Lukas Gloor – GBS Schweiz https://gbs-schweiz.org Aufklärung im 21. Jahrhundert Wed, 03 Jun 2015 12:29:43 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.6.1 REG: Mit Poker die Welt verbessern https://gbs-schweiz.org/blog/reg-mit-poker-die-welt-verbessern-2/ https://gbs-schweiz.org/blog/reg-mit-poker-die-welt-verbessern-2/#respond Thu, 26 Jun 2014 15:47:46 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=8116 Raising for Effective Giving (REG) ist ein neues Projekt, das von der GBS Schweiz zusammen mit den sehr erfolgreichen Pokerspielern Philipp Gruissem, Liv Boeree und Igor Kurganov lanciert wurde. Im Englischen bezeichnet „raising“ sowohl das Erhöhen des Einsatzes (Poker), wie auch das Zusammentragen von Geld (z.B. für Wohltätigkeit). In der Pokersprache bezieht sich „reg“ (oder „regular“) auf jemanden, der regelmässig ein bestimmtes Pokerspiel spielt und vor dem man sich am Tisch deshalb eher in Acht nehmen sollte.

Poker ist für die GBS Schweiz ein passendes Thema, weil es sich hervorragend als Rationalitätstraining eignet: Es begegnen einem dabei viele Biases, die es für das möglichst erfolgreiche Spiel, d.h. zur Maximierung des Erwartungswerts zu vermeiden gilt. Mit REG wird zusätzlich zum Rationalitätsaspekt beim Poker nun auch eine Verbindung zu globalen Problemen und zur Ethik geschaffen: Es geht bei dem Projekt darum, PokerspielerInnen zu motivieren, einen erheblichen Anteil ihrer Gewinne an eine möglichst effektive Organisation zu spenden.

Image REG 3

Professionelle PokerspielerInnen haben ein gemischtes Image. Einerseits verdienen sie ihren Lebensunterhalt mit den Verlusten anderer Menschen. Andererseits handelt es sich bei den erfolgreichsten Spielern keineswegs um gierige Abzocker. Im Gegenteil, Fairness wird im Poker gross geschrieben, so dass alleine das Ehrenwort bei sogenannten „proposition bets“, wo zwischen Spielern grosse Summen Geld auf alles mögliche gewettet werden, für die Verbindlichkeit genügt. Viele Pokerspieler sind auch bekannt für ihre Grosszügigkeit.

In letzter Zeit gab es vermehrt Turniere, bei denen beträchtliche Anteile des Preisgeldes an Hilfsorganisationen gespendet wurden. Am 29. Juni findet das nächste Turnier dieser Art statt: Das One-Drop-Turnier an der World Series of Poker, das mit einem Eintrittsgeld von einer Million Dollar voraussichtlich den bisherigen Rekord für das höchste Preisgeld bei einem Pokerturnier sprengen wird. Und dies, obschon von jedem Eintritt 111’111 Dollar nicht ans Preisgeld, sondern an die One Drop Foundation gehen, einem Wasser-Hilfsprojekt, das vom Cirque du Soleil-Gründer und Hobby-Pokerspieler Guy Laliberté ins Leben gerufen wurde.

Vor diesem Hintergrund dürfte es nicht überraschen, dass REG in der Pokerwelt auf viel Lob und reges Interesse gestossen ist. Gruissem und Kurganov veranstalteten im Januar dieses Jahres eine Spendenaktion, bei der sie bis zu 50’000 Dollar aus der Poker-Community (und darüber hinaus) zusammenbringen wollten, um den Betrag dann mit dem eigenen Geld zu verdoppeln. Gesammelt wurde für die Schistosomiasis Control Initiative (SCI) und für das GBS-Projekt Effective Altruism Switzerland (EACH). Der Kontakt zu EACH kam über den Schweizer Pokerspieler und GBS-Autor Stefan Huber zustande. Das Interesse an der Spendenaktion war so gross, dass sich sogar zusätzliche Leute fürs Verdoppeln meldeten, so dass am Ende 140’000 Dollar an die zwei Projekte verteilt gespendet wurden.

Motiviert durch diese erfolgreiche Aktion beschlossen Gruissem und Kurganov zusammen mit der GBS Schweiz ein Projekt zu lancieren, um den Ansatz des effektiven Spendens unter PokerspielerInnen bekannt zu machen. Was auf den ersten Blick wie eine ungewöhnliche Kombination aussieht, macht auf den zweiten viel Sinn: Die Fähigkeiten, die eine erfolgreiche Pokerspielerin ausmachen, lassen sich sehr gut auch auf andere Lebensbereiche übertragen. Wer sich gewohnt ist, das Geld am Pokertisch möglichst gewinnbringend zu investieren, wird auch bei der Wahl von Hilfsorganisationen Wert darauf legen, dass mit der Spende möglichst viel erreicht wird.

Philipp Gruissem, der in Uganda die Schulkinder besucht hat, denen mit seiner Spende geholfen wurde, betont, dass er durch diesen neuen Fokus in seinem Leben glücklicher ist. Seine Motivation zum Spenden beschreibt er wie folgt:

In Uganda kann ich mit 2’000 Dollar 1’000 Menschen helfen. In Deutschland wird das schon bei einem schwer. Für mich sind alle Menschen gleich, also unterstütze ich die Projekte, die ich für die effizientesten halte.

Gruissem in Uganda

Für die Wahl von Hilfsorganisationen orientiert sich REG an den Empfehlungen der Organisation GiveWell, die Hilfswerke auf ihre Kosteneffektivität hin evaluiert. Indem man mehr Leute darauf aufmerksam macht, dass bei Hilfswerken riesige Unterschiede in Bezug auf ihre Effektivität bestehen, kann man vielleicht noch mehr Positives bewirken, als bei der direkten Unterstützung von wohltätigen Interventionen. Die Förderung von effektivem Spenden und Rationalität beim Angehen globaler Probleme sind Kernanliegen der GBS Schweiz. Deshalb werden REG-Mitglieder, die am Aufbau einer effektiven Spendenkultur interessiert sind, auch an die GBS Schweiz spenden können, sofern es vielversprechende Projekte gibt, denen es an Finanzierung mangelt.

Man könnte einwenden, dass es unmoralisch sei, durch Poker verdientes Geld anzunehmen. Es ist in der Tat problematisch, dass es sich beim Poker in der Regel um ein Nullsummenspiel handelt, bei dem die Gewinne der einen jeweils Verluste der anderen sind. Solange jedoch niemand mehr Geld einsetzt, als man es bequem verkraften kann, steht für viele Gelegenheitsspieler (wie bei einer Sportart) die kompetitive Spannung im Vordergrund, nicht das Geld. Das Problem ist, dass es auch Leute gibt, die ihre Ausgaben nicht unter Kontrolle haben und beim Pokern viel Geld verlieren. Hier sollten die Poker-Anbieter mehr Verantwortung übernehmen.

Es gilt jedoch zu betonen: Wenn jemand mit Poker den Lebensunterhalt verdient, dann ist es für die empfindungsfähigen Wesen in der Welt sicherlich massiv besser, wenn ein Anteil der Gewinne gespendet wird. Es ist erstaunlich, wie viel Positives man bewirken kann, indem man die eigenen Interessen und Mittel klug einsetzt. Auch das Entscheidpaket „Pokerspiel + Spende“ insgesamt scheint im Vergleich zur Alternative ethisch bedeutend besser: Es wäre unplausibel, zu behaupten, bei grossen Hilfeleistungen sei jede Mitverursachung von Übeln unzulässig. Menschenrechtliche NGOs zum Beispiel schaffen sich Computer an, in deren Herstellung menschenrechtswidrige Arbeitsbedingungen (ja Sklavenarbeit) eingehen. Folgt daraus, dass das Unterfangen aller gemeinnützigen NGOs ethisch insgesamt schlecht und unzulässig ist? Höchstwahrscheinlich nicht, im Gegenteil.

Ausblick

Am 2. Juli, im Rahmen der World Series of Poker, wird das REG-Projekt in Las Vegas offiziell vorgestellt. Adriano Mannino von der GBS Schweiz wird einen einführenden Vortrag halten. Schon im Vorfeld dieses Anlasses werden aber einige PokerspielerInnen mit einem REG-Patch („Abzeichen“) an die Pokertische gehen, und wenn sie Erfolg haben, wird REG schon in der einen oder anderen Live-Übertragung der Finalrunden dieser Pokerturniere zum Thema werden.

Mit REG soll sich ein Netzwerk von PokerspielerInnen bilden, die das Ziel haben, einen Teil ihres Erfolgs für einen (möglichst maximal) guten Zweck einzusetzen. REG wird auch in Zukunft an grösseren Turnier-Serien präsent sein und im Poker – und hoffentlich auch ausserhalb – für effektives Spenden Werbung machen. Die GBS Schweiz wünscht allen REG-Mitgliedern gutes Gelingen am Pokertisch!

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Komplexität, Koevolution und Evolvierbarkeit https://gbs-schweiz.org/blog/komplexitaet-koevolution-und-evolvierbarkeit/ https://gbs-schweiz.org/blog/komplexitaet-koevolution-und-evolvierbarkeit/#respond Tue, 24 Dec 2013 17:07:33 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=5843 Die Beispiele im vorherigen Blogpost zeigen, dass die Evolution nicht zwingend zu einer Art von Fortschritt führen muss. Der Paläontologe Stephen J. Gould hat in seinem populärwissenschaftlichen Buch Random House dazu gar den Vergleich aufgestellt, dass der Lauf der Evolution dem Laufen eines Betrunkenen gleicht, der auf der Strasse zwischen Bordstein links und Bordstein rechts zufällig hin und her stolpert. Mit diesem Vergleich spricht sich Gould gegen jegliche evolutionären Tendenzen zu „Fortschritt“ oder zunehmender Komplexität aus. Damit korrigierte er das verbreitete, fehlerhafte Evolutionsverständnis der Öffentlichkeit zwar in die richtige Richtung, aber viel zu stark.

Eine Tendenz zur Komplexität besteht

Tendenzen zum Anstieg an Komplexität machen aus evolutionärer Perspektive nämlich durchaus Sinn, besonders für den Anfang der Evolutionsgeschichte. Mit Komplexität ist hier der Informationsgehalt im Genom gemeint, in dem das Rezept gespeichert ist, wie zusammen mit der Umwelt der Zelle ein bestimmtes Lebewesen entstehen und funktionieren kann. Wegen Redundanz und weil der Grossteil der DNA vieler Organismen gar nie für die Proteinsynthese verwendet wird, deckt sich der Informationsgehalt im Genom nicht mit der Anzahl Basenpaare. Es wurde spekuliert, dass es eine Obergrenze an Komplexität gibt, weil zu viel genetische Information von den DNA-Reparaturmechanismen nicht mehr genügend vor Kopierfehlern (Mutationen) bewahrt werden könnte. Es könnte sein, dass diese Grenze schon angetastet wurde.

Wie dem auch sei, historisch gab es zweifelsohne Zeitperioden, wo die Komplexität der Organismen über mehrere Abstammungslinien hinweg rasant zunahm, viel schneller und grossflächiger, als Goulds Analogie des Betrunkenen es implizieren würde.

Dieser Anstieg an Komplexität kam grösstenteils wegen Koevolution und der Zunahme an Evolvierbarkeit zustande. In den folgenden Abschnitten wird erläutert, weshalb wir evolutionsgeschichtlich einen Anstieg an Komplexität beobachten können, obschon die natürliche Selektion nicht ziel-/zweckgerichtet wirkt.

Evolvierbarkeit

Das Konzept der Evolvierbarkeit bezieht sich darauf, wie flexibel sich Arten durch Mutationen verändern und verformen lassen. Der Übergang von einzelligen zu mehrzelligen Organismen beispielsweise ermöglichte die Spezialisierung von einzelnen Zellen, die sich dann dem Funktionieren des Gesamtorganismus unterordnen konnten. Dadurch wurde die Grundlage für grössere Variabilität geschaffen.

Auch die Evolution der sexuellen Fortpflanzung führte zu einer Zunahme der Evolvierbarkeit, durch die sich eine unzählige Vielfalt an verschiedenen Genkombinationen austesten liess. Im Englischen nennt man diese bedeutenden Übergänge in der Evolutionsgeschichte „major transitions„. Wenn es (anfangs zufällig!) zu Änderungen kommt, welche die Evolvierbarkeit einer Art erhöhen, und wenn sich diese Änderungen auch durchsetzen, dann hat dies für die Zukunft eine sprunghafte Zunahme an Komplexität zur Folge, weil die neue Abstammungslinie nun evolutionär „formbarer“ ist.

Eine weitere wichtige und mächtige Möglichkeit, die Evolvierbarkeit zu steigern, ist die Genduplikation (oder auch Chromosomen- oder Genomduplikation). Weil dabei die alte Funktion des DNA-Abschnittes bestehen bleibt, kann mit dem neuen Abschnitt frei experimentiert werden. Kreationisten (=Leute, welche an die Schöpfung glauben und die Evolution abstreiten) argumentieren manchmal, dass sich die Komplexität der Natur nicht erklären lasse, weil Mutationen im Evolutionsprozess keine neue Information hervorbringen könnten. Gerade bei der Genduplikation haben wir es aber mit einem Vorgang zu tun, welcher die Voraussetzungen dafür schafft, dass sich der Informationsgehalt im Genom (beträchtlich) erhöhen kann.

Koevolution

Zu vergleichsweise raschen Evolutionsschritten kommt es, wenn zwischen Arten ein Verhältnis der Koevolution besteht, was bedeutet, dass Veränderungen bei der einen Art jeweils den Selektionsdruck einer anderen Art so verändern, dass auch da eine Anpassung stattfindet. In Fällen, wo verschiedene Arten voneinander profitieren können, kann es durch Koevolution zu beeindruckenden Ausprägungen dieser beidseitig-vorteilhaften Beziehungen führen (Symbiose). Das wohl bekanntest Beispiel hierzu ist die Evolution von Blüten und ihren bestäubenden Insekten. Die Koevolution erklärt, weshalb der spitze Schnabel von Kolibris oder der Rüssel gewisser Insekten jeweils so gut an die Kelchform bestimmter Blüten angepasst ist.

Für die Fortpflanzung der Blumen ist es vorteilhaft, wenn ihre Pollen möglichst zielgerichtet nur zu Blüten der eigenen Art gelangen, was sich am besten über „hauseigene“ Insekten oder Kolibris bewerkstelligen lässt, welche jeweils sehr wenige oder gar nur eine Art von Blume besuchen. Jede Veränderung bei der Pflanze, die dazu führt, dass sie attraktiver für einen spezifischen Bestäuber wird, bietet somit einen evolutionären Vorteil. Und jede dadurch ausgelöste Anpassung auf Seiten der Bestäuber, welche dazu führt, dass sie im Konkurrenzkampf unter den Artgenossen besser vom neuen pflanzlichen Angebot (z.B. Nektar) profitieren können, bringt das kooperierende Duo, Blume und Bestäuber, auf die jeweils nächste Stufe der beidseitigen Anpassung aneinander.

Wettrüsten

Während in den vorangehenden Abschnitten von beidseitig-vorteilhafter Koevolution die Rede war, gibt es auch die (verbreitetere) antagonistische Koevolution, die durch Konkurrenzkampf, welcher sich beispielsweise zwischen Jägern und Beutetieren abspielt, zustande kommt. So sind Geparde besonders schnell, weil die Gazellen besonders wendig sind. Wenn die Gazellen wendiger werden, erhöht sich nämlich der Selektionsdruck unter den Geparden, was auch dort zu einer Verbesserung der Jagdfähigkeiten führt, was wiederum Auswirkungen auf den Selektionsdruck unter den Gazellen hat. Dieser Rückkoppelungseffekt löst ein Wettrüsten aus, welches sich über lange Generationsspannen hinziehen kann.

Wegen umweltlichen, entwicklungsbiologischen und physikalischen Einschränkungen gibt es aber für alle Parameter (wie Schnelligkeit, Sehkraft, Immunabwehr) eine obere Grenze, über die hinaus keine weiteren Verbesserungen mehr möglich sind. Die Nachfahren von Geparden werden Gazellen nie mit Überschall-Geschwindigkeit jagen, weil kein biologisch-möglicher Pfad an vorteilhaften Mutationen existiert, der zu diesem Resultat führen könnte.

Auch zwischen Parasiten und Wirten findet antagonistische Koevolution statt. Dabei entwickeln sich komplexe Strategien und Konter-Strategien, weil die Individuen einer jeweiligen Art stets auf dem neusten Stand sein müssen, um zu bestehen. Wenn auf beiden Seiten Anpassungen stattfinden, gewinnt dadurch keine Seite wirklich die Überhand. In Anlehnung an ein Zitat von Lewis Carrols Through the Looking Glass ist von der „Red Queen Hypothesis“ die Rede. Im Zitat erklärt die rote Königin der neugierigen Alice die kinetischen Eigenheiten des Wunderlands:

Now, here, you see, it takes all the running you can do, to keep in the same place.

Die Red Queen Hypothese besagt, dass Arten ständig in irgendwelche Wettrüsten involviert sind. Dadurch würde beispielsweise erklärt, weshalb der Anteil an aussterbenden Arten in der geologischen Zeitskala konstant (abgesehen von den Massenaussterben) und relativ hoch war.

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Weitere Beispiele, wo Rückkopplungseffekte zu einer Art Wettrüsten führen, finden sich in der sexuellen Selektion. So besteht der Grund, weshalb gewisse Enten-Männlein einen bis zu zwei Körperlängen langen (ausrollbaren) Penis haben, vermutlich darin, dass sich die Gene eines Enten-Weibchens am ehesten verbreiten, wenn es nur von den fittesten Männchen befruchtet wird. Die Gene der Männchen hingegen kopieren sich am häufigsten, wenn die Männchen mit möglichst vielen verschiedenen Weibchen kopulieren. Es wird vermutet, dass diese Asymmetrie der Geschlechter zu einem Wettrüsten bei der Morphologie der Geschlechtsorgane führte. Die Penisse der Männchen wurden über die Generationen länger und flexibler, um für eine erfolgreiche Befruchtung besser durch den immer labyrinthartiger (für die Qualitätssicherung) werdenden Geschlechtskanal der Weibchen zu kommen. Sobald die Selektion einmal in diese Richtung anlief, wurde die Anatomie der Geschlechtsorgane zu einem zentralen Kriterium, welches die evolutionäre Fitness der Tiere massgeblich bestimmte.

Der in der Natur allgegenwärtige Kampf um Überleben und Fortpflanzung führt also oftmals zu einer Art Wettrüsten, in denen sich Lebewesen in Bezug auf bestimmte Kriterien weiterentwickeln und verbessern und sich so gegenseitig hochschaukeln. Dadurch kamen die beeindruckenden Spezialisierungen bei Fähigkeiten zustande, mit denen wir aus Dokumentarfilmen vertraut sind.

Nichts in der Biologie ergibt einen Sinn ausser im Licht der Evolution.

Dieses berühmte Zitat von Theodosius Dobzhansky trifft es auf den Punkt, wie sich enorm viele Eigenheiten der natürlichen Vielfalt durch Koevolution und Wettrüsten erklären lassen.

Referenzen
Maynard Smith, J. and Szathmary, E. (1995). The Major Transitions in Evolution. Oxford, England: Oxford University Press.
Brennan et al. (2007). Coevolution of Male and Female Genital Morphology in Waterfowl. PLoS ONE 2, e418.
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Weshalb die Evolution kein Ziel hat https://gbs-schweiz.org/blog/weshalb-die-evolution-kein-ziel-hat/ https://gbs-schweiz.org/blog/weshalb-die-evolution-kein-ziel-hat/#comments http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=5832 5112987_ml

Wie Evolutionsbiologie falsch verstanden wird

Die Auffassung, dass die Evolution ein Ziel hat oder dass ihr eine Notwendigkeit innewohnt, ist ein weit verbreitetes Missverständnis, welches in verschiedenen Formen auftritt. Viele Leute glauben fälschlicherweise, dass die Evolution auf den Menschen als Ziel-/Endprodukt zulief. Aber rein biologisch gibt es keinen Grund, die menschliche Spezies herauszuheben. Die Evolution brachte einen „Baum des Lebens“ hervor, mit den Menschen als einem gewöhnlichen Zweig. Sie formte keine „Leiter des Lebens“, auf welcher der Mensch zuoberst thronen würde. Im Baum des Lebens ist Homo sapiens eine Spezies wie jede andere, da alle heute existierenden Lebewesen eine gleich lange Evolutionsgeschichte hinter sich haben.

Auch wenn man nicht den Menschen als Ziel sieht, könnte man glauben, dass die Evolution trotzdem einem Zweck folgt, oder dass sie notwendigerweise in eine bestimmte Richtung strebt. Mehr Komplexität, Harmonie, Fortschritt oder einfach eine Art Plan, dem Folge geleistet werden muss. Auch das ist jedoch fehlgeleitet. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass die Evolution durchgehend in eine bestimmte Richtung geschieht. Was es gibt, sind gewisse Tendenzen, auf die in einem folgenden Blogpost eingegangen wird.

Weshalb Evolutionsbiologie falsch verstanden wird

Evolutionsbiologie ist schwierig zu verstehen, weil sie unseren Intuitionen zuwiderläuft. Menschen haben eine Tendenz dazu, teleologische („zielgerichtete“) Erklärungen kausalen Erklärungen vorzuziehen1. Dies erklärt wahrscheinlich, zusammen mit religiöser Motivation oder vielleicht auch auf Eitelkeit basiertem Wunschdenken, weshalb so viele Leute Mühe damit haben, die Evolution richtig zu verstehen.

Der Funktionsmechanismus

Der Mechanismus der Evolution ist eigentlich simpel. Diejenigen Varianten eines Gens („Allelen“), welche dem Lebewesen im Vergleich zu den anderen Varianten den grösseren Fitnessvorteil (d.h. Vorteil darin, sich erfolgreich fortzupflanzen) bieten, verbreiten sich automatisch im Gen-Pool. Ob eine gewisse Mutation zu einem Fortpflanzungsvorteil führt, hängt natürlich stets davon ab, wie die Umwelt des betroffenen Lebewesens beschaffen ist. Von der zufälligen Variation, die durch Mutationen (welche ihrerseits von Einflüssen wie gewisser Strahlung, gewissen Metallen oder gewissen chemischen Substanzen ausgelöst werden) entsteht, erhöht ein kleiner Prozentsatz die biologische Fitness des betroffenen Lebewesens. Diese Mutationen setzen sich durch, während Mutationen, die für die Fitness des Lebewesens einen Nachteil bieten, wieder aus dem Gen-Pool verschwinden. Obwohl die Variation ursprünglich also zufällig zustande kommt, werden durch die natürliche Selektion die vorteilhaften Komponenten konserviert. Die Evolution führt so zu einer Anpassung (Adaptation) der Lebewesen an die vorhandene Umwelt.

Keine Vorahnung

Es ist wichtig zu verstehen, dass dieser Prozess immer Schritt für Schritt vor sich geht. Für grosse Veränderungen im Phänotyp eines Organismus braucht es oft sehr viele Mutationen. Jede dieser Mutationen musste in der Evolutionsgeschichte den neuen Trägern einen Vorteil bieten. Es kann sein, dass eine erste Mutation insofern gut wäre, als dass sie den Boden für eine spätere Mutation schafft, die dann, zusammen mit der ersten, enorm vorteilhaft wäre. Wenn die erste Mutation aber keinen Vorteil bietet oder sogar (schwach) negativ ist für die Fitness des Lebewesens, dann ist es trotz den vorausgeahnten Vorteilen unwahrscheinlich, dass sich die erste Mutation überhaupt durchsetzt. Und dass beide Mutationen gleichzeitig in einem Individuum auftreten wäre statistisch äusserst unwahrscheinlich.

Die natürliche Selektion besitzt keine hellseherischen Fähigkeiten. Es werden in jedem Durchgang nur diejenigen Individuen ausgesiebt, die früh aussterben oder vergleichsweise schlecht darin sind, sich erfolgreich fortzupflanzen. Wahrscheinlich gab es in der Evolutionsgeschichte unzählige Situationen, in denen kleine Schritte, welche die Fitness zunächst verringerten, der betroffenen Abstammungslinie langfristig einen riesigen Erfolg gewährleistet hätten. Die Abstammungslinie kann aber in Bezug auf Fitness nicht bergab gehen, weil Lebewesen mit geringerer Fitness (per definitionem) das Rennen um Fortpflanzung eher verlieren als gewinnen werden. Und umgekehrt gibt es natürlich auch keinen Mechanismus, der verhindert, dass kurzfristige Verbesserungen, die langfristig einen beträchtlichen Design-Nachteil implizieren, am Anfang gewählt werden.

Wenn eine Abstammungslinie einmal dem Selektionsdruck folgend eine bestimmte Anpassung angenommen hat, kann die Evolution nicht mehr zurück zum Sketchpad gehen, um dort eine andere Abzweigung einzuschlagen. Es sei denn, die Umwelt ändert sich genau so, dass sich der Selektionsdruck umdreht – aber auch dies ist natürlich enorm unwahrscheinlich.

Der Evolutionsbiologe Richard Dawkins hat die Evolution in einer Analogie mit einem „blinden Uhrmacher“ verglichen. „Blind“, weil die natürliche Selektion ein mechanischer Prozess ist, dem jegliche Voraussicht fehlt, und „Uhrmacher“, weil sich daraus trotzdem Strukturen (Lebewesen!) ergeben, welche so aussehen, als ob sie auf intelligente Weise „designed“ wurden.

Feststecken in lokalen Optima

Die Blindheit der Evolution führt dazu, dass sich Arten nur auf lokale Optima in Bezug auf die Fitness aller möglichen Genkombinationen zubewegen. Globale Optima, für die es bessere Planung bräuchte, sind somit als Resultate nicht zu erwarten.

Ein Beispiel für das Feststecken in lokalen Optima finden wir im Design von Augen. Es wird angenommen2, dass sich verschieden Arten von Augen über vierzig Mal unabhängig voneinander entwickelt haben. Nicht alle Design-Grundlagen für Sehorgane besitzen das gleiche Potenzial für Sehkraftsverbesserungen in der evolutionären Zukunft, aber weil die Evolution keine Vorausahnung hat, entstanden alle möglichen Sehorgane, sofern es einen kontinuierlichen Weg von vorteilhafter Mutation zu vorteilhafter Mutation zu ihnen gab.

Stillstände

Anders als man vielleicht denken könnte ist es auch nicht der Fall, dass die Evolution ständig (gleichermassen) am Werk ist. Evolutionäre Veränderungen in einer Population kommen zustande, indem sich die relative Frequenz von Allelen im Gen-Pool ändert. In grossen Populationen, bei denen keine Migration stattfindet und bei denen die Umwelt konstant bleibt, ist es durchaus möglich, dass keine solche Veränderung erfolgt und die Evolution so für lange Zeitperioden praktisch stillsteht. Dieses unter dem Begriff „Stasis“ bekannte Phänomen widerspricht der Auffassung, dass die Evolution zielstrebig auf etwas hinarbeitet.

Richtungswechsel

Weiter oben wurde erklärt, dass es in Bezug auf biologische Fitness nur nach oben gehen kann. Dies sollte keinesfalls damit verwechselt werden, dass es auch in Bezug auf Komplexität, Grösse oder Fähigkeiten bergauf gehen muss! Die Evolutionsgeschichte ist voll von Beispielen, wo Abstammungslinien mit der Zeit kleiner wurden. Ein Beispiel wäre der Spatz, dessen Vorfahren einst (für Dino-Verhältnisse zugegebenermassen kleine) Raubsaurier waren.

Weiterhin ist es je nach Umweltbedingungen sogar möglich, dass sich Fähigkeiten zurückbilden. Höhlenfische, die in vollständig dunklen, unterirdischen Höhlen leben, haben im Gegensatz zu ihren Vorfahren permanent verkümmerte/zurückgebildete Augen, weil es in der dunklen Umgebung keinen Selektionsdruck mehr für Sehkraft gab. In einer solchen Umgebung wären funktionierende Augen wahrscheinlich gar energietechnisch ineffizient und somit von Nachteil.

Zusammenfassung

Es besteht keine Notwendigkeit, dass Evolution mit objektiver „Verbesserung“ einhergeht, egal, nach welchen Kriterien wir „Verbesserung“ definieren wollten. Das Einzige, was sich konstant verbessert, ist die Anpassung an die jeweilige Umwelt. Weil die Umwelt aber nicht konstant bleibt, ist dieser Fortschritt immer nur relativ.

Wenn man metaphorisch von einem Ziel sprechen möchte, dann besteht das „Ziel“ der Evolution bloss darin, dass Gene weitergegeben werden. Aber auch dies geschieht nicht in strategisch geplanter Weise, sondern nur rein mechanisch, blind und undurchdacht.

Referenzen

  1. http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/19200537
  2. Land, M.F. and Nilsson, D.-E., Animal Eyes, Oxford University Press, Oxford (2002).
  3. Dawkins, R., The Blind Watchmaker, Longman, Harlow (1986).
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Was ist der Erwartungswert und warum soll ich ihn maximieren? https://gbs-schweiz.org/blog/was-ist-der-erwartungswert-und-warum-soll-ich-ihn-maximieren/ https://gbs-schweiz.org/blog/was-ist-der-erwartungswert-und-warum-soll-ich-ihn-maximieren/#comments Tue, 12 Nov 2013 15:11:58 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=5560 Es liegt (trivialerweise) im Interesse eines jeden Akteurs, die eigenen Ziele so gut als möglich zu erreichen. Wenn ich dies bei meinen Handlungen umsetze, dann handle ich rational. Was heisst es aber konkret, so zu handeln, dass wir ein Ziel bestmöglichst erreichen?

Wenn wir nur mit absoluten Gewissheiten konfrontiert sind, dann ist der Fall klar. Ich möchte diejenige Handlungsoption wählen, die von mir am höchsten bewertet wird. Wenn es mein Ziel wäre, möglichst viel Geld zu verdienen und ich entweder eine Zehner- oder eine Hunderternote auswählen kann, dann wähle ich natürlich die Hunderternote.

Nun sind aber die Welt und insbesondere auch unsere Sinnesorgane nicht so aufgebaut, dass wir die Konsequenzen unserer Handlungen jeweils mit Gewissheit voraussagen können. Wenn ich mir beispielsweise überlege, einen Lottoschein zu kaufen, dann ist die Chance hoch, dass ich das bezahlte Geld verlieren werde. Aber mit einer kleinen Wahrscheinlichkeit gewinne ich auch mehr, als ich einsetze.

In anderen Fällen haben wir – anders als im Lotto – gar keine exakten Vorgaben, wie wir unser Risiko respektive unsere Gewinnchancen genau ausrechnen können. Aber trotzdem müssen wir nach bestem Wissen und Gewissen Wahrscheinlichkeiten setzen, weil wir uns schlussendlich ja irgendwie entscheiden müssen. Jede Handlung ist eine Wette, und das Beste, was wir in einer Welt voller Unsicherheiten machen können, ist den Erwartungswert unserer Handlungen zu maximieren.

Was ist der Erwartungswert?

Der Erwartungswert einer Handlungsoption setzt sich aus der Summe aller möglichen Outcomes („Ausgänge“) zusammen, wobei jedes Outcome der Eintreffwahrscheinlichkeit nach gewichtet wird. Die Summe aller Eintreffwahrscheinlichkeiten muss 1 ergeben. Als Formel sieht das wie folgt aus:

EV = p_{1}*V_{1} + p_{2}*V_{2} + ... +p_{n}*V_{n}
EV steht für den Erwartungswert („expected value“),
p steht jeweils für die Wahrscheinlichkeit, dass ein bestimmtes Outcome eintrifft,
und V steht für den Wert des besagten Outcomes, falls es eintrifft.

Ein Beispiel:
Mir wird angeboten, dass ich entweder
a) 10 Franken bar auf die Hand bekomme, oder dass ich
b) ein Spiel spielen kann, bei dem ich 66 Franken bekomme, falls ein fairer, 6-seitiger Würfel beim ersten Wurf eine sechs zeigt, und jeweils 1 Franken verliere, wenn der Würfel keine 6 zeigt.

Der Erwartungswert der Handlungsoption a) beträgt 10 Franken, da nur ein Outcome gegeben ist, das mit Sicherheit eintreten wird.

Der Erwartungswert der Handlungsoption b) besteht aus zwei Komponenten, die wir addieren müssen. Man berechnet ihn wie folgt:

Wahrscheinlichkeit, dass keine sechs kommt, multipliziert mit dem dazugehörigen Outcome:
(5/6)*(-1) CHF = -0.83 CHF

Wahrscheinlichkeit, dass eine sechs kommt, multipliziert mit dem dazugehörigen Outcome: (1/6)*66 CHF = 11 CHF

Summe von beidem:
-0.83 CHF + 11 CHF = 10.17 CHF.

Es folgt, dass ich im Erwartungswert 0.17 Franken mehr gewinne, falls ich mich für das Würfelspiel entscheide. Heisst das, dass jemand irrational handelt, wenn er/sie sich für die 10 Franken auf sicher entscheidet? Nicht unbedingt! Die Frage ist, worauf es uns genau ankommt.

Unterschied zwischen Wert und Utility

Es kann gut sein, dass wir in den fünf von sechs Fällen, wo wir im obigen Beispiel beim Würfelspiel verlieren und einen Franken bezahlen müssen, überproportional enttäuscht darüber sind im Vergleich dazu, wie glücklich wir im Gewinnfall wären. Wenn ein Spieler das eigene Wohlbefinden auch einbeziehen möchte, dann könnte es also gut sein, dass nach seiner Bewertung die gefühlte Enttäuschung in fünf von sechs Fällen die zusätzliche Freude im sechsten Fall und die zusätzlichen 0.17 Franken im Erwartungswert nicht aufzuwiegen vermag.

Zudem könnte es auch sein, dass wir uns in einer Situation befinden, in der wir aus bestimmten Gründen dringend 10 Franken benötigen, z.B. wenn wir ohne Kreditkarte in der Stadt sind und vor Ladenschluss unbedingt noch ein bestimmtes Geburtstagsgeschenk für jemanden kaufen müssen, für das uns genau zehn Franken fehlen. In einem solchen Fall wäre es vermutlich sehr schlecht für uns, auf die kleine Chance zu spekulieren, viel Geld zu gewinnen (und damit den Erwartungswert an gewonnenem Geld zu maximieren), weil wir dann in Kauf nehmen müssten, dass wir in fünf von sechs Fällen eine uns wichtige Person enttäuschen werden.

Es ist also für praktisch niemanden primär das Geld, das man maximieren möchte. Und weiterhin ist es auch nicht der Fall, dass doppelt so viel Geld für Leute jeweils doppelt so gut ist, da Geld (und Güter allgemeinen) in der Regel einen abnehmenden Grenznutzen haben.

Um alles zusammenzufassen, was uns wichtig ist, gibt es das Konzept der Utility („Nutzen“). Jedem möglichen Ausgang wird eine Utility zugeschrieben, abhängig davon, wie sehr wir dieses Outcome möchten, d.h. wie sehr es der Gesamtmenge unserer Ziele entspricht. Wenn eine Option für uns doppelt so viel Utility hat, dann bedeutet dies, dass wir sie, wenn wir vollständig informiert sind und keinen Biases unterliegen, doppelt so gut finden würden.

Prinzipiell kann alles mögliche unter Utility fallen, es kommt einfach darauf an, was unsere Ziele im Leben sind. Oft wird angenommen, dass Utility (oder auch Rationalität) immer mit Egoismus zu tun hat, oder damit, Geld anzuhäufen. Dabei handelt es sich um ein Missverständnis. Auch altruistische Ziele fallen unter den Begriff Utility, wenn es jemandem darum geht, anderen zu helfen.

Weil im Konzept der Utility also alles berücksichtigt wird, was einem wichtig ist, macht es stets Sinn, im Erwartungswert Utility zu maximieren.

Warum den Erwartungswert maximieren?

Aber warum genau? Warum sollen wir den Erwartungswert maximieren und nicht irgend ein anderes Verhältnis zwischen Eintreffwahrscheinlichkeiten und Outcomes? Nehmen wir ein Beispiel, bei dem es darum geht, anderen zu helfen. Und nehmen wir an, dass wir vollständig altruistisch sind und unsere Utility mit jedem Menschen, dem wir helfen, linear zunimmt (d.h. es wäre für uns n Mal besser, einer Anzahl n an Menschen zu helfen, als einem einzigen Menschen zu helfen).

Auf einer Insel ist eine Epidemie ausgebrochen. Alle 20’000 EinwohnerInnen schweben in Todesgefahr, da jede Infektion dieses Erregers innert drei Tagen zum qualvollen Erstickungstod führt. ExpertInnen schätzen die Dynamik so ein, dass bei fehlender Intervention die gesamte Inselbevölkerung innert weniger Wochen ersticken wird. Die EinwohnerInnen dieser Insel verfügen nur über ein spärliches Gesundheitswesen, deshalb sind sie auf externe Hilfe angewiesen. Wir befinden uns auf der grösseren Nachbarsinsel und koordinieren ein Rettungspaket. Dabei stehen wir vor der Wahl, welche der zwei auf dem Markt verfügbaren Interventionsmethoden wir einsetzen: SafeRelieve und/oder CheapRelieve. Beide Präparate wirken sowohl kurativ wie auch präventiv. SafeRelieve kostet 2.04 CHF pro behandelte Person und zieht zu 100% eine vollständige Genesung nach sich. CheapRelieve ist ein günstigeres aber auch weniger sicheres Produkt. Nämlich heilt es nur in 50% der Fälle vollständig, bei den restlichen Fällen wirkt es überhaupt nicht. Dies bei einem Preis von 1.00 CHF pro behandelte Person. Die Politik gewährt dem Rettungspaket ein Budget von 10’000 CHF. Das Paket ist so geplant, dass jede(r) Einwohner(in) mit gleich hoher Wahrscheinlichkeit das Medikament erhält. Wie gehen wir vor?

Angenommen, wir setzen alles auf SafeRelieve, so ersparen wir 10’000/2.04, also etwa 4’900 EinwohnerInnen die Todesqual. Setzen wir jedoch auf das zweite Medikament, so dürfen wir im Erwartungswert mit 10’000/1*0.5, also mit ungefähr 5’000 Unversehrten, rechnen. CheapRelieve mag weniger sicher erscheinen, aber wir erwarten damit das geringere Übel.

Theoretisch wäre es aber möglich (die Chance beträgt 2.3%), dass wir grosses Pech haben und CheapRelieve in vielen Fällen nichts bewirkt, so dass weniger Leuten dadurch geholfen wird.

Aufteilen

Wenn wir das Geld halb-halb aufteilen, und sowohl SafeRelieve als auch CheapRelieve kaufen, dann helfen wir im Erwartungswert 4’950 Leuten. Durch die vielen SafeRelieve Medikamente verringern wir die Varianz, d.h. wir verkleinern die Chance, dass durch Pech extrem wenig Leute gerettet werden. Der Preis, den wir dafür bezahlen, ist aber auch, dass wir die Chance verringern, dass extrem viele Leute gerettet werden, und dass der Erwartungswert an geretteten Leuten abnimmt. Wenn 100% CheapRelieve besser ist als 100% SafeRelieve, dann scheint es kein Argument zu geben, warum man einen Teil (wie viel genau?) des Geldes in SafeRelieve investieren sollte. Je mehr Medikamente man kaufen kann, desto klarer wird es, dass CheapRelieve die bessere Wahl ist.

Aber stellen wir uns nun folgende Situation vor: Wiederum koordinieren wir das Rettungspaket, aber dieses Mal finden wir heraus, dass wir eine zusätzliche Spende von 51 Franken bekommen haben, mit der wir mehr Medikamente kaufen können. Mit SafeRelieve retten wir garantiert 51/2.04 = 25 zusätzliche Leute. Mit CheapRelieve ist der Erwartungswert bei 25.5 Leuten. Dieses Mal besteht eine 44%ige(!) Chance, dass CheapRelieve weniger Leuten hilft als SafeRelieve. Sollen wir dieses Mal, anders als bei der grossen Spende, lieber auf Sicherheit setzen?

Sicherlich nicht! Die zusätzlichen 51 CHF sind nicht isoliert, sondern sie sind Teil des gesamten Budgets. Wenn wir mit einem Budget von 10’051 CHF angefangen hätten, gäbe es keinen Sinn, die Strategie zu wechseln. Wie wir oben gesehen haben, ist es nicht sinnvoll, das Geld über beide Medikamente aufzuteilen.

Law of Large Numbers

Der Erwartungswert misst im Wesentlichen das durchschnittliche Outcome, das eintreffen würde, wenn wir die Handlung enorm viele Male durchspielen würden. CheapRelieve schneidet im Erwartungswert immer besser ab. Zusätzlich gilt, dass je grösser die Gesamtmenge an Leuten, denen CheapRelieve gegeben wird, desto wahrscheinlicher ist es, dass es auch in einem spezifischen Fall besser abschneidet.

Ein Argument dafür, immer den Erwartungswert zu maximieren, ist das „Law of Large Numbers“. Längerfristig, wenn wir eine Entscheidung immer wieder durchspielen würden, wird unser Gesamtgewinn praktisch garantiert dann am höchsten sein, wenn wir bei jeder einzelnen Entscheidung den Erwartungswert maximieren.

Dieses Argument mag überzeugend sein, aber man könnte immer noch einwenden, dass wir Entscheidungen in der Regel ja nur einmal fällen. Warum sollte man in einer einmaligen Entscheidung den Erwartungswert maximieren?

Willkür

Dazu kann man sich noch folgendes überlgen: Wenn nicht den Erwartungswert maximieren, was sonst? Sobald man anfängt, Outcomes mit erhöhtem Risiko weniger als dem Erwartungswert nach zu gewichten, stellt sich sofort die Frage, wie viel weniger man sie gewichten möchte. Hier scheint es so, als ob prinzipiell jegliche Form der Gewichtung möglich wäre, ohne dass eine dieser unendlichen Möglichkeiten heraussticht. Der Erwartungswert hingegen ist eindeutig und lässt sich sinnvoll ableiten. Siehe auch das nächste Argument dafür:

Axiomatischer Ansatz

Als weiteres Argument für die EV-Maximierung gibt es den axiomatischen Ansatz, das sogenannte Von Neumann-Morgenstern Utility Theorem. Wenn eine Person ihre Präferenzen über eine Menge an Wetten angibt, und wenn diese Präferenzen vier intuitiv einleuchtenden Axiomen folgen, dann handelt diese Person so, als ob sie den Erwartungswert ihrer Zielfunktion (utility function) maximiert. Oder mit anderen Worten bedeutet dies, dass die Ablehnung der EV-Maximierung einer Verletzung von mindestens einem intuitiv einleuchtenden Axiom gleichkommt.

Die Altruistische Perspektive

Für altruistische Zielfunktionen gibt es interessanterweise noch ein zusätzliches Argument dafür, auch in isolierten Entscheidungssituationen stets den Erwartungswert zu maximieren. Wir können uns nämlich in die Perspektive derer versetzen, denen wir helfen möchten. Welche Entscheidung würde ich bevorzugen, wenn ich ein zufällig ausgewähltes hilfsbedürftiges Wesen wäre, welchem prinzipiell geholfen werden könnte? Ich würde diejenige Handlungsoption wählen, bei welcher meine Chance am grössten ist, gerettet zu werden. Beim Insel-Beispiel oben würde ich also immer auf CheapRelieve setzen, selbst dann, wenn nur Medikamente für 51 Franken gekauft werden können.

Einstellung zum Risiko

Wer stets den Erwartungswert maximieren möchte, handelt risikoneutral. Wer Outcomes vorzieht, bei denen eine grosse Sicherheit besteht (selbst wenn der Erwartungswert einer anderen Handlungsoption höher wäre), der handelt risikoavers. Weil Menschen Verluste tendenziell stärker wahrnehmen als Gewinne, handeln sie irrationalerweise oft risikoavers.

Leute, die dafür argumentieren, dass Risikoaversion rational sein kann, haben oft den Unterschied zwischen Wert und Utility nicht verstanden. Wenn jemand mir anbietet, mein gesamtes Vermögen auf einen Münzwurf zu setzen, und mir im Gewinnfall noch einen Franken extra draufgelegt wird, dann würde ich bei diesem Spiel im Erwartungswert 0.5 Franken Gewinn machen. Allerdings wäre es für mich wahrscheinlich viel schlechter, all mein Hab und Gut zu verlieren, als es positiv wäre, meine Besitztümer zu verdoppeln. Dass man bei Geld manchmal (nicht immer!) „risikoavers“ handelt, macht also Sinn, weil es immer noch sein kann, dass man bezüglich der Utility, also dem, worauf es einem letztendlich ankommt, den Erwartungswert maximiert.

Pascal’sche Szenarien

Wenn wir die Idee der Utility-Maximierung im Erwartungswert auch in Extremfällen anwenden, dann kommen wir zu sogenannten Pascal’schen Szenarien, wo unser Handeln womöglich von einer sehr geringen Möglichkeit dominiert wird, riesige Mengen an Utility zu beeinflussen. Wenn die Menge gross genug ist, dann kann es sein, dass sie selbst bei einer astronomisch tiefen Beeinflussungswahrscheinlichkeit noch relevant für uns ist.

Als Beispiel die Pascal’sche Wette: Wenn die Chance auch nur ein Milliardstel Prozent beträgt, dass es einen Himmel gibt, in dem es einem ewig lange maximal gut geht, dann ist die Utility davon (wenn man das ewige gute Leben als Ziel hat) so enorm gross, dass man alles versuchen sollte, um die Wahrscheinlichkeit des in-den-Himmel-Kommens zu vergrössern.

Die Pascal’sche Wette ist ein Argument dafür, dass man selbst als 99.99% überzeugte(r) Atheist(in) aus strategischen Gründen beten und an Gott glauben sollte. Das Argument „es ist extrem unwahrscheinlich, dass es einen Himmel gibt, also muss ich mir keine Gedanken darüber machen“ funktioniert je nach dem nicht, wenn im Erwartungswert trotzdem enorm viel auf dem Spiel steht.

Ob es rational wäre, die Pascal’sche Wette im Spezifischen anzunehmen, ist jedoch sehr zweifelhaft, weil wir die gleichen Behauptungen auch in die andere Richtung hin aufstellen können: Wenn wir z.B. nicht wissen, welche Gottheit wir anbeten sollen, dann könnte es sein, dass der Akt des Betens die Chance, in den Himmel zu kommen, senkt anstatt erhöht. Wenn auch bei der gegenteiligen Handlungsoption eine riesige Utility auf dem Spiel steht, und es keine rationalen Gründe gibt zur Annahme, dass das eine Szenario wahrscheinlicher ist als das andere, dann habe ich keinen Grund, meine Zeit mit Beten zu verbringen. Die zwei Szenarien heben sich gegenseitig auf, weil sich – egal was ich wähle – meine Wahrscheinlichkeit, in den Himmel zu kommen, nicht verändert.

Falls es aber Fälle gibt, wo nicht ersichtlich ist, wie sich die Szenarien gegenseitig aufheben, dann scheint es rational, selbst bei Pascal’schen Szenarien den Erwartungswert zu maximieren. Auch hier kann man das Willkür-Argument bringen: Wenn man den Erwartungswert ablehnt, sobald die in Betracht genommenen Wahrscheinlichkeiten zu klein werden (bzw. die Utilities, die auf dem Spiel stehen zu gross), dann fragt sich, wo genau dies denn der Fall sein könnte. Wenn wir an dieser Stelle eine Willkürlichkeit postulieren, dann würde sich diese Willkürlichkeit auf das ganze Vorgehen, d.h. auf alle Fälle übertragen, bei denen wir Outcomes und Eintreffwahrscheinlichkeiten berücksichtigen müssten (also praktisch ständig), und wir könnten selbst die extremsten Formen der Risikoaversion (oder warum nicht auch Risikofreudigkeit?) nicht für irrational halten! Diese Alternative erscheint äusserst unplausibel.

 

Referenzen
Brian Tomasik (2007). Why maximize expected value
Martin Peterson (2009). An Introduction to Decision Theory. Cambridge University Press.
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https://gbs-schweiz.org/blog/was-ist-der-erwartungswert-und-warum-soll-ich-ihn-maximieren/feed/ 4
Zuerst kommt das Ziel https://gbs-schweiz.org/blog/zuerst-kommt-das-ziel/ https://gbs-schweiz.org/blog/zuerst-kommt-das-ziel/#comments Tue, 08 Oct 2013 17:30:16 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=5253 In Diskussionen zu ethischen Fragen wird zu wenig über Ziele gesprochen. Stattdessen läuft die Diskussion oft darauf hinaus, dass eine Partei empirisch etwas behauptet, was die andere Partei bestreitet. Dann geht es eine Weile vehement hin und her – und kaum jemand ändert die Meinung.

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Dieser Artikel ist ein Plädoyer dafür, mehr über Ziele selbst zu diskutieren, bevor wir uns über deren Machbarkeit zu streiten beginnen.

Um die Problematik zu verdeutlichen, folgen nun als Beispiel vier Gegenargumente zu einer ethischen Fragestellung. Nur zwei der Gegenargumente kritisieren direkt das Ziel oder die vorgeschlagene Intervention an sich. Die anderen zwei Argumente kritisieren nur indirekte Nebeneffekte, die möglicherweise entstehen können. Welche Argumente sind bloss empirisch?

Fragestellung: Sollte es erlaubt sein oder gar gefördert werden, mittels Embryonenselektion die Chancen zu erhöhen, dass Babys in ihrem Leben tendenziell eher glücklich und weniger anfällig für Depressionen sein werden?

Gegenargument_1: Nein, im Leben geht es auch darum, aus eigener Kraft Hindernisse zu überwinden und so einen starken Charakter zu entwickeln. Wenn die Mühen im Leben künstlich abgebaut werden, dann verliert das Leben potenziell an Wert.

Gegenargument_2: Nein, wenn man so etwas erst einmal erlaubt, wird man es nicht verhindern können, dass mittelfristig auch die Augenfarbe oder das Körpergewicht von den Eltern oder gar dem Staat bestimmt wird!

Gegenargument_3: Nein, nur die Reichen könnten sich so etwas leisten, was die Ungerechtigkeit in der Welt noch mehr verstärken würde.

Gegenargument_4: Nein, Embryonen sind menschliche Wesen und man darf sie nicht einem Selektionskatalog nach “aussortieren” und dann zerstören.

Zur Terminologie: Wenn wir über Ziele an sich diskutieren, dann befinden wir uns auf der normativen Ebene. Wenn wir über die Erreichbarkeit von Zielen und über mögliche Nebeneffekte diskutieren, dann sind wir auf der empirischen Ebene. Für die Qualität von ethischen Diskussionen (und v.a. auch politischen Diskussionen, welche auch zur Ethik gehören) ist es wichtig, sich dieser zentralen Unterscheidung bewusst zu sein.

Die Argumente eins und vier im Beispiel oben betreffen die normative Ebene. Diese Argumente kritisieren die Intervention und das Ziel selbst.
Die Argumente zwei und drei beziehen sich auf die empirische Ebene. Die Punkte, die kritisiert werden, sind keine inhärenten Bestandteile des vorgeschlagenen Ziels (hier: glücklichere Menschen) oder der Intervention (hier: Biotechnologie). Man kann sich nämlich Wege vorstellen, das besagte Ziel zu erreichen, welche ohne die befürchteten Nebeneffekte auskommen! Zum Gegenargument_3 könnte man beispielsweise erwidern, dass man in diesem Fall warten müsste, bis die Technologie auch sehr billig erhältlich ist.

Es lässt sich spekulieren, dass die Häufigkeit von empirischen Einwänden zu ethischen Positionen dadurch verstärkt wird, dass gewisse Leute gerne Intelligenz signalisieren, indem sie darauf hinweisen, dass gut gemeinte Interventionen aus komplexen Gründen negative Konsequenzen haben könnten. Wenn jemand beispielsweise dafür argumentiert, dass wir mehr Geld an effektive Hilfsorganisationen spenden sollten, dann kommt oft der Vorwurf, dass Hilfsorganisationen kontraproduktiv sein können. Gewisse Hilfsorganisationen sind das sicher, aber trifft es wirklich auf alle zu? Und selbst wenn das der Fall wäre, würde daraus nicht folgen, dass wir Geld dafür investieren sollten, etwas daran zu ändern?

Natürlich gibt es auch den umgekehrten Fall: Manchmal sind Menschen so sehr von einer schön klingenden Idee begeistert, dass sie empirische Gegenargumente völlig unterschätzen. E.O. Wilson, der Begründer der Soziobiologie und einer der renommiertesten Experten über Ameisen, hat zum Kommunismus gesagt: „Great idea, wrong species.“
Empirische Argumente haben durchaus ihren Platz in der angewandten Ethik. Oft weisen sie auf wichtige Probleme hin, und manchmal sind sie sogar stark genug, um die Idee, die diskutiert wird, im Alleingang vom Tisch zu nehmen. Man sollte sich aber stets bewusst sein, dass es sich bei empirischen Einwänden um Probleme handelt, die prinzipiell lösbar sind.

Schon am Anfang sehr viel Gewicht auf empirische Einwände zu setzen oder allgemein in ethischen Diskussion die normative Ebene nicht strikt von der empirischen Ebene zu trennen, birgt drei primäre Gefahren:

1) Menschen neigen dazu, zu selbstsicher zu sein. Die wenigsten TeilnehmerInnen in ethischen/politischen Diskussionen haben genug Expertise, um die Signifikanz von empirischen Einwänden definitiv abzuschätzen.

Wenn die normativen Argumente für eine bestimmte Handlung sprechen, dann sollte man es, selbst wenn man bezüglich der praktischen Umsetzbarkeit sehr skeptisch ist, willkommen heissen, dass ein Team von ExpertInnen die empirischen Begebenheiten genauer untersucht. Zumindest dann, wenn der mögliche Ertrag der Handlung, d.h. die mögliche Realisation des Ziels, den Aufwand wert ist. Am Beispiel oben: Wenn wir die durchschnittliche Lebensqualität womöglich massiv erhöhen könnten, wäre es eventuell angebracht, viele Ressourcen in die Erforschung der indirekten sozialen Konsequenzen einer solchen Intervention zu stecken.

Das beste Argument gegen empirische Einwände ist oftmals, dass man die Einwände besser studieren sollte. Entweder könnte man eine Änderung mit ungewissen Konsequenzen vorerst nur graduell einführen, um sich einen besseren Überblick über die Folgen zu verschaffen. Oder man könnte aktiv nach Lösungen suchen, um die vorgebrachten Einwände präventiv zu umgehen.

2) Was heute empirisch unmöglich ist, muss nicht für immer unmöglich bleiben. 

Wir befinden uns im Zeitalter des exponentiellen Technologie-Wachstums. Was heute noch nach Science-Fiction klingt, könnte in einem Jahrzehnt schon Realität sein. Wer aus empirischen Gründen eine Intervention oder ein bestimmtes Ziel ablehnt, und sich dabei aber nicht explizit bewusst ist, dass das Ziel eigentlich normativ erstrebenswert ist, der könnte es verpassen, die nötigen Schritte in die Wege zu leiten, so dass das Ziel in der Zukunft einmal erreicht werden wird, sobald die Empirie dies zulässt.

Bei gewissen Fragen steht enorm viel auf dem Spiel, und da wäre es äusserst schade, wenn wir es wegen einem zu starken Fokus auf empirische Argumente versäumen, alles mögliche zu unternehmen, um ein schwierig umsetzbares Ziel dennoch zu erreichen.

3) Empirische Scheinargumente können verschleiern, dass wir eine bestimmte Handlung eigentlich nur aus einem Bauchgefühl heraus ablehnen, ohne dafür gut durchdachte Gründe zu haben.

Aus evolutionären und auch kulturellen Gründen haben Menschen zu bestimmten Themen starke moralische Intuitionen. Nicht alles, was zu den Zeiten unserer Vorfahren positiv für das Verbreiten der menschlichen Gene war, ist heutzutage ethisch sinnvoll. Es macht deshalb Sinn, moralische Bauchreaktionen kritisch zu hinterfragen.

In einem Experiment1 mussten Versuchspersonen einen Text lesen, in dem ein Fall von Inzest beschrieben wurde. Im Text wurde unmissverständlich festgehalten, dass niemand (ausser den Beteiligten) jemals davon erfährt, dass die zwei Beteiligten es nur einmal taten, dass doppelt verhütet wurde, und dass niemand dabei negative Gefühle hatte – weder im Moment selbst noch irgendwann in der Zukunft.

Die Versuchspersonen wurden gefragt, ob sie die Handlung für moralisch akzeptabel befanden.

Viele gaben als Antwort ein klares Nein. Als sie jedoch nach Gründen für ihre Antwort gefragt wurden, gaben einige zuerst empirische Einwände an, die im Text explizit ausgeschlossen wurden! Und als die Versuchspersonen darauf hingewiesen wurde, sagten sie schlussendlich Dinge wie „Ich kann es nicht erklären, aber ich weiss einfach, dass es falsch ist.“.
Der Psychologe Jonathan Haidt taufte dieses Phänomen moralische Sprachlosigkeit („moral dumbfounding“). Die Menschen haben starke Bauchreaktionen, aufgrund deren sie sich entscheiden, dass eine Handlung falsch ist. Nach dieser Entscheidung suchen sie (manchmal etwas verzweifelt) nach Gründen, um die Entscheidung zu rechtfertigen2.

Im Falle von Inzest sind die Konsequenzen dieses Phänomens wohl nicht besonders schlimm. Aber beispielsweise wenn es um die Frage geht, ob homosexuelle Paare Gleichberechtigung verdienen, könnte es einen starken Einfluss  auf die Meinung bestimmter Leute haben.

Wenn man zuerst nach normativen Einwänden sucht, vermeidet man, aus intuitiven Gründen Positionen zu verteidigen, die man rational nicht begründen kann. Gewisse Fragen sind zu wichtig dafür, als dass wir sie ohne genaueres Nachdenken kategorisch ablehnen.

Konklusion

Um ethische/politische Fragestellungen möglichst systematisch und überlegt anzugehen, lohnt es sich, die folgende Reihenfolge einzuhalten:

  1. Ist das vorgeschlagene Ziel prinzipiell erstrebenswert? (Hier helfen Gedankenexperimente.)
  2. Falls es prinzipiell erstrebenswert ist, lässt es sich auch ohne schlechte Nebeneffekte erreichen? Was müsste dafür getan werden? Wo müsste noch geforscht werden?

Wer keine normativen Gegenargumente zu einer Intervention findet, der sollte sich dies eingestehen und aktiv nach Möglichkeiten suchen, empirische Schwierigkeiten zu umgehen. Es ist nicht immer einfach oder offensichtlich, Wege zu finden, die zu einer besseren Welt führen.

Referenzen:

  1. Haidt, J., Koller, H. & Dias, M.G. 1993. Affect, culture, and morality, or Is it wrong to eat your dog? Journal of Personality and Social Psychology, 65, 613-628.
  2. Haidt, Jonathan. 2001. The emotional dog and ist rational tail: A social intuitionist approach to moral judgment. Psychological Review, 108. 813-834.
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https://gbs-schweiz.org/blog/zuerst-kommt-das-ziel/feed/ 2
Speziesismus – Teil 2 https://gbs-schweiz.org/blog/speziesismus-teil-2/ https://gbs-schweiz.org/blog/speziesismus-teil-2/#respond Mon, 03 Jun 2013 00:13:41 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=4333 Wenn es darum geht, Tieren mehr Rechte zu gewähren oder Ressourcen aufzuwenden, um ihnen zu helfen, dann kommen (explizit oder implizit) oft Einwände wie: „Es sind aber nur Tiere, keine Menschen!“

Obwohl solche Aussagen argumentativ nichts zur Diskussion beitragen (siehe Teil 1), klingen sie für manche intuitiv trotzdem sehr überzeugend. Es gibt jedoch Überlegungen, die zur Vorsicht mahnen, wenn es um unreflektierte moralische Intuitionen geht. Insbesondere in Fällen, welche die Ungleichbehandlung verschiedener Gruppen betreffen, sollte man doppelt kritisch eingestellt sein. Historisch wurden die Strömungen, die Gleichberechtigung (z.B. von Dunkelhäutigen oder Frauen) gefordert hatten, mit ähnlich „offensichtlichen“ Bemerkungen abgetan. Heute sieht die Situation erfreulicherweise anders aus: Rassistische oder sexistische Haltungen, welche gesellschaftlich einst absolut normal waren, sind heutzutage, wenn auch nicht völlig verschwunden, zumindest massiv zurückgegangen und nicht mehr salonfähig. Beim Speziesismus steht der Gesellschaft allerdings noch ein beträchtlicher Weg bevor.

Wenn die Argumente in diesem Doppel-Blogpost schlüssig sind, dann verhält sich der Speziesismus als Form von Diskriminierung ethisch analog zu Rassismus und Sexismus. Zugegebenermassen gibt es einen erwähnenswerten Unterschied, nämlich dass Menschen sich in einigen Bereichen im Durchschnitt wirklich stark von anderen Tieren unterscheiden. Wenn Sexisten argumentieren, dass Frauen Männern in wichtigen Belangen unterlegen sind, dann liegen sie faktisch falsch. Aber selbst wenn dem nicht so wäre, könnte man den Sexisten immer noch Inkonsequenz vorwerfen, wenn sie die gleichen Kriterien nicht beim eigenen Geschlecht anwenden würden. Ein Sexist, der Frauen moralisch weniger berücksichtigt als Männer, „weil Frauen dumm sind“, müsste theoretisch ein auf IQ basierendes gesellschaftliches Kastensystem gutheissen, bei dem auch manche Männer darunter leiden würden. („Intelligenzist“ wäre in dem Fall vielleicht ein passenderer Ausdruck; sexistisch wäre der Mann nur, wenn er die selbst genannten Kriterien inkonsequent – hier eben nur bei Frauen – anwenden würde.)

Aber egal welches Kriterium man als Rechtfertigung für die unterschiedliche moralische Berücksichtigung von Tieren angibt: Es wird höchstens im Durchschnitt eher auf den Menschen zutreffen, nie aber auf alle Menschen gleichermassen. Und von einem Gruppendurchschnitt kann man nicht auf den Status eines Individuums schliessen.

Nehmen wir zur Verdeutlichung dieser Behauptung einen Kontext, in dem räumliche Intelligenz relevant ist: Ein Architekturbüro schreibt eine Stelle aus. Angenommen es stimmt, dass Frauen im Durchschnitt schlechter darin sind, räumlich zu denken. Wäre es dann angebracht, wenn der Chef-Architekt alle von Frauen geschriebenen Bewerbungen ungelesen in den Müll befördern würde, nur weil Frauen im Durchschnitt weniger gut räumlich denken? Natürlich nicht! Der Gruppendurchschnitt sagt in diesem Fall nichts über eine bestimmte Bewerberin aus. Analog: Im Durchschnitt sind Männer grösser als Frauen, daraus folgt jedoch nicht, dass es keine Frauen gibt, die grösser sind als die meisten Männer. Wenn wir Gruppendurchschnitte in solchen Fällen nicht relevant finden, warum dann plötzlich in tierethischen Fragen? Die Inkonsistenz ist ein typisches Anzeichen dafür, dass es sich bei solchen Argumenten um Rationalisierungen handelt.

Weitere Probleme der These, Spezies-Gruppendurchschnitte seien ethisch relevant: Unterdurchschnittliche Individuen erhalten einen Bonus; überdurchschnittliche einen Malus. So ist es möglich, dass ein überdurchschnittliches Individuum einer Art mit tiefem Durchschnitt einen tieferen Status erhält als ein unterdurchschnittliches Individuum einer anderen Art mit hohem Durchschnitt, obwohl es an sich höher steht. Im Gedankenexperiment: Wenn man Intelligenz für relevant hielte, könnte einem (aufgrund einer Megamutation) sprachbegabten Schwein ein tieferer Status zugesprochen werden als einem sprachunfähigen Menschen, weil es zur „falschen“ Gruppe bzw. zu einer Gruppe mit tieferem Durchschnittswert gehört. – Hier zeigt sich auch ein weiteres Problem: Wie wählen wir die Gruppen, deren Durchschnitte dann relevant sein sollen? Warum sollten gerade Spezies-Gruppen und nicht z.B. Gewichts- oder Geschlechtsgruppen relevant sein?

Manche mögen an dieser Stelle einwenden, dass trotzdem etwas speziell sei an der Artzugehörigkeit – oder dass es sich zumindest „so anfühlt“. In der westlichen Kultur ist diese Ansicht tief verankert, da der Mensch den monotheistischen Religionen nach als „Ebenbild Gottes“ und „Krone der Schöpfung“ klar über den Tieren steht, was auch die Hauptströme der westlichen Philosophie bestätigt haben. Spätestens seit Darwin wissen wir jedoch, dass wir uns in vielerlei Hinsicht nicht fundamental von den anderen Tieren unterscheiden. Biologisch gehören Menschen zu den Trockennasenaffen. Erstaunlicherweise sind wir z.B. evolutionär näher verwandt mit den Schimpansen als diese mit den Gorillas.

Das folgende Gedankenexperiment verdeutlicht, dass es sich beim Begriff „Spezies“ um ein willkürlich zustande gekommenes Konzept ohne ethische Relevanz handelt: Gehen wir in der Evolutionsgeschichte zurück, Generation für Generation (z.B. Enkelin, Mutter, Grossmutter usw.), dann kommen wir irgendwann zum gemeinsamen Vorfahren, welche die ursprüngliche Person mit einem nicht-menschlichen Tier, beispielsweise mit einer Kuh, teilt. Und von diesem Punkt aus gibt es einen direkten Weg zur Kuh, wieder vorwärts in der Evolutionsgeschichte. Auf die gleiche Weise kommt man zurück zur eigenen Grossmutter und wieder vorwärts zur Cousine; bei der Kuh ist der zurückgelegte Weg einfach um einiges länger. Wenn wir uns eine solche Aneinanderreihung vorstellen, wird klar, wo die Limitationen des Konzepts „Spezies“ liegen. Nachbarn in dieser Reihe unterscheiden sich nämlich (per definitionem) niemals mehr, als sich eine Mutter von ihrer Tochter unterscheidet. Es gibt keinen Katalog von relevanten Merkmalen zur Frage, ab wann genau ein Wesen noch zur Spezies „Homo sapiens“ gehört, und ab wann es sich um den letzten Vertreter von „Homo erectus“ handelt. Es wäre völlig willkürlich, irgendwo eine Grenze zwischen Mutter und Tochter zu ziehen und dann zu behaupten, dass genau diese Grenze moralisch relevant wäre.

Rein pragmatisch können wir eine solche Grenze höchstens stipulativ-definierend festlegen, so wie wir bestimmen, dass Jugendliche genau am 18. Geburtstag „erwachsen“ werden. Das bedeutet jedoch nicht, dass sich alle 18-jährigen qualitativ von allen 17-jährigen unterscheiden, oder dass jedem Homo sapiens eine „Essenz“ innewohnt, die bei Mitgliedern anderer Arten fehlt. Eine in der Biologie sehr gängige Definition von „Spezies“  besagt beispielsweise, dass Gruppen von Wesen verschiedenen Spezien angehören, wenn sie nicht in der Lage sind, miteinander fortpflanzungsfähige Nachkommen zu zeugen. Warum sollte diese Eigenschaft aber ethisch relevant sein? Und wie könnte aus ihr folgen, dass dem Homo sapiens (und nicht einer andere Spezies) ein besonderer Status zukommt?

Dass es alle Individuen in der oben gedanklich vorgestellten evolutionären Mutter-Tochter-Reihe wirklich gegeben hat, ist insofern eine erfreuliche Begebenheit, als dass sie das Argument für den Anti-Speziesismus psychologisch überzeugender macht. Eigentlich ist es aber gar nicht nötig: Selbst wenn die Kreationisten Recht hätten und es gar keine Evolution gegeben hätte, wäre alleine die Vorstellbarkeit einer solchen Aneinanderreihung Grund genug, eine Ethik anzuzweifeln, die nur der menschlichen Spezies eine Sonderstellung gewährt. (Gedankenexperimente haben logisch-argumentative Kraft.)

An dieser Stelle wird in der Diskussion gerne behauptet, dass es in der Ethik darum gehe, Regeln für das Funktionieren von menschlichen Gesellschaften aufzustellen und (eventuell) mit dem Verweis auf Eigeninteresse zu begründen. Ein solcher Ethikbegriff ist jedoch absurd und nutzlos, weil man damit kaum je etwas Neues herausfindet bzw. in einer stabilen Gesellschaft apriori ausschliesst, dass man ethisch falsch liegen kann. Man würde ständig nur den Status quo jeder „funktionierenden“ Gesellschaft rechtfertigen. Und absurd wäre der Begriff deshalb, weil wir uns durchaus stabile menschliche Gesellschaften vorstellen können, wo gewisse Menschengruppen keine Grundrechte haben, und wo es nicht im Eigeninteresse der Höhergestellten liegt, dies zu ändern. (Im Gedankenexperiment können wir uns auch technologisch übermächtige Aliens vorstellen, die eine Menschennutzung „rechtfertigen“ könnten, wenn das Argument stichhaltig wäre.)

Die Kernaussage des Anti-Speziesismus lässt sich intuitiv und einleuchtend wie folgt zusammenfassen: Macht es nicht Sinn, dass gleiche Interessen auch gleich zählen; dass Leid gleich Leid ist, egal wer leidet? Warum sollte es eine Rolle spielen, ob ein Wesen zwei, drei oder vier Beine hat, oder ob es einen Mund, eine Schnauze oder einen Schnabel besitzt? Mit welchem Recht sprechen wir dem Schwein das Recht auf Unversehrtheit ab? Sieht es etwa „falsch“ aus, hat es die „falsche“ Anzahl Beine oder die „falsche“ DNA?

Die riesige Anzahl nicht-menschlicher Tiere auf der Erde und die schrecklichen Zustände, welchen die meisten von ihnen ausgesetzt sind, liefern Argumente für das grosse praktische Gewicht des Anti-Speziesismus als ethische Erkenntnis. Wer die Welt mit anti-speziesistischen Augen sieht, sieht sie ganz anders. Ein Ferkel sehen diese Augen wie ein Kleinkind, das einfach etwas anders aussieht. Es liegt auf der Hand, dass sich daraus ein starkes Argument für die hohe ethisch-politische Priorität der Forderung nach Tierrechten ergibt.

Serie: Speziesismus

  1. Ethik an der Speziesgrenze – Teil 1
  2. Speziesismus – Teil 2
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https://gbs-schweiz.org/blog/speziesismus-teil-2/feed/ 0
Ethik an der Speziesgrenze – Teil 1 https://gbs-schweiz.org/blog/speziesismus/ https://gbs-schweiz.org/blog/speziesismus/#comments Tue, 14 May 2013 19:46:27 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=4224

Ein ausgewachsenes Pferd oder ein Hund sind ungleich rationaler und auch kommunikativer als ein Kleinkind im Alter von einem Tag, einer Woche oder einem Monat. Doch was besagt das schon? Die Frage lautet nicht: Können sie denken?, noch: Können sie sprechen?, sondern: Können sie leiden?

– Jeremy Bentham

Schon 1823 erkannte der Philosoph Jeremy Bentham, dass Kriterien wie Intelligenz oder Sprachfähigkeit bei Menschen für den moralischen Status irrelevant sind. Nicht alle Menschen können rechnen oder über Moral nachdenken, aber trotzdem glauben wir, dass alle Menschen in einem relevanten Sinne gleich sind bzw. gleich zählen. Dies kann sinnvollerweise so interpretiert werden, dass alle einen gleichen Anspruch haben, ihren Interessen und Bedürfnissen gemäss moralisch berücksichtigt zu werden. Bentham sah ein, dass es willkürlich wäre, empfindungsfähige nicht-menschliche Tiere – d.h. Tiere, welche gleichermassen Interessen und Bedürfnisse haben – von dieser Berücksichtigung auszuschliessen. Benthams Erkenntnis blieb jedoch lange ohne Folgen. Erst in den Siebzigerjahren des letzten Jahrhunderts, als Peter Singer den Begriff „Speziesismus“ bekannt machte und die Analogie zu Rassismus und Sexismus zog, fasste die Tierrechtsbewegung richtig Fuss.

Der Speziesismus ist die Diskriminierung aufgrund der Artzugehörigkeit. Es ist speziesistisch, wenn ein Wesen nur wegen der Artzugehörigkeit mehr oder weniger moralische Berücksichtigung erfährt. Das „nur“ im vorherigen Satz ist der springende Punkt, was leider oft missverstanden wird. Anti-Speziesismus bedeutet nicht, dass Fliege, Mensch, Kaktus und Schwein gleich zu behandeln sind – obwohl sie alle unterschiedlichen biologischen Arten angehören. Es geht nicht darum, relevante Unterschiede zwischen den Individuen verschiedener Arten zu ignorieren, sondern darum, dass gleiche bzw. gleich gewichtige Interessen fairerweise auch gleich berücksichtigt werden sollen – unabhängig von der Artzugehörigkeit der entsprechenden Individuen. Wo keine Interessen vorliegen, kann man auch keine berücksichtigen.

So ist es zum Beispiel keineswegs speziesistisch, einem Schwein das Recht auf Meinungsfreiheit zu „verweigern“. Weil Meinungsfreiheit nicht im Interesse des Schweins liegt, könnte es gar keinen Gebrauch von einem solchen Recht machen. Obwohl es zutrifft, dass kein Schwein ein Interesse an Meinungsfreiheit hat, ist es nicht primär die Spezieszugehörigkeit, die hierfür den Ausschlag gibt. Eine Ausnahme ist zumindest vorstellbar: Wenn nun, hypothetisch, ein bestimmtes Schwein plötzlich zu sprechen beginnen und die Zustände in der Nutztierhaltung anprangern würde, wäre es dann nicht klar unzulässig, ihm (etwa aufgrund „falscher“ Spezieszugehörigkeit) die Meinungsfreiheit abzusprechen?

Natürlich existieren oft beträchtliche Unterschiede zwischen Mitgliedern verschiedener Arten. Die zentrale Frage ist, wo und wann die vorhandenen Unterschiede auch wirklich relevant sind. Manchmal sind sie es: Ein Kaktus kann z.B. nicht auf die gleiche Weise verletzt werden wie ein Schwein. Im Gegensatz zu Schweinen sind Kakteen nämlich (höchstwahrscheinlich) nicht empfindungsfähig. Der Kaktus hat keine „Ich-Perspektive“, für die ein Zustand gut oder schlecht sein kann. Wenn hingegen einem Schwein Leid zugefügt wird – wenn es beispielsweise ohne Betäubung kastriert wird – dann existiert aller Wahrscheinlichkeit nach ganz real ein Zustand, der vom Schwein als schlecht empfunden wird und aus dem es unbedingt hinaus möchte.

Speziesismus liegt dann vor, wenn gezeigt werden kann, dass die Unterschiede, die als Rechtfertigung der geringeren Berücksichtigung der Mitglieder gewisser Arten angeführt werden, nicht relevant sind. Dies scheint in der gesellschaftlichen Diskussion zur Tierethik oft der Fall zu sein. Das zeigt sich zum Beispiel darin, dass wir die Kriterien, welche die Ungleichbehandlung rechtfertigen sollten, bei Mitgliedern der menschlichen Spezies niemals akzeptieren würden. Wer behauptet, dass Tierleid nichts (oder weniger) zählt, weil Tiere nicht intelligent, sprachbegabt oder zu moralischen Erwägungen fähig seien, der müsste konsequenterweise auch akzeptieren, dass die Interessen von Menschen, welche die obigen Kriterien nicht erfüllen, nichts (oder weniger) zählen. Die wenigsten dürften ernsthaft bereit sein, diese Kriterien anzubringen, nachdem sie diese Inkonsistenz bemerkt haben. Gewiss: Wenn es um die Verteidigung der eigenen Essgewohnheiten geht, wird sich die Anzahl dieser Leute wohl erhöhen. Dann wäre der Grund dafür jedoch unmittelbares Eigeninteresse, und nicht eine rationale Argumentation, welche das Fundament unserer ethischen Positionen bilden sollte. Und es handelt sich in der Tat meist um eine unredliche Rationalisierung, wenn Leute im Kontext einer hitzigen Diskussion akzeptieren, dass die Interessen weniger intelligenter, sprachbegabter oder zu Moralerwägungen fähiger Menschen weniger zählen.

Die Moralfähigkeit als Kriterium rührt wohl von der Intuition, dass es „ohne Pflichten keine Rechte“ geben könne bzw. dass „Rechte an Pflichten“ gebunden seien. Das stimmt in dem trivialen Sinne, als „X hat ein Recht“ nichts anderes bedeutet als „Moralische Akteure haben gegenüber X eine Pflicht“. Rechte implizieren also Pflichten bei anderen. Es ist aber nicht ersichtlich, warum die Träger von Rechten zwingend auch Träger von Pflichten sein müssten. Und in der Tat: Aus unterschiedlichen Gründen sind manche Menschen keine Pflicht-Träger, Recht-Träger aber sind sie alle.

Zusätzlich zur kontraintuitiven Konklusion, dass das Leid etwa von Kleinkindern oder Menschen mit fortgeschrittener Demenz weniger zählen würde, scheint die Position, dass Intelligenz für das „Nicht-leiden-Müssen“ relevant sei, auch an sich völlig willkürlich. Wenn ich mir introspektiv mein Leid vergegenwärtige, dann erscheint es mir nicht deshalb schlecht, weil ich sprechen oder rechnen kann. Um die unmittelbare Wichtigkeit meines Nicht-Leidens zu erkennen bzw. zu fühlen, muss ich auch nicht in der Lage sein, über moralische Pflichten nachzudenken, die ich gegenüber anderen haben könnte. Es ist kein Grund ersichtlich, weshalb Leid nur zählen sollte, wenn ein Wesen intelligent ist. Das Schlechte am Schmerz ist der Schmerz selbst. (Bemerkenswert an der Intelligenz-Position ist im Übrigen auch, dass es diese Ethik hochintelligenten Ausserirdischen erlauben könnte, uns zu versklaven. Hier wird die Intelligenz-Position natürlich versuchen, zu behaupten, wir hätten eine relevante Intelligenz-Schwelle überschritten. Doch welche nicht-willkürliche Schwelle könnte dies sein?)

An dieser Stelle ein Einschub: Bisher war oft von Leid(verursachung) die Rede, nicht vom Töten. Dies ist bewusst gewählt. Die ethische Frage, ob der Tod an sich ein Übel darstellt, und wenn ja, abhängig von welchen Kriterien und in welchem Ausmass, ist komplex und würde den Rahmen dieses Blog-Artikels sprengen. Um die wesentlichen Argumente zum Anti-Speziesismus zu erläutern, genügt es, sich auf eine ethisch relevante Grösse (hier: Leid) zu konzentrieren.

Um die Ungleichbehandlung von nicht-menschlichen Tieren zu rechtfertigen, wird oft auch über die Empathie argumentiert. Weil Menschen für andere Tiere in der Regel weniger Empathie empfinden als für ihre Artgenossen, ist – so das Argument – die geringere moralische Berücksichtigung der Tiere in Ordnung (d.h. keine unzulässige Diskriminierung). Wenn dieses Argument jedoch durchginge, könnten wir auch in Fällen, wo willkürlich Menschengruppen diskriminiert werden, argumentativ nicht mehr stichhaltig kontern. Die Geschichte lehrt uns leider, dass sich die Empathie bei Menschen erschreckend einfach selektiv abschalten lässt, wenn es um das Wohl einer „In-group“ geht, der eine „Out-group“ entgegensteht. Es ist schlichtweg nicht der Fall, dass alle Menschen für alle anderen Menschen gleichermassen Empathie empfinden. Trotzdem betrachten wir die Idee der gleichen Menschenrechte (zu Recht) als fortschrittlich und richtig. Die Ethik bedarf wohl eines allgemein-empathischen Inputs, aber die Empathie alleine ist evolutionär und historisch sehr kontingent und beim Auffinden dessen, was ethisch gut, wichtig und richtig ist, ohne die Rationalität unverlässlich.

Im Zuge der kulturellen Evolution hat sich der moralische Kreis der „In-group“ glücklicherweise auf die gesamte Menschheit ausgedehnt (obwohl es natürlich weiterhin grosse Probleme gibt). Angesichts der Argumente gegen den Speziesismus scheint es höchste Zeit zu sein, den moralischen Kreis um alle bisher ausgeschlossenen empfindungsfähigen Wesen zu erweitern.

Serie: Speziesismus

  1. Ethik an der Speziesgrenze – Teil 1
  2. Speziesismus – Teil 2
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Gedankenexperimente in der Ethik https://gbs-schweiz.org/blog/gedankenexperimente-in-der-ethik/ https://gbs-schweiz.org/blog/gedankenexperimente-in-der-ethik/#comments Sun, 12 May 2013 20:08:18 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=4200

„Angenommen, es gäbe eine Maschine, an die du dich anschliessen könntest, so dass dir virtuell das perfekte Leben simuliert wird – alles genau so, wie du es dir wünschst. Würdest du dich anschliessen?“

„Nein! Das wäre ja überhaupt nicht real! Schrecklich! Du hast mich gerade derart aus der Fassung gebracht, dass ich mich auf andere Gedanken bringen muss. Ich gehe jetzt online und spiele World of Warcraft!“

Interessant ist hier auch der Reversal Test, der nahelegt, dass die intuitive Ablehnung der „Experience Machine“ auf einem Status quo Bias beruhen könnte: Würdest du die Maschine verlassen wollen, wenn du immer schon an sie angeschlossen warst und dann erfährst, dass alles virtuell war?

Doch beginnen wir vorne: In der Ethik wie auch in der Philosophie allgemein gehören Gedankenexperimente zum methodischen Grundinventar. Manche Gedankenexperimente – wie etwa Nozicks „Experience Machine“ (die Frage oben) oder Philippa Foots „Trolley Problem“ (siehe unten) – sind so bekannt, dass sie über die akademische Philosophie hinaus rege diskutiert werden. Weil es bei ihnen oft der Fall ist, dass verschiedene Leute mit starker Überzeugung gegenteilige Positionen vertreten, sind sie gut geeignet, Diskussionen in Gang zu setzen. Allerdings ist bei diesen Diskussionen oft nicht allen Beteiligten klar, wie ein Gedankenexperiment funktioniert bzw. was überhaupt der Sinn eines solchen ist. In den folgenden Abschnitten wird deshalb erläutert, was es mit Gedankenexperimenten auf sich hat und weshalb gewisse Reaktionen, die oft vorkommen, den Punkt völlig verfehlen.

Im Gegensatz zu Hypothesen in den Naturwissenschaften können ethische Prinzipien oder Theorien nicht empirisch überprüft werden. Trotzdem gibt es rationale Ansätze, die zur Beurteilung ethischer Theorien herangezogen werden können. Abgesehen von formalen Kriterien wie Widerspruchsfreiheit (wer gleichzeitig A und nicht-A behauptet, der behauptet effektiv gar nichts) zählt auch, wie gut ein Standpunkt und die dafür vorgebrachte Argumentation der Überprüfung durch Gedankenexperimente standhalten. Denn oft besteht der Zweck eines Gedankenexperiments darin, eine spezifische Intuition oder Annahme ad absurdum zu führen. Für das zu überprüfende Kriterium wird eine (Entscheid-)Situation konzipiert, in der die Vertreter einer bestimmten Position nicht mehr gewillt sein sollen, ihre Prinzipien konsequent anzuwenden. Damit es nicht zu Missverständnissen kommt bzw. damit man eine spezifische Frage isoliert betrachten kann, werden (wie in den empirischen Wissenschaften) alle für die spezifische Frage irrelevanten Variabeln ausgeschlossen, was dazu führen kann, dass Gedankenexperiment-Situationen in der realen Welt selten oder (vorerst?) gar unmöglich sind.

Zur beispielhaften Verdeutlichung eine Variante des Trolley-Problems, dem vielleicht bekanntesten Gedankenexperiment in der Ethik:

Teil 1 (Standard Case): Eine Strassenbahn ist ausser Kontrolle geraten und fährt einen Abhang hinunter auf fünf Arbeiter zu, die auf dem Gleis feststecken. Du stehst als Beobachter neben dem Gleis und kannst einen Hebel betätigen, der die Weiche so umstellen würde, dass die Strassenbahn auf ein Nebengleis gelenkt wird. Auf dem Nebengleis steckt ein einzelner Arbeiter fest. Solltest du den Hebel umlegen, so dass anstelle von fünf Leuten nur jemand stirbt?

Teil 2 (Fat Man Case): Fünf Arbeiter stecken auf dem Gleis fest, die Strassenbahn nähert sich. Diesmal gibt es aber kein Nebengleis. Stattdessen befindet sich über der Strasse eine kleine Brücke, an deren Rand ein dicker Mann steht. Du stehst hinter dem Mann und realisierst, dass das Gewicht des dicken Mannes die Strassenbahn aufhalten würde. Da er jedoch nicht von sich aus springen wird, müsste er von hinten von der Brücke gestossen werden. Solltest du den Mann von der Brücke stossen, so dass anstelle von fünf Leuten nur jemand stirbt?

Zunächst fällt wohl auf, dass die hypothetischen Szenarien ziemlich weit hergeholt sind. Insbesondere im zweiten Szenario scheint es völlig unplausibel, dass das Gewicht eines Mannes eine Strassenbahn aufhalten könnte. Um das Gedankenexperiment realistischer zu machen, könnte man das Szenario natürlich geschickt abändern. Doch darum geht es bei Gedankenexperimenten nicht! Solange wir uns darüber im Klaren sind, was im Beispiel nach definitorischer Voraussetzung der Fall ist und was nicht, erfüllt auch ein völlig unrealistisches Gedankenexperiment seinen Zweck (ja der Parameter „(un)realistisch“ spielt hier nicht die geringste Rolle).

Hier die „Regeln“ für das Nachdenken über Gedankenexperimente:

1) Es gibt nur die Handlungsmöglichkeiten, die im Beispiel vorgestellt werden. Es ist nicht erlaubt, weitere Handlungsmöglichkeiten vorzuschlagen, die das Beispiel zu einem anderen machen, um das es aktuell nicht geht.

2) Es gibt nur die Konsequenzen, die im Gedankenexperiment vorgestellt werden. Es ist nicht erlaubt, zusätzliche mögliche Konsequenzen für die Entscheidung zu berücksichtigen. Nach dem Gedankenexperiment endet die Welt sozusagen.

Nur wenn man die Handlungsmöglichkeiten und Konsequenzen gezielt einschränkt, können zusätzliche Variabeln ausgeklammert werden, die gerade nicht interessieren, und können damit alle Variablen einzeln betrachtet und geklärt werden. Nur so kann man sich ohne Störfaktoren auf die zu überprüfenden ethischen Prinzipien konzentrieren. Wenn sich dann herausstellt, dass man ein bis anhin als vernünftig bewertetes Prinzip nicht mehr anwenden würde, dann ist dies eine wichtige neue Erkenntnis, die weitreichende Folgen haben kann.

Im Trolley-Beispiel oben geht es um die Frage, ob für eine Handlung nur die guten/schlechten Konsequenzen eine Rolle spielen oder ob es einen Unterschied macht, wie die Konsequenzen herbeigeführt werden, d.h. ob die Tatsache, dass jemand bei der Hervorbringung von Konsequenzen als Mittel fungiert oder verwendet wird, auch als schlechte Konsequenz zählt. In Teil 1 sind die meisten Menschen gewillt, den Trolley umzulenken, so dass nur jemand stirbt. In Teil 2 sieht es aber anders aus – die meisten Menschen würden den dicken Mann nicht von der Brücke stossen. Kann es also sein, dass nebst den Konsequenzen einer Handlung auch noch anderes ethisch zählt? Anhand der beiden Beispiele kann man nun versuchen, herauszufinden, was genau ein relevanter Unterschied sein könnte. Daraus lassen sich neue Hypothesen für ethische Prinzipien ableiten. Jemand, der in Teil 2 den dicken Mann nicht von der Brücke stossen würde, könnte behaupten, dass es falsch ist, Menschen zu instrumentalisieren bzw. „als Mittel zu verwenden (zu einem konsequentialistisch wichtigeren Zweck)“.

Im Gegenzug können diejenigen, die nur nach den Konsequenzen einer Entscheidung gehen (die Konsequentialisten), ein weiteres Beispiel anführen:

Teil 3 (Loop Case): Die Situation des ersten Beispiels, ausser dass das Nebengleis, welches zum einzelnen Arbeiter führt, nach einem kurzen Schwenker (Loop) wieder auf das Hauptgleis trifft (und zwar vor der Stelle, wo die fünf Arbeiter feststecken). Zusätzlich ist der eine Arbeiter auf dem Nebengleis sehr dick, so dass sein Gewicht den Trolley aufhalten würde. Solltest du den Hebel betätigen, so dass anstelle von fünf Menschen nur jemand stirbt?

Man würde wohl meinen, dass Teil 3 in allen relevanten Belangen identisch mit Teil 1 ist. Wenn man Leuten, die noch nie mit Trolley-Beispielen konfrontiert wurden, Teil 1 oder Teil 3 als Erstes vorstellt, wird die Aufteilung der Antworten wohl sehr ähnlich ausfallen. Interessanterweise verletzt Teil 3 aber das Prinzip, dass man Menschen nicht „als Mittel (zu einem konsequentialistisch wichtigeren Zweck)“ verwenden darf. Wenn der dicke Mann nicht auf dem Nebengleis läge, dann würde der Trolley nämlich wieder zurück auf das Hauptgleis geführt und dort die fünf Arbeiter überfahren. Kann es sein, dass ein zusätzliches Stück Schiene darüber entscheidet, ob die richtige Handlung anstelle von einem zu fünf Opfern führt? Oder folgt aus dem Beispiel, dass das Nicht-als-Mittel-Prinzip absurd ist und dass es deshalb wieder wahrscheinlich wird, dass nur Konsequenzen eine Rolle spielen?

Um die Frage abschliessend zu beantworten, müsste man natürlich noch weitere Variationen des Beispiels durchgehen. Ausserdem könnte man versuchen, zu erklären, weshalb Menschen bei verschiedenen Beispielen geneigt sind, unterschiedliche Antworten zu geben. So wurde zum Beispiel festgestellt, dass in Teil 2 viel eher Hirnregionen aktiv sind, die mit Emotionen zu tun haben, während in Teil 1 diejenigen Regionen dominieren, welche für das rationale Denken zuständig sind. Aus evolutionären Gründen ist es naheliegend, dass wir eine intuitive Abneigung gegen physische Gewalt (den dicken Mann von der Brücke stossen) haben. Sind diese evolutionären Gründe in Bezug auf ethische Erkenntnisse aber zielführend? Wenn nicht, d.h. wenn wir erklären können, weshalb eine gewisse Intuition besteht, und wenn die Erklärung für die Ausgangsfrage (hier: Ethik) keine Relevanz hat, dann ist dies ein Grund, die Intuition hinsichtlich der relevanten Frage zu entkräften.

Man kann aus Gedankenexperimenten also überraschend viel herausholen. Wenn sich zwei Menschen bei einer ethischen Frage nicht einig sind, heisst das noch lange nicht, dass damit die Diskussion abgeschlossen sein muss. Jemand, der Gedankenexperimente schon von vornherein ablehnt, weil sie „weit hergeholt sind“, wird leider gar nie so weit kommen.

Gleichzeitig sollte man sich natürlich auch der Limitationen von Gedankenxperimenten bewusst sein. Ein Gedankexperiment dient dazu, ethische Prinzipien zu überprüfen. Man sollte daraus auf keinen Fall direkte Handlungsanweisungen für die reale Welt ableiten. Falls es beispielsweise in einem Gedankenexperiment die richtige Handlung wäre, einen gesunden Patient zu töten, um mit den Organen fünf kranke Patienten zu retten, dann heisst das natürlich nicht, dass Ärzte in der realen Welt so etwas tun sollten. In der realen Welt gibt es zahlreiche zusätzliche Faktoren, die eine Rolle spielen. Ausserdem ist es in der realen Welt auch enorm wichtig, nach weiteren Handlungsalternativen Ausschau zu halten (die das Gedankenexperiment ausblendet, um analytische Klarheit zu schaffen und einzelne Faktoren isoliert betrachten zu können), denn wer die Handlungsmöglichkeiten voreilig einschränkt, handelt irrational.

Zusammenfassend die Antwort auf die folgende Frage:

„Warum sollte ich mich von irgendwelchen Gedankenexperimenten überzeugen lassen, wenn diese Situationen in der realen Welt ohnehin nie eintreten werden?“

Es geht nicht darum, wie wahrscheinlich es ist, dass ein im Gedankenexperiment beschriebener Fall auch wirklich eintritt. Es geht darum, dass die Regeln/Werte/Ziele (bzw. die Begründungen), nach denen man handelt, unter Umständen gar nicht solcherart sind, dass man ihnen nach genauerem Nachdenken auch wirklich folgen würde. Da unsere Handlungsziele im Leben ständig zur Geltung kommen, kann das Nachdenken über Gedankenexperimente weitreichende Auswirkungen haben.

Als illustrativer Konter auf die angebliche Irrelevanz der Gedankenexperimente kann abschliessend vielleicht das folgende Gedankenexperiment dienen: Angenommen, es gäbe in der realen Welt immer nur Menschen weisser Hautfarbe; und angenommen, eine ethische Theorie E implizierte, dass es zulässig sei, Menschen anderer Hautfarbe unnötig Leid zuzufügen, wenn sie existierten. Man könnte dann argumentieren: Die Aussage, dies sei zulässig, ist ethisch offensichtlich absurd; also kann E nicht stimmen. Doch der Einwand kommt sogleich: „Dieses Gedankenexperiment ist völlig irreal! Es hat noch nie Menschen anderer Hautfarbe gegeben und es wird sie in der realen Welt auch nie geben. Also ist es unnötig, darüber nachzudenken. Dass E mit einem irrealen Fall nicht umgehen kann, ist kein Grund, an E zu zweifeln.“ – Doch. Wenn E in gewissen (realen oder irrealen) Fällen offensichtlich falsche Resultate liefert, dann zeigt dies, dass die in E enthaltenen ethischen Begründungen falsch sind. Und das zeigt, dass E in den (realen oder irrealen) Fällen, wo E das richtige Resultat liefert, dies mit einiger Wahrscheinlichkeit aus den falschen Gründen tut. Folglich ist E bei der Anwendung auf neue (irreale oder reale) Fälle eine Wundertüte – was ins Auge gehen kann.

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