandir hat ihren Impfungsservice überarbeitet und eine neue Strategie entwickelt. Dabei versuchte sie die Menschen anzulocken, indem jeweils 2 Pfund Dal (indisches Gericht) für jede Impfung und eine Stahlplatte für den kompletten Abschluss der Impfung verteilt wurde. Wenn das Glaubenssystem somit stärker ist als diese Anreize, dann würde sich die Immunisierungsrate nicht erhöhen. Genau das Gegenteil war der Fall und die Rate erhöhte sich um das siebenfache auf 38 Prozent. Auch bei allen Nachbardörfern erhöhte sich diese Rate. Zudem sind die Kosten für eine Immunisierung gefallen, da sich die Effizienz der Krankenschwester gesteigert hatte, weil diese nun viel mehr zu tun hatte und ständig anwesend waren.

Sollen wir Anreize schaffen oder bei den Überzeugungsversuchen bleiben?

Wäre es nicht besser, wenn wir die Menschen ohne den Gebrauch von Anreizen überzeugen könnten? Es hat sich herausgestellt, dass sich 77 Prozent der armen Menschen in Dörfern, in welchen keine Anreize mit Dal durchgeführt wurden, freiwillig impfen liessen. Das Problem liegt dabei in der vollständigen Immunisierung, welche 5 Impfungen benötigt. Durch die fehlenden Anreize blieb diese Rate extrem tief. Mit dem Anreiz der Stahlplatten erhöhte sie sich immerhin auf 38 Prozent. Aber auch dieser Anreiz führte nicht zu einer kompletten Immunisierung des Dorfes. Psychologische und ökonomische Untersuchungen haben gezeigt, dass Menschen häufig ihre heutigen Vorsätze für die Zukunft nicht einhalten können und diese oftmals aufschieben. Man nennt dieses Phänomen auch Zeitinkonsistenz, welches somit stark mit der Prokrastination, dem Aufschieben von unangenehmen Aufgaben, zusammenhängt. Nur schon kleine Anreize wie die Dal-Gerichte können somit verhindern, dass die Impfung über längere Zeit hinausgezögert wird. Die Hauptaufgabe liegt also darin, die effektivsten Anreizmöglichkeiten für die Verbesserung der Gesundheit von armen Menschen zu finden.

Zeitinkonsistenz alleine reicht aber nicht aus, um die extrem tiefe Immunisierungsrate zu erklären. Wenn die Eltern nämlich wirklich überzeugt wären, dass ihr Kind durch die Impfung ein viel gesünderes Leben führen wird, würden sie dieses bestimmt irgendwann immunisieren lassen. So ist nebst der Prokrastination wohl auch ein Teil auf das Unterschätzen der Vorteile von diesen Behandlungsmethoden zurückzuführen. Gerade mit Anreizen können diese Vorteile jedoch schmackhafter gemacht werden und besitzen zudem einen langfristigen Überzeugungseffekt, da die Auswirkungen der Behandlungen auf die Gesundheit bald ersichtlich sein werden.

Arme Menschen unterscheiden sich in ihrer gesundheitlichen Entscheidungsfindung nicht von reichen Menschen

Es zeigt sich schlussendlich, dass arme Menschen sich in Bezug auf ihre gesundheitlichen Entscheidungen nicht merklich von uns unterscheiden. Auch uns fehlt es an Informationen, wir haben teils schwache Überzeugungen und schieben unangenehme Aufgaben vor uns her. Arme Menschen besitzen vielleicht ein geringeres biologisches Wissen über den menschlichen Körper, aber schlussendlich ist dieser Unterschied nicht ausschlaggebend, da auch wir wenig über medizinische Kenntnisse verfügen und oftmals den Ärzten und Ärztinnen blind vertrauen.  Der eigentliche Unterschied besteht darin, dass wir unser Wasser nicht jeden Tag selber reinigen müssen, unsere Kinder standardmässig geimpft werden, unser Gesundheitssystem effizienter institutionalisiert ist und unsere medizinischen Fachkräfte besser ausgebildet sind und jederzeit zur Verfügung stehen.

Wir sollten akzeptieren, dass niemand über genug Wissen verfügt und geduldig genug ist, um jederzeit die beste Entscheidung bezüglich seiner oder ihrer Gesundheit zu treffen. Einfacher, freier Zugang zu präventiven Behandlungsmethoden und eine qualitative Verbesserung der Betreuung sollten also das wichtigste gesundheitspolitische Ziel in den Entwicklungsländern sein. Wie sich gezeigt hat reagieren arme Menschen diesbezüglich sehr sensibel auf Preisveränderungen. Es ist deshalb wichtig, dass die Massnahmen gratis zur Verfügung und, wenn möglich, mit Anreizen zur Verfügung gestellt werden. Ein Chlorspender neben Wasserquellen, Belohnungen für die Impfung ihrer Kinder, Entwurmungsmedikamente und nährstoffreiche Supplemente sowie öffentliche Investitionen in sanitäre Infrastrukturen sind effiziente Methoden der Gesundheitsverbesserung armer Menschen, welche das Potenzial inne haben, deren Armut zu minimieren.

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„Bananen und Eier“ oder „Süssigkeiten und Fleisch“? – Die Lebensmittel(q)wahl armer Menschen https://gbs-schweiz.org/blog/die-lebensmittelqwahl-armer-menschen/ https://gbs-schweiz.org/blog/die-lebensmittelqwahl-armer-menschen/#respond Sat, 03 Aug 2013 10:05:44 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=4626 Die Millennium Goals der UN definieren als erstes Ziel die Reduktion von Armut und Hunger. Die Verbindung und Gleichsetzung von Armut und Hunger entspricht der Sichtweise des sogenannten Westens: Arm sind Menschen in erster Linie dann, wenn ihr Haushaltseinkommen nicht ausreicht, um genügend Kalorien pro Tag zu sich nehmen zu können. So legt auch ein Grossteil der Regierungen ihr Hauptaugenmerk auf die quantitative Bereitstellung von Nahrung.

Obwohl ein hoher Anteil der Nahrung bei der Lieferung verdirbt oder von Ratten gegessen wird – in Indien geht so die Hälfte des Weizens und ein Drittel des Reises „verloren“ –, geht man weiterhin von der Annahme aus, dass dies der effektivste Weg ist, um Poverty Traps zu bekämpfen. Folgender Gedanke scheint auf den ersten Blick ziemlich einleuchtend: Da sich sehr arme Menschen nicht genügend Essen leisten können, sind sie unproduktiver und können sich nicht aus eigenem Antrieb aus ihrer Armutsfalle befreien.
 Eine solche Annahme geht davon aus, dass arme Menschen die maximale Anzahl an Kalorien zu sich nehmen, die sie sich leisten können. Wenn dem so wäre, würden sie durch eine bessere Bereitstellung von Nahrungsmitteln mehr essen, wären produktiver und würden einer effizienteren Arbeit nachgehen. Banerjee und Duflo sahen diese Hypothese in der Realität jedoch oft nicht bestätigt. Die meisten Menschen, welche mit weniger als 99 Cent am Tag auskommen mussten, zeigten nicht das von Hungernden erwartete Verhalten. Bei der Betrachtung von 18 Ländern hat sich herausgestellt, dass der Anteil des Nahrungsmittelkonsums an den Gesamtausgaben von extrem armen Menschen 45 bis 77 Prozent in ländlichen, beziehungsweise 52 bis 74 Prozent in städtischen Gebieten beträgt. Das ist erstaunlich wenig.

Das Kriterium der Maximierung von Kalorien oder  Mikronährstoffen scheint nicht entscheidend zu sein; nur rund die Hälfte der neu zur Verfügung stehenden Mittel werden für  Nahrungsmittel mit einer höheren Kaloriendosis ausgegeben, der Rest wird für den Kauf von schmackhafteren und teureren Nahrungsmitteln mit derselben Anzahl an Kalorien verwendet. So haben Robert Jensen und Nolan Miller in zwei Regionen Chinas die Grundnahrung subventioniert und dabei festgestellt, dass arme Haushalte durch die vergrösserte Kaufkraft weniger von den subventionierten Produkten konsumierten, dafür umso mehr Crevetten und Fleisch. In einer anderen Untersuchung haben Angus Deaton und Jean Dreze dasselbe Phänomen bei etwas reicheren Haushalten vorgefunden. Zudem hat sich die Anzahl an Menschen in Indien, welche Unterernährung angeben, zwischen 1983 und 2004 von 17 auf 2 Prozent merklich verkleinert.

Zumindest in Bezug auf das Nahrungsmittelangebot produzieren alle Länder zusammen genug Lebensmittel, um allen Menschen die notwendige Kalorienanzahl zur Verfügung zu stellen. Die Tatsache, dass auch heute noch Menschen trotzdem verhungern, liegt vor allem daran, dass die Verteilung noch nicht effizient genug (geschweige denn gerecht) ist und die westlichen Industrienationen übermässig viel konsumieren und verschwenden.

Banerjee und Duflo haben zu diesem Zweck die Philippinen untersucht und anhand der dortigen Preise die Kosten für die günstigste Ernährung ausgerechnet, welche 2400 Kalorien pro Tag entspricht. Die Ausgaben belaufen sich auf 21 Cent, was auch für eine alleinstehende Person mit nur 99 Cent Einkommen pro Tag gut bezahlbar wäre. Die Nahrung würde sich dabei aus Bananen und Eiern zusammensetzen. Wenn diese Menschen also bereit wären, auf den Konsum von schmackhafteren Lebensmitteln zu verzichten, wären sie in der Lage ihre Ernährung zu sichern.

Unterernährung beginnt  nicht erst in der Kindheit, sondern im Bauch der Mutter

Es ist eine Tatsache, dass die ärmsten Menschen in Indien kleiner sind als der durchschnittliche, im Westen lebende Mensch und dementsprechend weniger Kalorien verbrauchen. Während genetische Eigenschaften in Bezug auf Grösse und Schlankheit auf individueller Ebene eine wichtige Rolle spielen, sind sie auf gesellschaftlicher Ebene wenig relevant. Betrachtet man Kinder aus einer Familie, die vor zwei oder drei Generationen in den Westen immigrierten, so sind diesbezüglich keine Unterschiede vorzufinden. Es scheint deshalb naheliegend, dass beispielsweise indische Menschen deshalb klein sind, weil sie und deren Eltern während der Wachstumszeit nicht genügend Nahrung  und damit zu wenig essentielle Nährstoffe zu sich genommen haben. Im Durchschnitt sind Erwachsene, welche während ihrer Kindheit gut ernährt wurden, grösser und intelligenter und verdienen deshalb auch besser als diejenigen, die unter einer schlechten Ernährung zu leiden hatten. Natürlich gibt es viele kleine Menschen, welche sehr intelligent sind – grössere Menschen haben jedoch mit einer grösseren Wahrscheinlichkeit ihr genetisches Potential erreicht.

Diese Hypothese wird durch eine Untersuchung in Kenia unterstützt: Kindern, denen man während ihrer Schulzeit zwei Jahre lang Entwurmungstabletten zur Verfügung gestellt hat, gingen länger in die Schule und verdienten als junge Erwachsene 20 Prozent mehr als jene Kinder, welche in vergleichbaren Schulen nur über ein Jahr die selben Tabletten einnahmen. Weitere Studien auf diesem Gebiet haben gezeigt, dass unterernährte Kinder mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit kleiner sind, einen tieferen Ausbildungsgrad erreichen und selbst kleinere Kinder zur Welt bringen.

In Tansania wurden mit Hilfe eines Regierungsprogramms Jod-Kapseln an schwangere Mütter verteilt. Die Kinder dieser Mütter gingen zwischen einem Drittel und einem halben Jahr länger zur Schule als Kinder, deren Mütter diese Kapseln nicht erhalten hatten. In einem Land, in welchem die meisten Kinder nur vier bis fünf Jahre in die Schule gehen bedeutet dies eine Verkürzung der Schulzeit auf gut drei Jahre. Stellt man jeder Mutter diese Kapseln zur Verfügung, würden die schulischen Anwesenheiten der Kinder in Zentral- und Südafrika voraussichtlich um 7,5 Prozent steigen. Dies wiederum würde deren Produktivität in ihrem späteren Leben erhöhen.

Doch mit einer erhöhten Kaloriendosis ist es nicht getan, viel wichtiger ist die Bereitstellung und Aufnahme von wichtigen, oftmals fehlenden Nährstoffen. Ein wichtiger Nährstoff ist Eisen, welches Anämie vorbeugen kann. Die Supplementierung von Eisen ist keine teure Angelegenheit und könnte mit der notwendigen Aufklärung zu einer enormen Verbesserung der Gesundheit von vielen Menschen beitragen. Hunger an sich ist nicht zwangsweise die Todesursache vieler armer Menschen. Viel bedeutender ist die fehlende Nährstoffaufnahme in der Kindheit, die zu einem abgeschwächten Immunsystem und folglich zu einer erhöhten Krankheitsgefahr führt.

Viele arme Menschen sind sich des Nutzens einer nährstoffreichen Ernährung  gar nicht bewusst. Bis vor einiger Zeit war dieser auch unter WissenschaftlerInnen nicht anerkannt.
 
Abgesehen von fehlenden Informationen gibt es aber auch kulturelle und gesellschaftliche Gründe für eine fehlgerichtete Aufteilung des Haushaltsgeldes. So ist es weithin dokumentiert, dass arme Menschen in Entwicklungsländern einen nicht unbedeutenden Teil ihres Einkommens für Hochzeiten, Mitgiften, Taufen, Beerdigungen und andere Feste ausgeben. In Südafrika kostet eine Beerdigung zum Beispiel circa 40 Prozent des Jahreseinkommens eines Haushaltes. Auch Dinge wie ein Fernseher oder ein DVD-Spieler scheinen für viele arme Menschen manchmal wichtiger zu sein als eine gesunde Ernährung.

Auf quantitativer Ebene scheint es also keine auf Ernährung basierende Armutsfalle zu geben. Es lässt sich aber ein Zusammenhang finden zwischen dem Einkommen der Eltern und dem zukünftigen Einkommen deren Kinder. Der Grund dafür ist die schlechte Nährstoffbereitstellung während der Kindheit, wodurch sie später in ihren kognitiven und physischen Eigenschaften eingeschränkt sind und weniger verdienen. Es ist deshalb ausgesprochen wichtig, dass direkt in Kinder und schwangere Mütter investiert wird, indem man ihnen mit Nährstoffen angereicherte Nahrungsmittel zur Verfügung stellt; Kinder im Vorschul- und Schulalter entwurmen lässt oder indem man den Eltern Anreize gibt nährstoffreiche Supplemente zu kaufen.

In einigen Ländern werden diese Ideen schon umgesetzt. So ist die Regierung von Kenia daran so viele Kinder wie möglich in den Schulen zu entwurmen; in Kolumbien werden Tagesmahlzeiten von Vorschulkindern mit wichtigen Nährstoffen angereichert und in Mexiko werden Supplemente kostenfrei an Familien abgegeben. Mit Hilfe von Organisationen wie Micronutrient Initative und HarvestPlus, welche beispielsweise eine Auswahl an Süsskartoffeln, welche reich an Betakarotin sind, in Uganda und Mosambik eingeführt haben, können solche Ideen weiterverbreiten werden. Zudem wird in verschiedenen Ländern ein neues Salz erprobt, welches mit Eisen und Jod angereichert ist.

André Acosta und Jessica Fanzo konnten in ihrer Studie aufzeigen, dass ökonomisches Wachstum alleine das Hungerproblem nicht lösen kann. Damit für die Ernährungssicherheit in den entsprechenden Ländern gesorgt ist, braucht es verschiedene Interventionsmöglichkeiten wie zum Beispiel eine Verbesserung des Zugangs zu notwendigen Nährstoffen, ebenso wie eine vereinfachtere Nutzweise (z.B. in Tablettenform) und auch ein verstärktes politisches Engagement diese Probleme anzupacken. Die Länder müssen sich dabei vor allem auf die gefährdetsten Bevölkerungsgruppen konzentrieren und diese mit einer gleichberechtigten, menschenrechtskonformen Herangehensweise behandeln und ihnen die nötigen Hilfeleistungen zur Verfügung stellen.Wir sollten in Hilfsorganisationen und Politikmassnahmen investieren, welche auch tatsächlich am entscheidenden Punkt ansetzen: Bei (werdenden) Müttern und Kindern.

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Eine Welt ohne Armut – Utopie oder Möglichkeit? https://gbs-schweiz.org/blog/welt-armut-utopie-moglichkeit/ https://gbs-schweiz.org/blog/welt-armut-utopie-moglichkeit/#respond Wed, 31 Jul 2013 08:00:02 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=4514

Bei jeder dritten Geburt in Subsahara-Afrika stirbt die gebärende Mutter.

Jedes Jahr sterben 9 Millionen Kinder vor ihrem fünften Geburtstag.

In fünfundzwanzig Ländern liegt die Lebenserwartung eines Menschen unter fünfundfünfzig Jahren.

Wir alle haben Informationen wie diese schon zigmal in irgendeinem Zusammenhang gehört. Uns allen sind diese Statistiken bekannt und wir wissen, dass an gewissen Orten auf der Welt solche Zustände anzutreffen sind. Dennoch schrecken wir nicht zusammen, wenn wir damit konfrontiert werden. Niemand zückt sogleich freien Herzens die Brieftasche und spendet Geld an eine oder mehrere Hilfsorganisationen. Zugegeben, nicht gerade niemand, aber zumindest nicht viele, geschweige denn genug Menschen.
Für dieses Verhalten gibt es diverse Erklärungen. Die folgende ist sicherlich die populärste von allen: Wir glauben, dass eine Spende nur ein sogenannter Tropfen auf den heissen Stein ist und dieser oftmals schon vor dem Auftritt vaporisiert wird.

Hier soll aufgezeigt werden, dass der Kampf gegen die Armut  nicht eine unlösbare Herausforderung darstellt. Denn durch das genaue Verständnis und die Identifikation der konkreten Charakteristika ist eine Lösung des Armutsproblems möglich. Die Betrachtung der empirischen Erhebungen der letzten zwanzig Jahre lässt diesbezüglich durchaus Zuversicht zu. So ist die Anzahl an Menschen, welche in Entwicklungsländern in extremer Armut leben mussten – sprich mit maximal 1$ pro Tag – zwischen 1990 und 2010 von 43 auf 21 Prozent gesunken und auch die globale Armutsrate hat sich innerhalb dieser zwei Jahrzehnte halbiert.

Doch auch wenn die letzten Zahlen ein positives Bild hinterlassen, so leiden jeden Tag noch immer Millionen von Menschen unter den Folgen von Armut und es ist noch ein langer Weg hin zu einer Welt, in der so wenig Menschen wie möglich um ihr Überleben kämpfen müssen.
Eine Möglichkeit diesen Prozess effizient voranzutreiben ist die Änderung der wissenschaftlichen Herangehensweise an dieses Thema. Auch heute streiten sich die meisten ExpertInnen über „grosse“ Fragen wie

  • Was sind die Ursachen von Armut?
  • Ist Demokratie ein geeignetes Mittel zur Armutsbekämpfung?
  • Inwieweit müssen wir ausländische Hilfe miteinbeziehen?

Viel zielführender wäre es jedoch interventionsbezogene Fragen zu stellen wie beispielsweise

  • Wie bekämpft man Malaria oder Dengue-Fieber am besten?

Auf der einen Seite steht Jeffrey Sachs, US-Ökonom und seit 2002 Sonderberater für die Millennium Goals, welcher auf all diese Fragen eine abschliessende Antwort hat: Arme Länder sind deshalb arm, weil sie in heissen, unfruchtbaren, malariainfizierten, landumschlossenen Gebieten liegen und sich somit in einer Poverty Trap befinden, aus deren Fängen sie sich ohne (finanzielle) Hilfe nicht eigenständig befreien können. Ohne ausländische Hilfe, ohne einen Kick-Start kann weder Demokratie noch ein freier Markt viel für die Verbesserung dieser Länder tun. Sofern aber die reichen Länder jährlich 200 Milliarden in Entwicklungshilfe investierten, könnte die Armut zwischen 2005 und 2025 vollständig eliminiert werden.

Auf der anderen Seite – genau so lautstark wie Sachs – gibt es  die Advokaten der Anti-Aid-Bewegung, zu denen William Easterly gehört. Ihrer Meinung nach wird Entwicklungshilfe zu längerfristig schlechteren Konsequenzen führen, da sie verhindert, dass die betroffenen Menschen nach eigenen Lösungen suchen. Ausserdem führt sie zu vermehrter Korruption in den lokalen Institutionen. Die effizienteste Lösung bestehe darin den Menschen freien Zugang zu Märkten zu gewähren und durch die richtigen Anreize Selbsthilfe zu unterstützen. Nach Easterly gibt es folglich keine Poverty Traps.

Wem sollen wir nun glauben? Um darauf eine Antwort zu finden, brauchen wir empirische Daten. Doch jene Daten, welche heutzutage für die Beantwortung dieser Frage herangezogen werden, ergeben je nach Land und Region ein anderes Resultat.
Wenn es also tatsächlich keine allgemein gültigen Beweise für oder gegen den Nutzen von Entwicklungshilfe gibt, sollen wir uns gleichwohl der Thematik Weltarmut widmen?

In ihrem Buch „Poor Economics – a Radical Rethinking of the Way to Fight Global Poverty“ zeigen Abhijit Vinayak Banerjee und Esther Duflo Beispiele von Hilfeleistungen auf, die zu guten oder schlechten Konsequenzen führten. Die „grossen“ Fragen klammern sie dabei vollkommen aus. Denn es ist nicht klar, inwiefern deren Beantwortung bei der Bekämpfung globaler Armut überhaupt eine Rolle spielt. Die Frage beispielsweise, ob ausländische Hilfe überhaupt nützlich ist, ist gar nicht ausschlaggebend, da diese nur einem sehr kleinen Anteil der finanziellen Ausgaben zugunsten armer Menschen entsprechen.

Es ist nicht wichtig woher das Geld kommt, sondern wohin es geht!

Ein Beispiel: Für ungefähr 10$ ermöglichen Sie es, dass ein Malaria-Netz einer Familie abgegeben und dessen Verwendung erklärt wird. Doch zu welchem Preis sollten Regierungen oder NGOs den Familien diese Netze nun verkaufen? Die Antwort auf diese Frage ist nicht immer klar ersichtlich. Licht ins Dunkel liefert hier die Beantwortung der folgenden drei Unterfragen:

  1. Würden die Menschen Netze kaufen, wenn sie den vollen Preis (oder zumindest einen beachtlichen Anteil davon) bezahlen müssten?
  2. Benutzen die Menschen die Netze sachgemäss, wenn diese gratis oder zu einem subventionierten Preis angeboten werden?
  3. Würden die Menschen in Zukunft weiterhin Netze kaufen wollen, wenn diese kostenfrei oder subventioniert angebotenen Netze künftig teurer würden?

Um diese Fragen überhaupt beantworten zu können, brauchen wir Vergleichsgruppen, welchen verschiedenen Subventionierungsgrössen zugewiesen wurden, um allfällige Unterschiede aufzudecken. Dabei ist es wichtig, dass für diese empirische Untersuchung die Individuen zufällig zugeteilt werden und keinen bestimmten Kriterien unterliegen (wie beispielsweise die Höhe des Einkommens, das Alter u. a.). Ein solches Studiendesign nennt sich RCT; Randomized Controlled Trial.

Das so gesammelte neue Wissen würde der aktuellen Debatte mehr Substanz geben und uns in der Ausgestaltung der besten politischen Strategie unterstützen. Ein wichtiger Bestandteil einer datengestützten Ausrichtung von Spendengeldern liefert Giving What We Can (GWWC), ein internationaler Verein, der sich zum Ziel gesetzt hat, die Weltarmut zu bekämpfen. Neben aufklärerischer Arbeit im Bereich der Spenden evaluiert GWWC Hilfsorganisationen und gibt Empfehlungen ab. Auf Platz 1 befindet sich derzeit die Against Malaria Foundation (AMF). Die Stiftung AMF sammelt Geld für Malaria-Netze, deren Verteilung und Nutzung und überprüft selbst deren Anwendung und Reichweite.

Der Weg in eine Welt ohne Armut mag ein weiter sein, doch mit der richtigen Methodik ist er schnell zurück gelegt. Die folgende Serie basiert auf dem Buch „Poor Economics“ von Abhijit Vinayak Banerjee und Duflo Ester und soll mit falschen Problemstellungen aufräumen und Lösungsansätze präsentieren.

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Bedingungsloses Grundeinkommen: Eine Idee jenseits von Markt- und Staatsgläubigkeit? https://gbs-schweiz.org/blog/bedingungsloses-grundeinkommen-eine-idee-jenseits-von-markt-und-staatsglaubigkeit/ Sat, 09 Mar 2013 11:55:09 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=1561 Was macht unsere Gesellschaft gerechter? Und was macht sie glücklicher? Besteht ein Zusammenhang zwischen Gerechtigkeit und Glück? In gewisser Hinsicht ist dies der Fall: Eine Gesellschaft gerechter zu gestalten, bedeutet unter anderem, dass die Grundbedürfnisse der ihr zugehörigen Menschen abgesichert sind, wodurch viele Ängste genommen werden und das Leben somit erträglicher und glücklicher gestaltet wird. Eine gerechtere Gesellschaft beinhaltet zudem die Beseitigung von offenkundig unfairen Privilegien. Dies würde die Missgunst, die Empörung und den Ärger derjenigen mildern, welche von diesen Privilegien nicht profitieren oder an diesen nicht teilhaben können.

Dennoch gibt es keine Garantie dafür, dass die gerechteste Gesellschaft auch die glücklichste sein wird. Dies liegt darin begründet, dass das Unglücklichsein wesentlich durch den Unterschied zwischen dem, was man hat, und dem, was man will, bestimmt wird. Währenddessen wird Ungerechtigkeit durch die Diskrepanz zwischen dem, was man hat, und dem, was einem zusteht, festgelegt. Es gibt aber keinen Grund, zu erwarten, dass Wollen und legitimes Beanspruchen in der gerechtesten Gesellschaft perfekt deckungsgleich sein werden. Daher ist es theoretisch möglich, dass eine Minimierung von Ungerechtigkeit zu einem Anstieg an unglücklichen Menschen führen wird.

Ist das Streben nach einer gerechteren Gesellschaft also gar nicht so zentral, wie es auf den ersten Blick scheint? Dem ist natürlich nicht so. Auch wenn letztlich jeder Mensch für sein eigenes Glück verantwortlich ist, so gilt Gerechtigkeit dennoch als ein wichtiger Faktor für eine glückliche Gesellschaft.

Der dritte Weg – jenseits von Markt- bzw. Staatsgläubigkeit

Worum nun handelt es sich bei der Idee des bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) überhaupt? Das bedingungslose Grundeinkommen stellt einen Geldbetrag dar, der ohne Bedingungen an alle Mitglieder einer Gesellschaft individuell und ohne Bedürftigkeitsnachweis oder Arbeitserfordernis ausbezahlt wird. In der aktuellen Diskussion liegt dieser Betrag ungefähr auf Höhe des existenzsichernden Minimums, wobei verschiedene Finanzierungsmöglichkeiten thematisiert werden.

Der Ökonom Peter Ulrich ist emeritierter Professor für Wirtschaftsethik. 1989 gründete er an der Universität St. Gallen das Institut für Wirtschaftsethik, das er bis 2009 leitete und wesentlich prägte. Er ist Begründer der „Integrativen Wirtschaftsethik“, die ökonomische Sachlogik und Ethik zu verbinden sucht. Für ihn geht das bedingungslose Grundeinkommen Hand in Hand mit der Leitidee des republikanischen Liberalismus; der Vorstellung also, dass die Gesellschaft von real freien Bürgern gestaltet und bestimmt wird. Mit dem BGE wäre es möglich, einen dritten Weg – jenseits von Markt- bzw. Staatsgläubigkeiteinzuschlagen. Einen Weg, so die Idee, der realen Freiheit und Selbstbestimmung.

Der republikanische Liberalismus ist nicht mit dem ökonomischen Liberalismus gleichzusetzen, da letzterer für Ulrich nicht den Ansprüchen einer liberalen Gesellschaft entsprechen kann. In einem „freien“ Markt entscheiden die Individuen hauptsächlich nach ökonomischen und eigennutzenbasierten Gesichtspunkten. Dies entspricht nicht den moralischen Standpunkten, wonach die Interessen aller betroffenen Menschen in jeder Situation miteinbezogen und abgewogen werden sollten – und nicht nur dann, wenn man selbst auch davon profitiert. Eine wichtige Voraussetzung, dass der Mensch diesen Prinzipien auch nachkommt, ist die Ausgestaltung der Gesellschaftsform: Je gleichberechtigter und freier sich der Bürger und die Bürgerin fühlt, desto grösser ist die Wahrscheinlichkeit, dass sich die Menschen als Individuen mit eigenständig wertvollen Präferenzen und Absichten betrachten.

Die Parteilichkeit des Marktes und die Schwächen des Sozialstaates

Dem Markt ist eine strukturelle Parteilichkeit inhärent, zumal die Besitzer von Finanz-, Sach- und Humankapital eine stärkere Position einnehmen. Für Ulrich steht somit nicht die Wohlfahrt im Vordergrund, sondern die Schaffung von gleichen Rechten und Pflichten aller BürgerInnen.

Nach Ulrich sind Gesellschaft und Wirtschaft voneinander zu trennen, denn: „Mit puren Eigennutzmaximierenden lässt sich vielleicht ein legalistischer „Leviathan“, aber keine einigermassen gerechte und solidarische Gesellschaft aufbauen, in der alle bedingungslos real frei sind“ (Ulrich 2007: 2).

Die bisherigen Versuche des heutigen Sozialstaates, die Schwächen des Marktes zu verbessern und umzuverteilen, haben negative Begleiterscheinungen erkennen lassen und stellen zudem blosse Symptombekämpfung dar. So werden in der repressiven Variante des „aktivierenden Sozialstaates“ die EmpfängerInnen von Sozialleistungen gezwungen, innerhalb einer gewissen Zeitspanne wieder eine Arbeit zu finden, sofern sie nicht aus gesundheitlichen Gründen nicht arbeiten können. Falls dies nicht geschieht, werden die Leistungen gekürzt und die Forderungen verschärft. Doch nicht nur über die administrative Form wird ein Zwang ausgeübt, auch durch soziale Sanktionen und Diskreditierung geraten die Menschen in eine Abwärtsspirale und letztlich in die Arbeitslosigkeitsfalle. Dies steht im starken Gegensatz zur Idee einer freien Bürgergesellschaft und des bedingungslosen Grundeinkommens.

Emanzipatorische Wirtschaftsbürgerrechte und Ordnungspolitik

Eine mögliche Ursachenbekämpfung bestünde darin, dass jedem Bürger und jeder Bürgerin die gleiche Chance auf „eine selbstbestimmte Lebensführung und Existenzsicherung gewährleistet wird – in Form emanzipatorischer Wirtschaftsbürgerrechte. Auf eine programmatische Kurzformel gebracht geht es um mehr emanzipatorische Gesellschaftspolitik als Voraussetzung für weniger kompensatorische Sozialpolitik – in Absicht auf die grösstmöglichereale Freiheit aller Bürgerinnen und Bürger“ (Ulrich 2010: 6). Das BGE kann in diesem Sinne mit der emanzipatorischen Variante des aktivierenden Sozialstaates verglichen werden, welcher die Hindernisse (u.a. fehlende Qualifikationen und soziale Isolation) zu beseitigen versucht, welche Arbeitssuchende daran hindern, wieder in den Arbeitsmarkt einzutreten. So dient es als starkes Instrument im Kampf gegen die „Exklusionsfalle“.

Wie lassen sich eine leistungsfähige Marktwirtschaft und eine gerechte und freie Gesellschaft kombinieren? Ulrichs Antwort ist ziemlich einfach: Man muss sich die Ordnungspolitik als zweistufiges Modell denken. Zum einen umfasst sie die Wettbewerbspolitik, welche die „Durchsetzung offener Märkte“ und einen „effizienten Einsatz der Marktkräfte“ beinhaltet, und zum anderen die Ebene der Vitalpolitik, die „alle Faktoren in Betracht zieht, von denen in Wirklichkeit Glück, Wohlbefinden und Zufriedenheit des Menschen abhängen“ (Rüstow, zit. in: Ulrich 2007: 4). Dabei steht die Ebene der Vitalpolitik über derjenigen der Wettbewerbspolitik, da die marktwirtschaftliche Effizienz nicht zu einem Selbstzweck verkommen darf, sondern immer im Interesse aller WirtschaftsbürgerInnen genutzt werden soll. Die Effizienz dient der Sinnorientierung des Menschen – nicht umgekehrt. Nicht der Markt, sondern der Mensch weiss, was für ihn schlussendlich am besten ist. Dazu wird eine möglichst effiziente Wirtschaft gehören, aber weder als Selbstzweck noch als absolutes instrumentelles Mass.

Wird nun niemand mehr arbeiten wollen?

Es stellt sich im BGE-Zusammenhang immer auch die Frage nach den wahrscheinlichen Verhaltensreaktionen der Menschen, die zu erwarten sind, wenn sie ein existenzsicherndes Einkommen erhalten, ohne dafür arbeiten zu müssen. Darüber kann keine klare Aussage getroffen werden, aber es gibt Untersuchungen, welche zeigen, dass Menschen das Bedürfnis haben, sich gesellschaftlich einzubringen und in der Arbeit (ob bezahlt oder unbezahlt) auch einen Sinn erkennen. Letzteres ist wohl auch davon abhängig, wie stark das Mass an Freiwilligkeit ist: Je freier die Arbeitswahl, desto stärker die empfundene Sinnhaftigkeit und die Freude an der entsprechenden Arbeit. In Deutschland zum Beispiel engagieren sich bereits heute über 30 Prozent der Bevölkerung regelmässig mehr als 15 Wochenstunden ehrenamtlich.

Zudem besteht auch mit dem BGE weiterhin ein materieller Anreiz zur Erwerbsarbeites ist ja nicht so, dass man mit dem Betrag des Grundeinkommens über genug Geld verfügt, um in die Ferien fahren oder sich regelmässig ein 6-Gang-Menü im Gourmet-Restaurant leisten zu können.

Leistungsgerechtigkeit und bedingungsloses Grundeinkommen

„Gralshüter der Leistungsgerechtigkeit wenden gegen das bedingungslose Grundeinkommen gern ein, dass man sich eine solche Unterstützung erst einmal durch Leistung verdienen muss. Doch mit welcher Leistung nützt man tatsächlich der Gesellschaft? Und wie viel Geld ist welche Leistung wert? Wer Geld durch Abholzen des Regenwaldes verdient, gilt heute als erfolgreicher Geschäftsmann, obwohl er grossen Schaden an unser aller Lebensgrundlage anrichtet. […] Ist das gerecht? Welche Instanz soll entscheiden, welche Leistung der Gesellschaft nützt und wie viel Geld sie wert ist? Welche Instanz soll entscheiden, welche Lebensentwürfe es wert sind, unterstützt zu werden? Doch wohl zuallererst jeder Mensch für sich selbst! Freiheit in der Wahl des eigenen Lebensentwurfes und das Recht auf Selbstbestimmung eines jeden Menschen bedürfen aber natürlich einer materiellen Basis. Wir sollten deswegen Gerechtigkeit nicht im Sinne von Leistungsgerechtigkeit interpretieren, sondern für soziale Gerechtigkeit im Sinne von Teilhabegerechtigkeit und Teilhabegarantie streiten. Gerecht ist, wenn allen Menschen ein Leben jenseits der Armut und Teilhabe an der Gesellschaft möglich ist. […] Eine Schlussfolgerung aus dieser Herangehensweise ist die Befürwortung des bedingungslosen Grundeinkommens“ (Katja Kipping 2007: 14).

Quellen:

Drescher, Jörg (Hrsg.) (2007): Die Idee eines Emanzipatorischen Bedingungslosen Grundeinkommens.

Ulrich, Peter (2010): Republikanischer Liberalismus: Zum Verhältnis von Wirtschaft und Gesellschaft. In: Merkur – Deutsche Zeitschrift für europäisches Denken 64 (2010), Nr 728, S. 68-73. Stuttgart: Klett-Cotta Verlag.

Ulrich, Peter (2007): Das bedingungslose Grundeinkommen – ein Wirtschaftsbürgerrecht? In: http://www.archiv-grundeinkommen.de/ulrich/20071007-PUlrich-Basel.pd f, 2007. – Referat am 2. deutschsprachigen Grundeinkommenskongress. Basel.

Vanderborght, Yannick & Van Parijs, Philippe (2010): Das bedingungslose Grundeinkommen. Ein Blick auf seine politische Realisierbarkeit. In: Bedingungsloses Grundeinkommen als Antwort auf die Krise der Arbeitsgesellschaft (2010): 329-359.

Van Parijs, Philippe (2010): A Good Life. In: The World Book of Happiness: 302-305. Auflage 3, DuMont Buchverlag

Artikelbild: Martin Benhöfer  / pixelio.de

Serie: Bedingungsloses Grundeinkommen

  1. Das stärkste Argument für das Bedingungslose Grundeinkommen
  2. Eine gesellschaftspolitische und ökonomische Idee jenseits von Markt- bzw. Staatsgläubigkeit?
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