David Althaus – GBS Schweiz https://gbs-schweiz.org Aufklärung im 21. Jahrhundert Mon, 15 Dec 2014 10:48:58 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.6.1 Artificial Intelligence (AI) – Die letzte Revolution? https://gbs-schweiz.org/blog/artificial-intelligence-die-letzte-revolution/ https://gbs-schweiz.org/blog/artificial-intelligence-die-letzte-revolution/#respond Thu, 11 Dec 2014 15:39:14 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=7132

 

Vor kurzem ist das Buch “Superintelligence: Paths, Dangers, Strategies” des Oxforder Philosophieprofessors Nick Bostrom erschienen. Max Tegmark, Physikprofessor am MIT, fasst die darin behandelte Kernfrage prägnant zusammen:

„This superb analysis by one of the world’s clearest thinkers tackles one of humanity’s greatest challenges: if future superhuman artificial intelligence becomes the biggest event in human history, then how can we ensure that it doesn’t become the last?“

Diesbezüglich werden im folgenden Beitrag einige der relevanten Grundgedanken näher erläutert:

Intelligenz ist von entscheidender Bedeutung. Wir Menschen verdanken unsere Vormachtstellung auf der Erde nicht der besonderen Stärke unserer Muskeln oder der ungewöhnlichen Schärfe unserer Zähne, sondern dem einzigartigen Einfallsreichtum unseres Gehirns. Unsere Gehirne sind verantwortlich für die komplexe Gesellschaftsorganisation und die Anhäufung von technologischen, wirtschaftlichen und wissenschaftlichen Fortschritten, von denen unsere moderne Zivilisation – wohl oder übel – abhängt.

All unsere technologischen Erfindungen, philosophischen Ideen und wissenschaftlichen Theorien haben ihren Ursprung im menschlichen Intellekt. Die Leistung des menschlichen Gehirns ist vermutlich derjenige Faktor, von der die Entwicklungsgeschwindigkeit der menschlichen Zivilisation am meisten abhängt.

Anders als die Lichtgeschwindigkeit oder die Elektronenmasse ist die menschliche Intelligenz keine unveränderliche Naturkonstante. Gehirne können sich verbessern. Und im Prinzip könnte man Maschinen herstellen, welche Informationen so effizient verarbeiten wie biologische Nervensysteme – oder sogar noch effizienter als diese.

Viele Wege führen zu höherer Intelligenz. Mit „Intelligenz“ ist hier die ganze Palette kognitiver Fähigkeiten gemeint, also nicht nur Bücherwissen, sondern auch Kreativität, soziale Intuition, Weisheit, etc.

Zuerst wollen wir uns überlegen, wie wir unsere biologischen Gehirne verbessern könnten. Offensichtlich gibt es die herkömmlichen Methoden wie Ausbildung und Studium oder die Ausarbeitung besserer Methoden und Begriffssysteme. Zudem kann die neurologische Entwicklung durch gesündere Säuglingsernährung, geringere Umweltverschmutzung, Prävention von Gehirnerkrankungen, sowie ausreichend Schlaf und Bewegung optimiert werden. Wir könnten darüber hinaus Biotechnologien nutzen und beispielsweise Psychopharmaka entwickeln, welche kognitive Fähigkeiten wie Erinnerungsvermögen, Konzentration und Willenskraft verbessern. Es wäre auch möglich, dies durch genetische Selektion und Gentechnik zu erreichen. Ausserdem können externe Hilfsmittel – wie Notizblätter, Tabellen oder Visualisierungssoftware – unsere effektive Intelligenz erhöhen.

Unsere kollektive Intelligenz zu erweitern, ist eine weitere Alternative. Erreichen könnte man dies durch geeignete Normen und Konventionen – z.B. die Norm gegen ad hominem Argumente in wissenschaftlichen Diskussionen – oder durch das Verbessern von Institutionen, die dem Wissensfortschritt dienen, wie etwa wissenschaftlichen Fachzeitschriften, Peer-Review und dem Patentwesen. Wir könnten die kollektive Problemlösefähigkeit der Menschheit erweitern, indem wir mehr Menschen in produktive Unternehmungen eingliedern, oder neue Hilfsmittel für Kommunikation und Zusammenarbeit entwickeln – verschiedene Internetanwendungen sind hierfür jüngste Beispiele.

All diese Möglichkeiten der Verbesserung kollektiver und individueller menschlicher Intelligenz scheinen vielversprechend und sollten energisch weiterverfolgt werden. Vielleicht ist es am intelligentesten und vernünftigsten, wenn die Menschheit darauf hin arbeitet, sich selbst intelligenter und vernünftiger zu machen.

Auf längere Sicht jedoch werden unsere biologischen Gehirne vermutlich aufhören, die intelligentesten Gebilde auf der Erde zu sein.

Maschinen werden mehrere Vorteile aufweisen: Am offensichtlichsten ist die schnellere Verarbeitungsgeschwindigkeit – ein künstliches Neuron könnte millionenmal schneller feuern als sein biologisches Gegenstück. Maschinelle Intelligenzen könnten zudem mit überlegenen Computerarchitekturen und Lernalgorithmen ausgestattet sein. Diese „qualitativen“ Vorteile, obwohl schwerer vorherzusagen, sind vielleicht sogar entscheidender als die Vorzüge in Bezug auf Rechenleistung und Speicherkapazität. Des Weiteren können künstliche Intelligenzen leicht vervielfältigt werden, und jede neue Kopie kann – anders als Menschen – ihr Leben vollentwickelt beginnen, ausgestattet mit all dem Wissen, das ihre Vorgänger erworben haben. In Anbetracht dieser Überlegungen ist es möglich, dass wir eines Tages in der Lage sind, eine „Superintelligenz“ zu erschaffen: eine allgemeine Intelligenz, welche die besten menschlichen Gehirne in jedem bedeutenden geistigen Bereich bei weitem übertrifft.

Es gibt unterschiedliche Ansätze, um eine künstliche (allgemeine) Intelligenz zu erschaffen. Das Spektrum reicht von vollständig biologiefernen Herangehensweisen, wie sie in der KI-Forschung alter Schule verwendet wurden, bis zu Konstruktionen, die stärker dem menschlichen Gehirn nachempfunden sind. Das Extrem biologischer Nachbildung ist Whole Brain Emulation, auch „Uploading” genannt. Bei diesem Verfahren würde ein menschliches Gehirn schichtweise gescannt werden, um anschliessend mittels bildgebender Computersoftware eine sehr detaillierte, dreidimensionale Abbildung des Gehirns zu erstellen, welche einzelne Neuronen, synaptische Verbindungen und andere relevante Details beinhaltet. Mit Hilfe von Computermodellen, welche die Funktionsweise der wesentlichen Bestandteile des Gehirns beschreiben, könnte schliesslich das gesamte Gehirn auf einem hinreichend leistungsfähigen Computer emuliert werden.

Das Gehirn ist das einzige physikalische System, von dem wir bereits wissen, das es zu allgemeiner Intelligenz fähig ist. Deshalb scheint der letztendliche Erfolg von biologisch inspirierten Vorgehensweisen gewisser, da diese durch die stückweise Rekonstruktion des Gehirns Fortschritte machen können. Jedoch könnte irgendein künstlicher oder hybrider Ansatz früher zum Ziel führen.

Niemand vermag genau vorherzusagen, wann die erste künstliche Intelligenz entwickelt wird, welche das menschlichen Niveau übertrifft. Es scheint jedenfalls nicht unmittelbar bevorstehend. In unserer gegenwärtigen Lage können wir wahrscheinlich nicht wissen, ob es ein paar Jahrzehnte, viele Jahrzehnte oder Jahrhunderte dauern wird. Wir sollten diese Ungewissheit anerkennen und jeder dieser Möglichkeiten einen nicht geringfügigen Glaubensgrad zuordnen.

Wie lange es auch dauern mag, bis maschinelle Intelligenzen annähernd menschliches Niveau erreichen; der Schritt von dort zur Superintelligenz ist wahrscheinlich viel kleiner. Einem möglichen Szenario zufolge, der Hypothese der „Singularität”, könnte eine ausreichend hochentwickelte und leicht veränderbare maschinelle Intelligenz (eine „Seed AI„) ihren Verstand einsetzen, um eine intelligentere Version von sich selbst zu erschaffen. Diese intelligentere Version benutzt ihre höhere Intelligenz wiederum, um sich selbst noch weiter zu optimieren. Der Vorgang wiederholt sich beständig, und jeder Zyklus läuft schneller ab als der vorhergehende. Das Endergebnis ist eine Intelligenzexplosion. Innerhalb eines kurzen Zeitraums – Wochen oder vielleicht nur Stunden – ist extreme Superintelligenz erreicht.

Ob nun einzeln und abrupt, oder allmählich und multipolar, der Übergang von menschlicher Intelligenz zu Superintelligenz wäre von entscheidender Bedeutung für die Zukunft der Menschheit. Eine Superintelligenz wäre die letzte Erfindung, die der biologische Mensch zu machen hat, da eine Superintelligenz per definitionem viel besser im Erfinden wäre als wir selbst. Alle theoretisch möglichen Technologien könnten von einer Superintelligenz entwickelt werden, z.B. fortgeschrittene molekulare Nanotechnologie, Human-Enhancement-Technologien, Uploading, Waffen aller Art, lebensechte virtuelle Realitäten, den Weltraum kolonisierende, selbstreplizierende Robotersonden und mehr. Eine Superintelligenz wäre zudem überaus erfolgreich im Entwerfen von Plänen und Strategien, im Lösen von philosophischen Problemen, im Überzeugen und Manipulieren und vielem anderem.

Ob die Auswirkungen positiv oder negativ sein werden, ist eine offene Frage. Die möglichen Vorteile sind zweifelsohne gewaltig; andererseits stellt eine Superintelligenz ein existentielles Risiko dar. Die Zukunft der Menschheit könnte einmal davon abhängen, ob wir die Anfangsbedingungen des Systems (z.B. die Ziele und Werte der Seed AI) dergestalt entwerfen, dass dieses dem Menschen gegenüber “freundlich gesinnt“ ist – in der bestmöglichen Auslegung dieses Begriffes.

Bostrom, N. (2009). Superintelligence. Answer to the 2009 Edge Question: “What will change everything?”. Übersetzt von D. Althaus.

Image by Oxford University Press.

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Ein Plädoyer für posthumane Würde – Teil 3 https://gbs-schweiz.org/blog/ein-plaedoyer-fuer-posthumane-wuerde-teil-3/ https://gbs-schweiz.org/blog/ein-plaedoyer-fuer-posthumane-wuerde-teil-3/#respond Tue, 23 Sep 2014 16:10:23 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=8687 Gefährden künftige Human-Enhancement-Technologien die menschliche Würde, wie dies Biokonservative behaupten? In diesem Beitrag wird zunächst der Begriff der Würde erläutert und anschliessend auf die Wichtigkeit eines Konzepts der Würde hingewiesen, das umfassend genug ist, um sich auch auf viele Arten von posthumanen Wesen anwenden zu lassen. Durch die Erkenntnis der Möglichkeit posthumaner Würde wird ein wichtiger Einwand gegen den Transhumanismus untergraben und eine verzerrende Doppelmoral beseitigt.

Ist menschliche Würde unvereinbar mit posthumaner Würde? 

Gelegentlich wird das Konzept der Menschenwürde als polemischer Ersatz für klare Argumente ins Felde geführt. Das heisst nicht, dass es keine wichtigen ethischen Fragen im Bezug auf Würde gibt, aber es bedeutet, dass wir erst einmal definieren müssen, was wir eigentlich im Sinn haben, wenn wir den Begriff der “Würde” gebrauchen. Im Folgenden werden wir zwei unterschiedliche Bedeutungen des Würde-Begriffs betrachten:

  1. Würde als moralischer Status, im Besonderen das unveräusserliche Recht mit einem grundlegenden Grad an Achtung behandelt zu werden.
  2. Würde als die Eigenschaft, achtbar oder ehrenwert zu sein; Ehrenhaftigkeit, Wert, Edelmut, Vortrefflichkeit.1

Beiden Definitionen zufolge können also auch posthumane Wesen Würde besitzen. Francis Fukuyama scheint dies jedoch zu verneinen und glaubt, dass nur Menschen Würde besitzen können – und zwar aufgrund einer mysteriösen essentiell menschlichen Eigenschaft, die er “Faktor X” nennt2. Fukuyama warnt, dass das Aufgeben dieser Vorstellung zu einer Katastrophe führen würde:

Die Ablehnung des Konzepts der Menschenwürde – das heisst, der Vorstellung, dass die menschliche Spezies eine einzigartige Essenz aufweist, aufgrund derer jedes Mitglied unserer Art über einen höheren moralischen Status verfügt als alle anderen Spezies – wird uns auf einen gefährlichen Weg führen. Vielleicht werden wir uns schlussendlich genötigt sehen, diesen Weg einzuschlagen, aber wir sollten dies nur mit offenen Augen tun. Nietzsche kann uns viel besser aufzeigen, was uns auf diesem Weg erwartet, als all die unzähligen Bioethiker und akademischen Gelegenheits-Darwinisten, die uns heutzutage moralische Ratschläge bezüglich dieses Themas geben.3

Fukuyama scheint es zu beängstigen, dass das Erscheinen neuer Arten von genetisch veränderten Personen zur Folge haben könnte, dass manche Individuen (vielleicht Kinder, geistig Behinderte, oder genetisch unveränderte Menschen im Allgemeinen) einen Teil ihres moralischen Status verlieren würden, und dass eine fundamentale Voraussetzung liberaler Demokratien, nämlich das Prinzip der gleichen Würde aller Menschen, zerstört werden könnte.

Die zugrundeliegende Intuition scheint zu sein, dass sich unser “moralischer Kreis” nicht ausdehnt, wie dies Peter Singer berühmterweise behauptet, sondern dass die Fläche dieses moralischen Gebildes konstant bleiben muss, und wir höchstens dessen Form verändern können. Glücklicherweise mangelt es diesem angeblichen Gesetz der Erhaltung moralischer Anerkennung an empirischen Belegen. Die Menge der Individuen, denen vollständiger moralischer Status von westlichen Gesellschaften zugestanden wurde, hat sich sogar erweitert, und schliesst heute Männer ohne adlige Abstammung, Frauen und Menschen nicht-weisser Hautfarbe ein. Es scheint machbar, diese Menge noch weiter zu vergrössern, um somit eines Tages zukünftige Posthumane oder auch andere Tiere, beispielsweise höhere Primaten, einzuschliessen, ohne dass dadurch andere Lebewesen moralischen Status verlieren müssten. In diesem Prozess müssen wir uns nicht mit der Rolle passiver Zuschauer zufrieden geben. Wir können daran arbeiten, soziale Strukturen zu schaffen, die allen Wesen angemessene moralische Anerkennung und gesetzliche Rechte gewähren, ganz gleich, ob diese nun männlich, weiblich, schwarz, weiss, menschlich, nicht-menschlich, aus Fleisch oder aus Silizium sind.

Würde im zweiten Sinne, also bezogen auf eine besondere Ehrenhaftigkeit oder moralische Vortrefflichkeit, ist etwas, das gegenwärtige Menschen in überaus unterschiedlichem Ausmass besitzen. Manche leisten viel mehr als andere. Manche sind moralisch bewundernswert, andere sind gemein und unmoralisch. Es gibt keinen Grund zur Annahme, dass Posthumane nicht auch in diesem zweiten Sinne Würde besitzen könnten. Im Gegenteil, sie könnten uns Menschen sogar in moralischer und anderer Hinsicht übertreffen. Die fiktiven Bewohner der Schönen neuen Welt, welche vielmehr subhuman als posthuman waren, hätten auch bei dieser zweiten Art von Würde ziemlich schlecht abgeschnitten, was ein weiterer Grund dafür ist, weshalb sie schlechte Vorbilder abgeben, denen wir auf keinen Fall nacheifern sollten. Aber wir können uns sicherlich inspirierendere Ideale ausmalen, deren Verwirklichung wir anstreben möchten. Es könnte Menschen geben, die willentlich zu entwürdigten Posthumanen werden möchten – allerdings führen auch heute einige Menschen kein besonders würdevolles Leben. Das ist bedauerlich, aber nur weil einige Menschen schlechte Entscheidungen treffen, sollte man nicht allen Menschen das Recht auf freie Entscheidung entziehen. Zudem gibt es legitime Gegenmassnahmen: Bildung, Unterstützung, Diskussionen, sowie soziale und kulturelle Reformen. Dies sind die Massnahmen, die jene ergreifen sollten, die von den Aussichten auf entwürdigte posthumane Menschen beunruhigt sind. Ein pauschales Verbot aller posthumanen Existenzformen scheint kein adäquates Vorgehen darzustellen. Eine liberale Demokratie sollte normalerweise nur dann die Verletzung morphologischer und reproduktiver Freiheit erlauben, wenn jemand diese Freiheiten missbraucht, um einer anderen Person Leid zuzufügen.

Das Prinzip, dem zufolge Eltern darüber entscheiden sollten, welche genetischen Verbesserungen ihre Kinder erhalten, wurde insbesondere mit der Begründung kritisiert, dass diese Form von reproduktiver Freiheit gewissermassen eine elterliche Tyrannei darstelle, welche die Würde des Kindes und dessen Möglichkeit zur eigenständigen Entscheidung untergraben würde. Der Philosoph Hans Jonas argumentiert beispielsweise für diese These:

Die technologisch gebändigte Natur schliesst jetzt wieder den Menschen ein, der sich ihr (bisher) durch die Technologie als ihr Beherrscher widersetzt hat … Aber wessen Macht ist das – und über wen oder was? Offenbar die Macht Jetziger über Kommende, welche die wehrlosen Objekte vorausliegender Entscheidungen der Planer von heute sind. Die Kehrseite heutiger Macht ist die spätere Knechtschaft Lebendiger gegenüber Toten.4

Jonas vertraut auf die Annahme, dass unsere Nachfahren unseren Versuchen, ihre Fähigkeiten zu erweitern, hilflos ausgeliefert wären, obwohl sie wahrscheinlich technologisch weitaus fortgeschrittener sein werden als wir. Diese Annahme ist mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit falsch. Falls unsere Nachfahren es aus irgendeinem unerklärlichen Grund vorziehen sollten, weniger intelligent und weniger gesund zu sein und kürzere Leben zu führen, würde es ihnen nicht an den Mitteln mangeln, diese Ziele zu erreichen und unsere Pläne zu durchkreuzen.

Doch wenn Eltern nicht über die wesentlichen Fähigkeiten ihrer künftigen Kinder bestimmen können, und die einzige Alternative darin besteht, das Kindeswohl der Natur, also blindem Zufall zu überlassen, dann sollte offensichtlich sein, welche der beiden Optionen die wünschenswertere ist. Wäre Mutter Natur tatsächlich eine Mutter, sässe sie bereits wegen Kindesmisshandlung und Mord im Gefängnis. Allerdings ist anzumerken, dass sich die Gesellschaft bereits heute in Ausnahmefällen über die elterliche Autonomie hinwegsetzt, wie beispielsweise im Fall von Kinderverwahrlosung oder Missbrauch. Vor diesem Hintergrund befürworten natürlich auch TranshumanistInnen, dass die Gesellschaft Massnahmen ergreifen sollte, um zukünftige Kinder vor wirklich schädigenden genetischen Eingriffen zu schützen. Doch prinzipiell sind die Wünsche der Eltern dem blinden Zufall der Natur vorzuziehen.

In einer aktuellen Arbeit äussert Jürgen Habermas die selbe Besorgnis wie Jonas und befürchtet, dass selbst das blosse Wissen darüber, absichtlich von jemandem gestaltet worden zu sein, bereits verheerende Auswirkungen haben könnte:

Wir können nicht ausschliessen, dass die Kenntnis von einer eugenischen Programmierung der eigenen Erbanlagen die autonome Lebensgestaltung des Einzelnen einschränkt und die grundsätzliche symmetrische Beziehung zwischen freien und gleichen Personen unterminiert.5

TranshumanistInnen könnten hier einwenden, dass es ein Irrtum wäre, anzunehmen, man könne nicht frei über die eigene Lebensgestaltung entscheiden, nur weil einige (oder gar alle) der eigenen Gene von den Eltern ausgewählt wurden. Tatsächlich hätte man in diesem Fall mindestens ebenso viel Entscheidungsfreiheit, als wenn die Zusammenstellung des eigenen Erbguts auf reinem Zufall basierte. Man könnte sogar wesentlich mehr Entscheidungsfreiheit und Autonomie im eigenen Leben geniessen, falls man aufgrund genetischer Modifikationen über erweiterte grundlegende Fähigkeiten verfügt. Gute Gesundheit, höhere Intelligenz, vielfältige Talente oder höhere Selbstregulationsfähigkeit sind Geschenke, die für gewöhnlich mehr Lebenspfade eröffnen, als sie versperren.

Es mag die Möglichkeit bestehen, dass einige genetisch veränderte Individuen diese Argumente nicht verstehen und sich daher durch das Wissen ihrer Entstehung unterdrückt fühlen. Doch dieses Risiko muss gegen die Risiken abgewogen werden, die mit einem unmodifizierten Genom einhergehen – Risiken, die äusserst schwerwiegend sein können. Es wäre unverantwortlich, jemanden mit dem unheilvollen Schicksal angeborener verminderter Fähigkeiten oder einer erhöhten Krankheitsanfälligkeit in die Welt zu setzen, wenn sichere und effektive Alternativen zur Verfügung stehen.

Warum wir posthumane Würde brauchen

Ähnlich verhängnisvolle Vorhersagen wurden in den 70er Jahren gemacht, als man über die schwerwiegenden psychologischen Schäden spekulierte, die Kinder durch in-vitro Fertilization davon tragen würden, sobald sie ihre wahre Enstehungsgeschichte in Erfahrung bringen sollten, nämlich der in einem Reagenzglas — eine Vorhersage, welche sich als völlig falsch herausstellte. Es fällt schwer sich des Eindrucks zu erwehren, dass irgendein Bias oder philosophisches Vorurteil für die vorschnelle Bereitschaft verantwortlich ist, mit der viele Biokonservative unter den fadenscheinigsten empirischen Vorwänden ein Verbot bestimmter “Human Enhancement”-Technologien verlangen, während sie andere jedoch dulden. Angenommen es stellte sich heraus, dass das Abspielen von Mozarts Musik während der Schwangerschaft zu einer Verbesserung der musikalischen Talente des Kindes führen würde. Niemand käme jetzt auf die Idee, Mozarts Musik während der Schwangerschaft zu verbieten, mit der Begründung, man könne nicht ausschliessen, dass das Kind nicht irgendwelche psychischen Schäden erleidet, sobald es erfährt, dass dessen Fertigkeiten mit der Violine lediglich ein Produkt pränataler “Programmierung” der Eltern sind. Doch wenn es beispielsweise um genetische Modifikationen geht, werden Argumente, die nicht allzu stark von dieser Mozart-Parodie abweichen, als bedeutsame, wenn nicht sogar als eindeutig entscheidende Einwände von angesehenen biokonservativen SchriftstellerInnen vorgelegt. Für eine Transhumanistin sieht dies nach Doppeldenk aus. Wie kann es sein, dass Biokonservative fast jeden erdenklichen Nachteil, welcher womöglich auf den Vorhersagen der dubiosesten populär-psychologischen Theorien basiert, dermassen bereitwillig als tiefgründige philosophische Erkenntnis und als schlagendes Argument gegen den Transhumanismus akzeptieren?

Ein Teil der Antwort liegt womöglich in den unterschiedlichen Einstellungen begründet, die TranshumanistInnen und Biokonservative zur posthumanen Würde haben. Biokonservative tendieren dazu, posthumane Würde abzulehnen und sehen in posthumanen Wesen eine Bedrohung für die Menschenwürde. Daher sind sie versucht, nach Mitteln Ausschau zu halten, um jegliche Art von Eingriffen schlecht zu machen, welche in die Richtung fundamentalerer künftiger Modifikationen weisen, die letzten Endes zur Entstehung jener verabscheuenswerten Posthumanen führen könnten. Aber sofern dieser prinzipielle Widerstand gegen posthumane Wesen nicht öffentlich als Prämisse ihrer Argumentation erklärt wird, zwingt dies folglich Biokonservative dazu, sich, jedes Mal, wenn Einzelfälle isoliert betrachtet werden, eines doppelten Bewertungsmassstabes zu bedienen: beispielsweise einen Massstab im Falle von genetischen Interventionen und einen anderen für Verbesserungen der mütterlichen Ernährung (ein Eingriff, der vermutlich nicht als Vorbote einer posthumanen Ära angesehen wird).

Im Gegensatz dazu sind TranshumanistInnen der Meinung, dass menschliche und posthumane Würde miteinander vereinbar sind und sich gegenseitig ergänzen. Sie weisen nachdrücklich darauf hin, dass Würde im heutigen Sinne darin besteht, was wir sind und wohin wir uns potentiell entwickeln können – und nicht in unserem Stammbaum oder Entstehungsgrund gefunden werden kann. Nicht allein unsere DNA, sondern auch unsere technologische und soziale Umwelt bestimmen, was wir sind. In diesem umfassenderen Sinne ist die menschliche Natur dynamisch, teilweise vom Menschen geschaffen und verbesserungsfähig. Unsere gegenwärtigen, erweiterten Phänotypen (und die Leben, die wir führen) unterscheiden sich deutlich von denen unserer Jäger-und-Sammler-Vorfahren. Wir lesen und schreiben; wir tragen Kleidung; wir leben in Städten; wir verdienen Geld und kaufen Essen im Supermarkt ein; wir telefonieren, sehen fern, lesen Zeitung, fahren Autos, fertigen Steuererklärungen an, nehmen an nationalen Wahlen teil; Frauen gebären in Krankenhäusern; unsere Lebenserwartung ist dreimal so hoch wie im Pleistozän; wir wissen, dass die Erde rund ist, dass Sterne gigantische Gaswolken sind, die aufgrund der Kernfusion leuchten, und dass das Universum ungefähr 13,7 Milliarden Jahre alt und ungeheuer riesig ist. In den Augen eines Jäger-und-Sammlers mögen wir bereits “posthuman” erscheinen. Doch diese drastischen Erweiterungen menschlicher Fähgikeiten – manche davon biologischer, andere äusserlicher Art – haben uns dennoch nicht unseres moralischen Status beraubt, entmenschlicht, oder uns wertlos und niederträchtig gemacht. Sollten wir oder unsere Nachfahren nun eines Tages erfolgreich jenen Zustand erreichen, der nach unserer heutigen Auffassung als posthuman gilt, muss dies ebensowenig einen Verlust an Würde nach sich ziehen.

Für TranshumanistInnen gibt es keinen Grund, einen gravierenden moralischen Unterschied zwischen technologischen und anderweitigen Massnahmen zur Verbesserung von Menschenleben zu sehen. Indem wir uns für eine posthumane Würde aussprechen, fördern wir eine umfassendere und humanere Ethik. Eine Ethik, die sowohl zukünftige, technologisch veränderte Personen, als auch gegenwärtige Menschen umfassen wird. Gleichzeitig entledigen wir uns somit einer verzerrenden Doppelmoral und ermöglichen es uns dadurch, deutlicher zu erkennen, welche Möglichkeiten die Zukunft der Menschheit bereit hält.

Beitragsreihe: Ein Plädoyer für posthumane Würde

  1. Teil 1: Transhumanisten vs. Biokonservative
  2. Teil 2: Zwei Befürchtungen hinsichtlich posthumaner Wesen
  3. Teil 3: Ist menschliche Würde unvereinbar mit posthumaner Würde?

Quellenangabe

Bostrom, Nick (2005). In Defense of Posthuman DignityBioethics, Vol. 19, No. 3, pp. 202-214. Ins Deutsche übersetzt von D. Althaus und A. Pöhlmann
1. Simpson, J. A.  and Weiner, E.  (1989). The Oxford English Dictionary, 2nd ed. Oxford. Oxford University Press.
2. Fukuyama, F. (2002). Our Posthuman Future: Consequences of the Biotechnology Revolution. New York. Farrar, Strauss and Giroux: p. 149.
3. Fukuyama, op cit. note 8, p. 160.
4. Jonas, H. (1985). Technik, Medizin und Ethik: Zur Praxis des Prinzips Verantwortung. Frankfurt am Main. Suhrkamp.

5. Habermas, J. (2003). The Future of Human Nature. Oxford. Blackwell: p. 23.

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Ein Plädoyer für posthumane Würde – Teil 2 https://gbs-schweiz.org/blog/ein-plaedoyer-fuer-posthumane-wuerde-teil-2/ https://gbs-schweiz.org/blog/ein-plaedoyer-fuer-posthumane-wuerde-teil-2/#respond Mon, 15 Sep 2014 15:55:21 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=8652 Die mögliche Existenz posthumaner Wesen wird aus mindestens zwei Gründen gefürchtet. Einer besteht darin, dass der Daseinszustand posthumaner Wesen inhärent entwürdigend ist, so dass wir uns womöglich selbst schädigen, falls wir zu Posthumanen werden. Der zweite besteht darin, dass posthumane Wesen vielleicht eine Gefahr für „normale“ Menschen darstellen. (Auf einen dritten möglichen Grund wird nicht eingegangen, dem zufolge die Existenz von Posthumanen Gott oder andere übernatürliche Wesen verärgern könnte.)

Ist ein posthumaner Daseinszustand entwürdigend?  

Der berühmteste Bioethiker, der die erste Befürchtung in den Mittelpunkt stellt, ist Leon Kass:

Die meisten gegebenen Schenkungen der Natur haben ihre artenspezifische Beschaffenheit: sie alle gehören einer gegebenen Art an. Kakerlaken und Menschen sind gleichermassen beschenkt, aber unterschiedlicher Natur. Einen Menschen in eine Kakerlake zu verwandeln – es braucht keinen Kafka, um uns dies zu zeigen – wäre entmenschlichend. Zu versuchen, einen Menschen in ein Wesen zu verwandeln, das mehr als ein Mensch ist, dürfte ebenso entmenschlichend sein. Wir benötigen mehr als eine allgemeine Wertschätzung der Geschenke der Natur. Wir benötigen spezielle Achtung und Respekt für das besondere Geschenk, das unsere eigene gegebene Natur ist1.

Transhumanisten entgegnen, dass die Geschenke der Natur zuweilen vergiftet sind und nicht immer akzeptiert werden sollten. Krebs, Malaria, Demenz, Altern, Verhungern, unnötiges Leiden und kognitive Defizite gehören alle zu den Geschenken, die wir aus gutem Grund verweigern. Zudem ist unsere artspezifische Beschaffenheit eine nahezu unerschöpfliche Quelle an Übeln, die völlig unzumutbar und unannehmbar sind – Mord, Vergewaltigung, Genozid, Betrug, Folter, Rassismus, Anfälligkeit für Krankheiten, Depression, um nur einige zu nennen. Die Schrecken der Natur im Allgemeinen und unserer eigenen Natur im Besonderen sind so gut dokumentiert2, dass es erstaunlich ist, dass jemand, der so angesehen ist wie Leon Kass, heutzutage immer noch auf die Natur als Richtschnur alles Wünschenswerten vertraut und dieser sogar moralische Prinzipien entlehnen will. Wir sollten dafür dankbar sein, dass unsere Vorfahren sich nicht von der Kass’schen Geisteshaltung mitreissen liessen, ansonsten würden wir uns immer noch gegenseitig Läuse vom Rücken zupfen. Anstatt sich der natürlichen Ordnung zu fügen, glauben Transhumanisten, dass wir das gute Recht haben, uns und unsere Natur gemäss menschenwürdiger Werte und persönlicher Sehnsüchte zu verbessern.

Wenn man die Natur als allgemeinen Massstab des Guten ablehnt, wie das die meisten umsichtigen Menschen heutzutage tun, kann man natürlich immer noch anerkennen, dass bestimmte Arten der Veränderung der menschlichen Natur entwürdigend wären. Nicht jede Veränderung ist ein Fortschritt. Nicht einmal jeder wohlgemeinte, technologische Eingriff in die menschliche Natur wäre alles in allem vorteilhaft. Doch Kass geht weit über diese Binsenwahrheiten hinaus, wenn er erklärt, dass uns zwangsläufig völlige Entmenschlichung bevorsteht, falls wir mittels Technologie unsere eigene Natur beherrschen werden:

..die endgültige technologische Beherrschung der eigenen Natur würde die Menschheit beinahe mit Sicherheit vollständig enkräftet zurück lassen. Diese Art von Kontrolle wäre identisch mit vollständiger Entmenschlichung. Lesen Sie Huxleys Schöne neue Welt, lesen Sie C. S. Lewis’ Die Abschaffung des Menschen, lesen Sie Nietzsches Darstellung des letzten Menschen, und dann lesen Sie die Zeitungen. Homogenisierung, Mittelmässigkeit, Pazifizierung, drogeninduzierte Zufriedenheit, Degradierung des Geschmacks, Seelen ohne Liebe und Verlangen – dies sind die unvermeidlichen Folgen, wenn die Essenz der menschlichen Natur zum letzten Ziel der technischen Beherrschung gemacht wird. Im Augenblick seines Triumphs wird der prometheische Mensch zur zufriedenen Kuh3.

BraveNewWorld_FirstEdition
Den fiktiven Einwohnern aus Schöne neue Welt, um das bekannteste Beispiel von Kass zu wählen, mangelt es zugegebenermassen an Würde (in mindestens einem Sinne des Wortes). Doch die Behauptung, dass die technische Beherrschung der menschlichen Natur zwangsläufig zu Szenarien ähnlich der Schönen Neuen Welt führt, ist überaus pessimistisch – und nicht auf Fakten gestützt – wenn man diese Behauptung als eine Vorhersage versteht, und falsch, wenn man sie als metaphysische Notwendigkeit auslegt.

Es gibt vieles an der fikitiven Gesellschaft auszusetzen, die von Huxley beschrieben wird. Sie ist statisch, totalitär, strikt nach Kasten getrennt und ihre Kultur liegt brach. Die Einwohner selbst sind entmenschlicht und würdelos. Doch posthuman sind sie nicht. Ihre Fähigkeiten sind nicht übermenschlich, sondern in vielerlei Hinsicht erheblich geringer als unsere eigenen. Ihre Lebenserwartung und Körperkraft sind ziemlich normal, aber ihr moralisches Bewusstsein ist nur rudimentär ausgeprägt und ihre intellektuellen, emotionalen und geistig-spirituellen Fähigkeiten sind verkümmert. Die meisten Einwohner der “schönen neuen Welt” sind aufgrund gentechnischer und physischer Manipulation mehr oder minder geistig unterentwickelt. Und jeder, ausser den zehn World Controllern (nebst einigen Primitiven und Ausgestossenen, die in eingezäunten Reservaten oder abgeschotteten Inseln leben müssen), wird daran gehindert, Individualität, unabhängiges Denken und Eigeninitiative zu entwickeln, und wird sogar dazu konditioniert, diese Eigenschaften schon von vornherein zu missbilligen. Schöne neue Welt ist kein Roman, der demonstriert, dass Human-Enhancement-Technologien unvermeidlich in einer Dystopie enden. Vielmehr veranschaulicht Schöne neue Welt, wie Technologie und soziale Manipulation eingesetzt werden können, um absichtlich moralisches Bewusstsein und intellektuelle Fähigkeiten zu verkrüppeln – das genaue Gegenbild transhumanistischer Vorstellungen.

Transhumanisten argumentieren, dass sich eine Schöne neue Welt am besten verhindern lässt, indem man morphologische und reproduktive Freiheiten gegen mögliche World Controller entschieden verteidigt. Wie die Geschichte gezeigt hat, ist es gefährlich, wenn man Regierungen erlaubt, diese Freiheiten einzuschränken. Die vom Staat geförderten und vorgeschriebenen Eugenikprogramme des letzten Jahrhunderts, die einmal von der Linken als auch von der Rechten befürwortet wurden, sind nun allseits diskreditiert. Menschen werden vermutlich sehr unterschiedliche Einstellungen gegenüber Human-Enhancement-Technologien haben, deshalb ist es essentiell, dass niemandem ein Beschluss von oben aufgezwungen wird, und dass Menschen selbst, nach bestem Wissen und Gewissen, darüber entscheiden können, was das Richtige für sie und ihre Familien ist. Bildung, öffentliche Diskussionen und Informationsaustausch sind die geeigneten Mittel, durch die vernünftige Entscheidungen gefördert werden; nicht ein weltweites Verbot potentiell vorteilhafter Enhancement-Technologien.

Stellen Posthumane eine Gefahr für normale Menschen dar?

Widmen wir uns nun der zweiten Befürchtung. Sie besteht darin, dass es womöglich einen Ausbruch von Gewalt zwischen normalen Menschen und posthumanen Wesen geben könnte. George Annas, Lori Andrews und Rosario Isasi haben argumentiert, dass wir das Klonen von Menschen und alle vererbbaren genetischen Modifikationen als “Verbrechen gegen die Menschheit” betrachten sollten, um dadurch die Wahrscheinlichkeit der Entstehung einer posthumanen Spezies zu reduzieren, da diese eine existentielle Bedrohung für die alte menschliche Spezies darstellen würde:

Die neue “posthumane” Spezies wird die alten “normalen” Menschen vermutlich als unterlegen, oder gar als Wilde betrachten und sie versklaven oder ausrotten wollen. Andererseits würden die normalen Menschen die Posthumanen womöglich als Bedrohung wahrnehmen und versuchen, die Posthumanen durch einen Präventivschlag zu töten, bevor diese sie selbst töten oder versklaven können. Es ist letztendlich diese vohersagbare Möglichkeit des Genozids, aufgrund derer spezies-verändernde Experimente potentielle Massenvernichtungswaffen, und unverantwortliche Gentechniker potentielle Bioterroristen sind4.

Es lässt sich nicht leugnen, dass Bioterrorismus und unverantwortliche Gentechniker, die immer mächtigere Massenvernichtungswaffen entwickeln, eine ernsthafte Bedrohung für unsere Zivilisation darstellen. Aber es hilft niemandem, die Rhetorik von Bioterrorismus und Massenvernichtungswaffen zu verwenden, um den therapeutischen Gebrauch von Biotechnologie zur Verbesserung von Gesundheit, Lebenserwartung und anderer menschlicher Fähigkeiten zu verleumden. Hier werden unterschiedliche Probleme in einen Topf geworfen. Vernünftige Menschen können sich für die strenge Regulierung von Biowaffen aussprechen, während sie zugleich den vorteilhaften, medizinischen Gebrauch von Gentechnologie und anderen Human-Enhancement-Technologien befürworten, inklusive vererbbarer und “spezies-verändernder” Modifikationen.

Wie die Geschichte zeigt, besteht in menschlichen Gemeinschaften immer die Gefahr, dass eine Gruppe sich dazu entscheidet, eine andere Gruppe zu versklaven oder auszurotten. Um solchen Tendenzen entgegenzuwirken, haben moderne Gesellschaften Gesetze und Institutionen geschaffen, die Bevölkerungsgruppen daran hindern, sich gegenseitig zu versklaven oder auszurotten. Die Wirksamkeit dieser Institutionen hängt nicht davon ab, dass alle BürgerInnen gleiche Fähigkeiten haben. In modernen Gesellschaften können zahlreiche Menschen, deren körperliche oder geistige Fähigkeiten stark eingeschränkt sind, friedlich Seite an Seite mit anderen Menschen zusammen leben, die aussergewöhnliche körperliche oder intellektuelle Fähigkeiten besitzen. Sollten jetzt noch Menschen mit technologisch verbesserten Fähigkeiten zu dieser bereits breitgefächerten Verteilung an Fähigkeiten hinzukommen, müsste dies nicht die Gesellschaft entzweien oder zu Genozid und Versklavung führen.

Es ist weiterhin zu bezweifeln, dass vererbbare genetische Veränderungen oder andere Human-Enhancement-Technologien zwangsläufig zu zwei deutlich verschiedenen und voneinander getrennten Spezies führen. Es scheint viel wahrscheinlicher, dass es ein Kontinuum von unterschiedlich veränderten oder verbesserten Individuen geben würde, welches sich mit dem Kontinuum der noch unverbesserten Menschen überlappen würde. Das Szenario, in welchem sich die “Verbesserten” zusammen tun und dann die “Unverbesserten” angreifen, sorgt zwar für spannende Science Fiction, aber ist nicht wirklich plausibel. Selbst heute wäre es prinzipiell möglich, dass sich beispielsweise die intelligentesten 90% verbünden und die restlichen 10% ermorden oder versklaven. Dass dies nicht geschieht, zeigt, dass eine gut organisierte Gesellschaft selbst dann zusammen halten kann, wenn diese aus vielen möglichen Koalitionen von Menschen besteht, die ein gemeinsames Merkmal teilen und durch einen Zusammenschluss in der Lage wären, die restlichen Menschen zu vernichten.

Der Extremfall eines Krieges zwischen Menschen und Posthumanen ist zwar nicht sehr wahrscheinlich, aber trotzdem muss anerkannt werden, dass es berechtigte Bedenken hinsichtlich sozialer Belange auf dem Weg zum Posthumanismus gibt. Ungleichheit, Diskriminierung und Stigmatisierung – gegen, oder seitens modifzierter Menschen – könnten ernsthafte Probleme werden. Transhumanisten würden behaupten, dass diese (potentiell) sozialen Probleme auch soziale Lösungen erfordern. Geschlechtsangleichende Operationen sind ein Beispiel dafür, dass bereits heutige Technologien wichtige Aspekte der Identität verändern können. Die Erfahrungen von Transsexuellen zeigen, dass auch die westliche Kultur immer noch lernen muss, toleranter gegenüber Verschiedenartigkeit und Multikulturalität zu werden. Das ist eine Aufgabe, die wir bereits heute angehen können, indem wir ein Klima der Toleranz und Akzeptanz gegenüber jenen fördern, die anders sind, als wir selbst. Alarmistische und schwarzseherische Prophezeiungen von der Bedrohung technologisch verbesserter Menschen zu verkünden, oder diese von vornherein aufgrund ihrer angeblich entwürdigten Natur zu verurteilen, ist sicherlich nicht der beste Weg dorthin.

Doch wie verhält es sich mit dem hypothetischen Fall, bei dem jemand beabsichtigt, ein Wesen zu erschaffen, oder sich selbst in eines zu verwandeln, welches über solch immens verbesserte Fähigkeiten verfügt, dass es alleine oder mit nur wenigen Verbündeten in der Lage wäre, die Weltherrschaft an sich zu reissen? Das ist offensichtlich kein Szenario, das uns in der nahen Zukunft bevorsteht, aber es ist denkbar, dass die Aussicht auf die Erschaffung superintelligenter Maschinen diese Art von Bedenken aufkommen lassen könnte – und das vielleicht schon innerhalb der nächsten Jahrzehnte. Der potentielle Erschaffer einer neuen Lebensform mit solch überragenden Fähigkeiten wäre dazu verpflichtet, sicher zu stellen, dass dieses Wesen frei von psychopatischen Neigungen wäre und im Grundsätzlichen humane Absichten und Werte aufweist. Beispielsweise sollte von einem zukünftigen Programmierer einer künstlichen Intelligenz verlangt werden, dass er starke Argumente dafür liefern kann, dass die Inbetreibnahme seiner angeblich freundlich gesinnten Superintelligenz sicherer wäre als die Alternative. Es muss jedoch wiederum betont werden, dass dieses (gegenwärtige) Science-Fiction Szenario eindeutig von unserer heutigen Situation zu unterscheiden ist, und von unmittelbaren Bedenken hinsichtlich effektiver Massnahmen zur schrittweisen Verbesserung menschlicher Fähigkeiten und Gesundheit abzugrenzen ist.

Beitragsreihe: Ein Plädoyer für posthumane Würde

  1. Teil 1: Transhumanisten vs. Biokonservative
  2. Teil 2: Zwei Befürchtungen hinsichtlich posthumaner Wesen
  3. Teil 3: Ist menschliche Würde unvereinbar mit posthumaner Würde?

Quellenangabe

Bostrom, Nick (2005). In Defense of Posthuman DignityBioethics, Vol. 19, No. 3, pp. 202-214. Ins Deutsche übersetzt von D. Althaus und A. Pöhlmann
1. Kass, L. R. (2003). Ageless bodies, happy souls. The New Atlantis, 1 (1), 9-28.
2. Siehe beispielsweise Glover, J. (2001). Humanity: A Moral History of the Twentieth Century. New Haven. Yale University Press.
3. Kass, L. (2004). Life, liberty and the defense of dignity: The challenge for bioethics. Encounter books: S.48
4. Annas, G. J., Andrews, L. B., & Isasi, R. M. (2002). Protecting the endangered human: Toward an international treaty prohibiting cloning and inheritable alterations. Am. JL & Med. 28, 151. S. 162
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Ein Plädoyer für posthumane Würde – Teil 1 https://gbs-schweiz.org/blog/ein-plaedoyer-fuer-posthumane-wuerde-teil-1/ https://gbs-schweiz.org/blog/ein-plaedoyer-fuer-posthumane-wuerde-teil-1/#respond Wed, 03 Sep 2014 14:38:07 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=8572 Positionen hinsichtlich der Ethik von “Human-Enhancement-Technologien” können, grob charakterisiert, vom Transhumanismus bis hin zum Biokonservatismus reichen. TranshumanistInnen sind der Meinung, dass Human-Enhancement-Technologien weithin zugänglich gemacht werden sollten. Biokonservative sind grundsätzlich gegen den Einsatz von Technologie, um die menschliche Natur zu verändern. Ein Grundgedanke des Biokonservatismus besteht darin, dass Human-Enhancement-Technologien unsere Würde untergraben werden. Um eine Entwicklung bereits im Keim zu ersticken, die eines Tages womöglich in einem völlig entwürdigten “posthumanen” Zustand enden könnte, plädieren Biokonservative oft für umfassende Verbote von ansonsten vielversprechenden Human-Enhancement-Technologien. In dieser Beitragsreihe werden zwei weit verbreitete Befürchtungen in Bezug auf posthumane Wesen unterschieden. Desweiteren wird auf die Wichtigkeit eines Konzepts der Würde hingewiesen, das umfassend genug ist, um sich auch auf viele Arten von posthumanen Wesen anwenden zu lassen. Durch die Erkenntnis der Möglichkeit posthumaner Würde wird ein wichtiger Einwand gegen Human-Enhancement-Technologien untergraben und eine verzerrende Doppelmoral beseitigt.

 

transhumanmichelangelo

Transhumanisten vs. Biokonservative

Der Transhumanismus ist ein lose definierte Bewegung, welche sich allmählich in den letzten zwei Jahrzehnten herausgebildet hat, und als Weiterentwicklung des Humanismus und der Aufklärung betrachtet werden kann. TranshumanistInnen behaupten, dass die gegenwärtige menschliche Natur lediglich ein unfertiges Produkt ist, welches durch Wissenschaft im Allgemeinen und Technologie im Besonderen verbessert werden kann. Dies könnte es uns ermöglichen, die menschliche Lebenserwartung zu verlängern, unsere Gesundheit zu erhöhen, unsere körperliche Leistungsfähigkeit zu verbessern und unsere geistigen Fähigkeiten zu erweitern. Zudem könnten wir dadurch in der Lage sein, unsere Befindlichkeit und unsere Emotionen besser zu kontrollieren1. Von Interesse sind hierbei nicht nur gegenwärtige Technologien wie Gentechnik und Informationstechnologie, sondern auch voraussichtliche zukünftige Entwicklungen wie Mind Uploading, fortgeschrittene Nanotechnologie und künstliche Intelligenz.

TranshumanistInnen vertreten die Ansicht, dass Human-Enhancement-Technologien weithin zugänglich gemacht werden sollten, dass Individuen nach eigenem Ermessen entscheiden können sollten, welche dieser Technologien sie an sich selbst anwenden möchten (morphologische Freiheit), und dass Eltern in der Regel darüber entscheiden sollten, welche reproduktiven Technologien sie einsetzen möchten, falls sie Kinder bekommen wollen (reproduktive Freiheit)2. Obwohl es Gefahren gibt, die identifiziert und vermieden werden müssen, glauben TranshumanistInnen, dass Human-Enhancement-Technologien diesen Planeten von jedwedem Leiden befreien könnten und daher von unschätzbarem Wert sind. Es ist letztendlich möglich, dass wir oder unsere Nachkommen, aufgrund solcher Verbesserungen „posthuman“ werden, also zu Wesen werden, die über eine nahezu unbeschränkte Lebenserwartung, beinahe perfekte Gesundheit, enorme Kontrolle der eigenen emotionalen Zustände, sowie möglicherweise gänzlich neuartige Sinnesmodaliäten und Empfindungen verfügen werden. Posthumane Wesen könnten darüber hinaus körperliche und intellektuelle Fähigkeiten besitzen, welche die Fähigkeiten jedes heute existierenden Menschen bei weitem übertreffen. Transhumanisten argumentieren, dass es in Anbetracht dieser Aussichten am vernünftigsten ist, den technologischen Fortschritt zu akzeptieren und zugleich Menschenrechte als auch individuelle Entscheidungsfreiheit eindringlich zu schützen. Doch vor allem gilt es, gezielt Massnahmen zu ergreifen, um konkrete Gefahren – wie beispielsweise den Missbrauch biologischer Waffen durch Militär oder Terroristen – und unerwünschte ökologische oder soziale Nebeneffekte zu verhindern.

Im starken Gegensatz zu dieser transhumanistischen Sichtweise steht das biokonservative Lager, das sich gegen den Gebrauch von Technologien zur Veränderung der menschlichen Natur einsetzt. Einflussreiche biokonservative Schriftsteller sind unter anderem Leon Kass, Francis Fukuyama, George Annas, Jeremy Rifkin, Bill McKibben und Jürgen Habermas. Eine der zentralen Befürchtungen der Biokonservativen ist, dass Human-Enhancement-Technologien „entmenschlichend” sein könnten. Die Sorge – welche auf unterschiedliche Weise zum Ausdruck gebracht wurde – besteht darin, dass diese Technologien möglicherweise unsere Menschenwürde untergraben oder unbeabsichtigt etwas am Menschsein erodieren könnten, das zutiefst wertvoll ist, sich jedoch schwierig in Worte fassen oder in eine Kosten-Nutzen-Analyse einbeziehen lässt. In manchen Fällen (z.B. Leon Kass) scheint das Unbehagen von religiösen oder krypto-religiösen Empfindungen herzurühren, während es für andere (z.B. Francis Fukuyama) säkularen Überzeugungen entspringt. Die Biokonservativen argumentieren, dass es am besten sei, vielversprechende Human-Enhancement-Technologien weltweit zu verbieten, um eine Entwicklung im Keim zu ersticken, die womöglich eines Tages in einem völlig verkommenen posthumanen Zustand endet.

Obwohl jede kurze Beschreibung notwendigerweise bedeutsame Nuancen unterschlägt, zeigt die obige Charakterisierung trotzdem eine wesentliche Trennungslinie in einer der bedeutendsten intellektuellen Auseinandersetzungen unserer Zeit auf: Wie sollten wir der Zukunft der Menschheit entgegensehen? Sollten wir versuchen, Technologien zu verwenden, um uns selbst „mehr als menschlich“ zu machen? Im nächsten Beitrag werden zwei verbreitete Befürchtungen hinsichtlich posthumaner Wesen unterschieden und es wird argumentiert, dass diese Befürchtungen teilweise unbegründet sind, und dass es zudem bessere Alternativen als weltweite Technologieverbote gibt, um den realen Risiken zu begegnen, auf denen diese Befürchtungen zum Teil fussen. Im darauffolgenden Beitrag wird auf das Konzept der Würde eingegangen, von der Biokonservative glauben, dass sie durch künftige Human-Enhancement-Technologien gefährdet wird. Abschliessend wird argumentiert, dass nicht nur Menschen in ihrer gegenwärtigen Form, sondern auch posthumane Wesen Würde besitzen könnten.

Beitragsreihe: Ein Plädoyer für posthumane Würde

  1. Teil 1: Transhumanisten vs. Biokonservative
  2. Teil 2: Zwei Befürchtungen hinsichtlich posthumaner Wesen
  3. Teil 3: Ist menschliche Würde unvereinbar mit posthumaner Würde?

Quellenangabe

Bostrom, Nick (2005). In Defense of Posthuman DignityBioethics, Vol. 19, No. 3, pp. 202-214. Ins Deutsche übersetzt von D. Althaus und A. Pöhlmann
2. Bostrom, Nick (2003). Human genetic enhancements: a transhumanist perspective. The Journal of Value Inquiry, Vol. 37, No. 4, pp. 493-506.
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Falsche Bescheidenheit und die „Arroganz“ der Wissenschaft https://gbs-schweiz.org/blog/falsche-bescheidenheit-und-die-arroganz-der-wissenschaft/ https://gbs-schweiz.org/blog/falsche-bescheidenheit-und-die-arroganz-der-wissenschaft/#respond Wed, 16 Jul 2014 15:47:14 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=7758 Bescheidenheit ist eine Tugend. Die Frage ist: Welche Art von Bescheidenheit?

Stellen wir uns einen Kreationisten vor, der behauptet: „Aber wer kann schon wirklich wissen, ob die Evolution korrekt ist? Es ist nur eine Theorie. Wissenschaftler sollten nicht so engstirnig, sondern bescheidener sein.“ Ist das Bescheidenheit? Der Kreationist ist jedenfalls sehr wählerisch in seiner Bescheidenheit: Er weigert sich gewaltige Mengen an Evidenzen zu berücksichtigen, da sie eine Schlussfolgerung begünstigen, die er für unbequem hält. Ob man dies nun als „Bescheidenheit“ bezeichnet oder nicht, rational ist es sicherlich nicht.

Wie verhält es sich mit einer Ingenieurin, die störungssichere Mechanismen für einen Fahrstuhl entwickelt, obwohl sie sich sicher ist, dass der Fahrstuhl auch ohne diese Mechanismen nicht ausfallen wird? Das scheint eine gute Art von Bescheidenheit zu sein. Obwohl sich so manche Ingenieure todsicher darüber waren, dass eine von ihnen entwickelte Maschine nicht ausfallen wird, fiel sie dennoch aus.

Und die Studentin, die bescheiden ihre Antworten bei einem Mathe-Test nochmals überprüft? Das ist wiederum die gute Art von Bescheidenheit.

Aber was ist mit einem Studenten, der behauptet, „Egal wie oft ich meine Antworten überprüfe; ich kann niemals sicher sein, dass sie richtig sind. Deshalb kann ich es auch gleich unterlassen.“ Das scheint eher die schlechte Art von Bescheidenheit zu sein.

Sie schlagen ihm vor, mehr zu lernen, aber der Student antwortet: „Nein, das würde mir nicht helfen, ich bin einfach nicht schlau genug. Jemand wie ich muss sich dem Schicksal schlechter Noten fügen.“ Doch dies ist soziale Bescheidenheit und hat folglich mit sozialem Status, aber nichts mit Wissenschaft oder rationalem Denken zu tun. Wenn Sie jemanden bitten, „bescheidener“ zu sein, wird er automatisch an soziale Bescheidenheit denken — was ein intuitives und altbekanntes Konzept ist. Wissenschaftliche Bescheidenheit hingegen ist ein neues, kontraintuitives Konzept und nicht an sich sozial. Wissenschaftliche Bescheidenheit sollten Sie auch ausüben, wenn Sie alleine und unbeobachtet auf einem Planeten wären, der Lichtjahre von der Erde entfernt ist. Wenn Sie ein guter Wissenschaftler sind, überprüfen Sie Ihre Berechnungen selbst unter diesen Umständen genau.

Angenommen, der Student antwortet: „Aber ich habe gesehen, wie andere Studenten ihre Antworten nochmals überprüft haben und sie waren dennoch falsch. Zudem gibt es ja auch noch das Induktionsproblem. Egal, was ich mache, ich kann niemals hundertprozentig sicher sein.“ Das mag sehr tiefgründig und bescheiden klingen. Aber es ist kein Zufall, dass der Student den Test möglichst schnell abgeben will, um nach Hause gehen und Computer spielen zu können.

In der Physik kündigt sich das Ende einer Ära nicht immer mit Donner und Trompeten an; es beginnt öfter mit einem zunächst unwichtig erscheinenden Fehler in den Gleichungen. Aber da Physiker nun einmal diese “arrogante” Idee haben, dass ihre Modelle nicht nur meistens, sondern immer und überall zutreffen sollten, gehen sie selbst geringfügigen Fehlern nach. Häufig verschwindet ein kleiner Fehler bei näherer Betrachtung. Aber manchmal dehnt sich ein solcher Fehler aus, bis die ganze Theorie in sich zusammen bricht. Nur weil PhysikerInnen nach Perfektion strebten, verfügen wir heute über derart faszinierende (und nützliche) Errungenschaften wie beispielsweise die Quantenphysik.

Aber ist es nicht dreist, die ganze Zeit richtig liegen zu wollen? Wenn die Wissenschaft behaupten würde, dass die Evolutionstheorie meistens, aber nicht immer korrekt ist (oder dass die Erde an manchen Tagen vielleicht wirklich eine Scheibe ist), dann hätten WissenschaftlerInnen in so manchen Kreisen wahrscheinlich einen besseren Ruf. Die Wissenschaft würde als weniger streitlustig angesehen werden, weil man nicht mit Leuten debattieren müsste, die glauben, dass die Erde flach sei — ein Kompromiss wäre möglich. Wer häufig argumentiert, erscheint streitlustig. Noch schlimmer wird es, wenn man sich wiederholt weigert, Kompromisse zu machen. Es scheint sich hier wieder um eine Sache des sozialen Status zu handeln: WissenschaftlerInnen haben sich zwar einigen Status verdient, indem sie so nützliche Hilfsmittel wie Antibiotika und Computer erfunden haben. Doch in den Köpfen einiger Gegner der Wissenschaft mag sich Folgendes abspielen: „Diese Wissenschaftler beharren darauf, nur ihre Ideen in öffentlichen Schulen zu unterrichten. So hoch ist ihr sozialer Status nun auch nicht! Priester haben ja schliesslich auch hohen sozialen Status. Wissenschaftler werden langsam grössenwahnsinnig — sie haben ein bisschen sozialen Status gewonnen und jetzt denken sie, dass sie das Sagen haben! Sie sollten bescheidener sein, mehr Kompromisse machen.“

Humility

Viele Menschen scheinen nur eine recht vage Vorstellung von „rationaler Bescheidenheit“ zu haben. Doch es ist gefährlich, normative Prinzipien zu vertreten, die man nicht wirklich versteht; wenn eine gedankliche Vorstellung zu ungenau ist, kann sie leicht angepasst werden, um schliesslich fast jede Handlung zu rechtfertigen. Wenn Leute ungenaue Vorstellungen haben, mit denen man für fast alles argumentieren kann, glauben sie letzten Endes das, was auch immer sie anfangs glauben wollten. Das ist so praktisch, dass Menschen Unklarheit meist gar nicht aufgeben wollen. Aber Zweck der Ethik ist es, uns zu führen, nicht von uns geführt zu werden.

„Bescheidenheit“ ist also eine Tugend, die häufig missverstanden wird. Das bedeutet nicht, dass wir die Idee der Bescheidenheit verwerfen sollten, sondern dass wir sie achtsam verwenden sollten. Es ist hilfreich, die Handlungen zu betrachten, die von einer „bescheidenen“ Geisteshaltung nahe gelegt werden, und sich zu fragen: „Macht mich diese Art zu handeln, stärker oder schwächer?“

„Bescheidenheit“ dient zudem häufig nur als Vorwand, um mit der Achsel zu zucken. So wie die Käuferin eines Lotterieloses, die sagt: „Aber Sie können nicht wissen, dass ich verlieren werde.“ Oder der Kreationist, der behauptet: „Sie können nicht beweisen, dass die Evolutionstheorie wahr ist.“ Diesen Fällen liegt motivierter Skeptizismus zugrunde, eine Unterart des confirmation bias — Ansichten, die man nicht glauben will, werden übermässig hinterfragt. Bescheidenheit wird häufig als allumfassende Ausrede missverstanden, nicht an etwas glauben zu müssen, weil man am Ende doch nie hundertprozentig sicher sein kann. Aber allumfassende Ausreden sind immer verdächtig.

Ein weiteres Problem besteht darin, dass man — um einen guten Eindruck zu machen — allzu leicht blosse Lippenbekenntnisse zur Bescheidenheit ablegen kann, ohne dabei wirklich bescheiden zu sein. Ähnlich verhält es sich mit religiösen Überzeugungen: Daniel Dennett weist in seinem Buch „Den Bann brechen“ darauf hin, dass viele religiöse Behauptungen zwar schwer zu glauben sind, aber viele Leute denken, dass sie an solche Behauptungen glauben sollten. Dennett bezeichnet das als „an den Glauben glauben„. Es ist ziemlich schwer, wirklich zu glauben, dass drei gleich eins ist. Es ist viel einfacher zu glauben, dass man als guter Christ glauben sollte, dass drei — irgendwie — gleich eins ist, und dies in der Kirche zu bekunden.

Nur allzu leicht lässt sich jedes Gegenargument wie folgt erwidern: „Nun, natürlich könnte ich mich irren.“ Und nachdem man somit pflichtbewusst seine Bescheidenheit bekundet hat, kann man einfach seines Weges gehen, ohne auch nur das Geringste zu ändern.

Es besteht immer die Versuchung, sorgfältig alle neuen Informationen in solcher Weise auszulegen, dass man die eigenen Ansichten und erst recht die eigenen Handlungen so wenig wie möglich ändern muss. John Kenneth Galbraith hat einmal gesagt: „Vor die Wahl gestellt, unsere Meinung zu ändern oder zu beweisen, dass dies nicht nötig ist, macht sich fast jeder an den Beweis.“ Und je grösser die Unannehmlichkeit ist, seine eigene Meinung zu ändern, desto mehr Anstrengung wendet man für den Beweis auf.

Aber wenn man sowieso das Gleiche tut wie bisher, macht es gar keinen Sinn, sich mühsam ausgeklügelte Rationalisierungen auszudenken. Menschen treffen häufig auf neue Informationen und akzeptieren diese zunächst dem Anschein nach, nur um am nächsten Tag zu erklären, dass sie ihre bisherige Haltung unverändert beibehalten und dafür nun aber eine andere Begründung liefern. Doch der Zweck des Denkens ist es, die eigenen Pläne zu gestalten. Wenn man neue relevante Informationen erlangt, sollte man reagieren, seine Pläne anpassen und updaten. Das ist zwar mühevoll, aber besser als das neue Wissen einfach nur in unzugänglichen Kammern des eigenen Bewusstseins verschwinden zu lassen. Aber Bescheidenheit, so wie sie häufig missverstanden wird, kann als wunderbare Ausrede dienen, genau dies zu tun — man muss nur einräumen, dass man falsch liegen könnte und schon hat man einen Vorwand, nichts an seinem Verhalten zu ändern.

Seine eigene Fehlbarkeit einzugestehen und dann nichts dagegen zu unternehmen, zeugt nicht von Bescheidenheit; man prahlt lediglich damit. Wahre Bescheidenheit erfordert daher das Ergreifen von konkreten Massnahmen, um sich gegen seine möglichen Irrtümer abzusichern.

Quellenangabe:

Yudkowsky, E. (2006). The Proper Use of Humility. Übersetzt und ergänzt von D. Althaus.
Image by feverpitched

 

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Sind Ihre Gegner von Natur aus böse? https://gbs-schweiz.org/blog/sind-ihre-feinde-von-natur-aus-boese/ https://gbs-schweiz.org/blog/sind-ihre-feinde-von-natur-aus-boese/#respond Sat, 21 Jun 2014 16:50:50 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=6828 Wie zuvor besprochen, sehen wir die Taten anderer Menschen in übermässigem Grade in ihrer Persönlichkeit begründet. Wir vermuten, ungewöhnliches Verhalten müsse durch ungewöhnliche Charaktereigenschaften verursacht werden, und ignorieren situative Einflüsse. Wir glauben an Mutanten.

Wenn uns jemand wirklich erzürnt, indem er eine in unseren Augen verabscheuungswürdige Tat begeht, scheint sich der Correspondence Bias sogar noch zu verstärken. Wir sind allzu geneigt, die Übeltaten unserer Gegner durch deren aussergewöhnliche Niedertracht zu erklären. Doch ungeachtet moralischer Erwägungen, sollten wir allein aufgrund wahrscheinlichkeitstheoretischer Überlegungen versuchen, das scheinbar bizarre Verhalten unserer Gegner zu verstehen, indem wir uns bemühen, deren Ansichten zu ergründen. Dies würde einen weniger absonderlichen Charakter unserer Gegner voraussetzen, was a priori wahrscheinlicher ist.

911

Am 11. September 2001 entführten neunzehn Muslime vier Flugzeuge, um mittels einer wohlüberlegten Selbstmordaktion die USA zu schädigen. Warum haben sie das getan? Was glauben Sie? Weil sie in den USA das strahlende Leuchtfeuer der Freiheit gesehen haben, und dessen Vernichtung ersehnten, weil sie mit einer Gen-Mutation geboren wurden, aufgrund derer sie Freiheit verachteten?

Realistisch betrachtet, entwerfen die meisten Menschen ihre Lebensgeschichte nicht dergestalt, dass sie selbst die Schurken darin spielen. Jeder ist der Held seiner eigenen Geschichte. Wenn Sie die Beweggründe Ihres Gegners stets derart interpretieren, dass dieser sich selbst als Schurke sehen müsste, werden Sie niemals verstehen, was wirklich im Kopf Ihres Gegenübers vorgeht.

Aber in der Politik geht uns der Verstand verloren. Diskussionen bedeuten Krieg; Argumente sind Soldaten. Sobald Sie wissen, auf welcher Seite Sie stehen, müssen Sie alle Argumente dieser Seite unterstützen und alle Argumente der gegnerischen Seite attackieren; anderenfalls würden Sie Ihren eigenen Soldaten in den Rücken fallen.

Ein von Natur aus bösartiger Gegner, wäre ein Argument für Ihre Seite. Und jegliches Argument zugunsten Ihrer Seite muss unterstützt werden, egal wie unsinnig — ansonsten könnte Ihr Gegenspieler hierdurch ja möglicherweise einen Vorteil erlangen. Jeder ist bestrebt, die von Patriotismus zeugenden Denunziationen seines Nachbarn zu übertreffen, und niemand wagt es zu widersprechen. Schon bald hat der Feind Hörner, Fledermausflügel, feuerspeienden Atem und ätzendes Gift tropfende Fangzähne. Wenn Sie auf lediglich faktischer Ebene auch nur einen Aspekt davon bestreiten, sind Sie auf der Seite des Feindes und gelten von nun an als Verräter. Wenige Menschen werden verstehen, dass Sie nur die Wahrheit, und nicht den Feind verteidigen.

Doch wenn nur Mutanten zu abscheulichen Taten in der Lage wären, böte die Menschheitsgeschichte einen erfreulicheren Anblick.

Vielleicht besteht auch die Angst, dass Verständnis zu Vergebung führt. Es ist leichter, grausame Mutanten zu erschiessen. „Sterbt, barbarischer Abschaum“ zu schreien, ist ein aufstachelnder Schlachtruf. „Sterbt, ihr Menschen, die wie ich sein könntet, aber in einem anderen Umfeld aufgewachsen seid!“ eher weniger. Sie könnten sich schuldig fühlen, Menschen zu töten, die nicht hoffnungslos verdorben sind.

Damit verwandt scheint das tief verwurzelte Verlangen nach einseitigen Diskussionen zu sein, in welchen die beste Massnahme keinerlei Nachteile aufweist. Angenommen eine feindliche Armee, versucht in Ihr Land einzudringen und Sie zu töten. Sie haben zwei Alternativen: (A) Sich verteidigen oder (B) sich hinlegen und sterben. Wenn Sie sich verteidigen, müssen Sie möglicherweise töten. Wenn Sie jemanden töten, der theoretisch Ihr Freund hätte sein können, ist das eine Tragödie. Die andere Option, sich hinlegen und sterben, ist ebenfalls eine Tragödie. Warum sollte es eine nicht-tragische Option geben? Wer sagt, dass die bestmögliche Alternative keinerlei Nachteile habe? Wenn jemand ohnehin sterben muss, dann kann es genauso gut der Urheber der Gewalt sein, um von zukünftigem Blutvergiessen abzuschrecken, und dadurch die Gesamtanzahl an Toten zu minimieren.

Wenn Ihr Gegner kein dämonischer Mutant ist, sondern lediglich aufgrund seiner Ansichten handelt, welche Gewalt in dieser Situation zu einer normal menschlichen Reaktion machen, dann bedeutet das nicht, dass die Ansichten Ihres Gegners der Wahrheit entsprechen. Es bedeutet nicht, dass seine Handlungen gerechtfertigt sind. Es bedeutet, dass Sie jemanden erschiessen müssen, der der Held seiner eigenen Geschichte ist. In diesem Roman stirbt der Protagonist leider auf Seite 72. Das ist eine Tragödie, aber es ist besser als die alternative Tragödie. Es ist die Entscheidung, die so mancher Polizist machen muss, um unsere nette kleine Welt davor zu bewahren, im Chaos zu versinken.

Falls Sie korrekt einschätzen, was sich tatsächlich im Kopf Ihres Gegners abspielt, wird dieses Wissen kein beglückendes Gefühl selbstgerechter Empörung in Ihnen hervorrufen. Sie werden sich nicht zufrieden auf die Schulter klopfen. Wenn Ihre Einschätzung Sie unerträglich traurig macht, werden Sie die Welt vielleicht so sehen, wie sie wirklich ist. In seltenen Fällen werden Sie zuweilen vor kaltem Entsetzen erstarren, sobald Sie in die Gedankenwelt anderer Menschen eintauchen und die Welt mit ihren Augen sehen. Beispielsweise bei echten Psychopathen, oder neurologisch unversehrten Menschen, deren irrationale Weltanschauung allerdings ihre Vernunft vollends vernichtet hat (Scientologen, „Jesus Camp„-Veranstalter oder eben islamische Fundamentalisten, um nur einige der allzu zahlreichen Beispiele zu nennen).

Um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Die Flugzeug-Entführer des 11. September waren keine bösartigen Mutanten. Sie haben die Freiheit nicht gehasst. Sie, wie so viele, waren die Helden ihrer eigenen Geschichte, und sie starben für das, was sie für richtig hielten — Wahrheit, Gerechtigkeit und den Islam. Das bedeutet nicht, dass ihre Ansichten richtig waren. Es bedeutet nicht, dass ihre Taten gerechtfertigt waren. Es bedeutet, dass sie ihr Leben vielleicht als friedliche Bürger verbracht hätten, wenn sie in einer anderen Umgebung aufgewachsen wären. Und das ist in der Tat eine Tragödie. Willkommen auf der Erde.

Quellenangabe
In Anlehnung an den englischen Originalartikel von Eliezer Yudkowsky.
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Transcendence: Künstliche Intelligenz, reale Gefahr? https://gbs-schweiz.org/blog/transcendence-kuenstliche-intelligenz-reale-gefahr/ https://gbs-schweiz.org/blog/transcendence-kuenstliche-intelligenz-reale-gefahr/#comments Sun, 04 May 2014 18:00:57 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=7841 Der Hollywood-Blockbuster “Transcendence” ist neu in den Kinos. Ohne zu viel von der Handlung zu verraten: Im Film ist der künstliche Intelligenz-Forscher Dr. Caster (gespielt von Johnny Depp) dabei, eine superintelligente Maschine zu erschaffen, doch technologiefeindliche Extremisten versuchen, dies mit allen Mitteln zu verhindern.

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Natürlich ist der Film – wie die meisten Hollywood Blockbuster – aus wissenschaftlicher Sicht nicht wirklich ernst zu nehmen. Aber das Kind mit dem Badewasser auszuschütten und die reine Möglichkeit superintelligenter Maschinen als blosse Science Fiction abzutun, wäre ein Fehler. In ihrem Artikel “Transcending Complacency on Superintelligent Machines” bezeichnen der MIT-Professor Max Tegmark, der Informatik-Professor Stuart Russell, der theoretische Physiker Stephen Hawking, sowie der Nobelpreisträger Frank Wilczek diese bequeme Haltung sogar als “möglicherweise den schwerwiegendsten Fehler aller Zeiten.”

Forschung in künstlicher Intelligenz (KI) hat in letzter Zeit bahnbrechende Fortschritte erzielt. Doch selbstfahrende Autos, das Computerprogramm Watson und die Spracherkennungssoftware Siri sind erst der Anfang. Die KI-Forschung verfügt mit jedem Jahr über mehr Geld, mehr WissenschaftlerInnen und mehr theoretische Grundlagen. Vermutlich werden die heutigen Erfindungen im Vergleich mit den technologischen Errungenschaften der nächsten Jahrzehnte bescheiden anmuten.

Die möglichen Vorteile von KI sind enorm: Wir Menschen verdanken unsere Vormachtstellung auf der Erde nicht unserer Muskelstärke oder Schnelligkeit, sondern dem einzigartigen Einfallsreichtum unseres Gehirns. Vor allem aufgrund unserer Intelligenz konnten wir jene politischen, wirtschaftlichen, technologischen und wissenschaftlichen Errungenschaften anhäufen, von denen unsere moderne Zivilisation abhängt. Wir können uns gar nicht ausmalen, was wir mit superintelligenter KI erreichen könnten, aber die Beseitigung von Kriegen, Krankheit und Armut scheint hierdurch in Reichweite zu gelangen. Die Erschaffung einer superintelligenten Maschine wäre wahrscheinlich das bedeutendste Ereignis in der Geschichte der Menschheit.

Bedauerlicherweise könnte es diese auch frühzeitig beenden, wenn wir nicht lernen, die damit verbundenen Gefahren zu vermeiden. Schon heute erwägen einige Militärmächte autonome Waffensysteme zu entwickeln, die ihre Ziele selbstständig auswählen und eliminieren können. Menschenrechtsorganisationen wie die UNO und Human Rights Watch haben sich bereits für Abkommen ausgesprochen, die solche Waffensysteme verbieten.

Im letzten Jahrzehnt hat sich die KI-Forschung zudem immer mehr in Richtung AGI (artificial general intelligence) entwickelt, ein Feld das lange Zeit unterfinanziert und auf vereinzelte Forscher abseits des Mainstreams beschränkt war. Doch die Zeiten ändern sich: So hat beispielsweise Google Anfang dieses Jahres die KI-Firma DeepMind für ca. 400 Millionen Dollar gekauft, deren erklärtes Ziel es ist, universal anwendbare Lernalgorithmen zu konstruieren. Beachtenswert ist, dass Shane Legg, ein Mitgründer von DeepMind, auf die Einrichtung eines Ethikrats bestanden hat, um mögliche Risiken von KI zu minimieren. Und die Risiken sind hoch: Legg zufolge ist “KI die Nummer 1” unter allen Technologien, welche die Menschheit potentiell auslöschen könnten.

Innerhalb dieses Jahrhunderts – oder vielleicht sogar schon innerhalb der nächsten Jahrzehnte – könnten sich also Szenarien von riesiger Tragweite abspielen. Im Gegensatz zur Lichtgeschwindigkeit oder der Elektronenmasse ist die Intelligenz keine Naturkonstante. Kein physikalisches Gesetz verbietet es, Maschinen herzustellen, die Informationen noch effizienter verarbeiten als menschliche Gehirne und somit unsere Intelligenz übertreffen. Möglicherweise ereignet sich sogar eine explosionsartige Transformation, obwohl sie vermutlich anders ablaufen wird, als im Film dargestellt: Der Statistiker Irving Good hat bereits im Jahre 1965 bemerkt, dass eine superintelligente Maschine ihre Funktionsweise und folglich ihre Intelligenz wiederholt verbessern und ein Ereignis einleiten könnte, das im Film als “Transzendenz” bezeichnet und das gemeinhin “Intelligenzexplosion” oder (technologische) „Singularität“ genannt wird.

Doch was genau ist damit gemeint? Neben der “Intelligenzexplosion” werden häufig noch zwei weitere Auslegungen des Begriffs “Singularität” verwendet: Zum einen im Sinne eines epistemischen Ereignishorizonts: Mit unserer bloss menschlichen Intelligenz können wir schlichtweg nicht vorhersagen, welche Folgen die Erschaffung superintelligenter Maschinen nach sich zieht, oder zu welchen Taten diese in der Lage sind1. Die “Accelerating Change”-These hingegen behauptet, dass unsere technologischen Errungenschaften (wie z.B. die Anzahl der Transistoren auf einem Computerchip) einem exponentiellen Wachstum unterliegen, was eines Tages in eine “Singularität” münden wird. Wie die Weizenkornlegende anschaulich darlegt, wird die Geschwindigkeit exponentiellen Wachstums von der menschlichen Intuition massiv unterschätzt. Dies könnte unter anderem unsere gleichmütige Einstellung gegenüber der Entwicklung von KI erklären.

Egal, welcher der drei Interpretationen man nun folgt, sie scheinen in einem Punkt übereinzustimmen: Die Möglichkeiten einer superintelligenten KI übersteigen unsere kühnsten Träume – und Alpträume. Es wäre folglich naiv, a priori auzuschliessen, dass eine solche KI nicht dazu fähig wäre, die Finanzmärkte zu überlisten, PolitikerInnen zu manipulieren, sowie Technologien und Waffensysteme zu entwickeln, die für uns genauso unverständlich sind, wie Flugzeuge und lasergelenkte Waffen es für Schimpansen sind. Kurzfristig betrachtet beruhen die Auswirkungen von KI also vor allem darauf, von wem sie kontrolliert wird. Doch die langfristigen Auswirkungen von KI hängen davon ab, ob sie überhaupt kontrolliert werden kann.

Zudem können wir uns nicht darauf verlassen, dass eine superintelligente Maschine automatisch “super-wohlwollend” ist. Allgemein gesprochen können wir nicht davon ausgehen, dass eine KI menschliche Emotionen und Ziele wie “Mitleid”, “Gerechtigkeitssinn” oder “Streben nach Autonomie” besitzen wird – dies wäre kritikloser Anthropomorphismus, der zwar äusserst intuitiv, aber häufig genauso irreführend ist, wie beispielsweise der Animismus zeigt. Der Oxford-Philosoph Nick Bostrom geht sogar noch weiter und argumentiert, dass Ziele und Intelligenz “orthogonal” zueinander stehen, d.h. dass eine superintelligente Maschine beliebige, ja sogar “schlechte” Ziele haben kann – jedenfalls aus menschlicher Sicht. Es kommt also darauf an, die KI mit dem “richtigen” Zielsystem auszustatten. Es ist eine offene Forschungsfrage, wie genau dies zu bewerkstelligen ist.

Wir sehen uns also mit gewaltigen Vorteilen, aber auch mit immensen Risiken konfrontiert. Aber nur die Ruhe, denn die Experten unternehmen bereits alles Menschenmögliche, um den besten Ausgang zu gewährleisten, nicht wahr? Falsch. Angenommen, ein Asteroid würde nach den Berechnungen der Forscher mit einer nicht zu vernachlässigenden Wahrscheinlichkeit innerhalb der nächsten Jahrzehnte mit der Erde kollidieren. Würden wir dann einfach achselzuckend erwidern: “Wird schon gut gehen”? Wohl kaum.

Aber diese Situation ist vergleichbar mit dem, was gerade in Bezug auf KI passiert. Obwohl wir dem möglicherweise bedeutsamsten Ereignis der menschlichen Geschichte entgegensehen, wird diesen Themen nur wenig ernsthafte Forschung gewidmet. Die löbliche Ausnahme bilden einige Organisationen wie das Cambridge Center for Existential Risk, das Future of Humanity Institute, das Machine Intelligence Research Institute, das Foundational Research Institute und das Future of Life Institute.

Es steht also einiges, vielleicht geradezu alles auf dem Spiel. Jeder von uns – nicht nur WissenschaftlerInnen oder PolitikerInnen – sollte sich die Frage stellen, was wir heute tun können, um die Wahrscheinlichkeit einer günstigen Entwicklung zu erhöhen.

 

Fussnote

1. Wobei hier anzumerken ist, dass fast alle KIs, die ein gewisses Intelligenzniveau überschreiten, grundlegende instrumentelle Ziele wie beispielsweise “Selbsterhaltung” und “Selbstverbesserung” gemeinsam haben. Somit können wir zumindest grobe Vorhersagen bezüglich der Handlungsweise superintelligenter Maschinen treffen.

 

Inspiriert von “Transcending Complacency on Superintelligent Machines” von S. Hawking, M. Tegmark, S. Russell und F. Wilczek

 

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„Diesen Unsinn glaube ich niemals!“ – Exzessiver Skeptizismus https://gbs-schweiz.org/blog/diesen-unsinn-glaube-ich-niemals-exzessiver-skeptizismus/ https://gbs-schweiz.org/blog/diesen-unsinn-glaube-ich-niemals-exzessiver-skeptizismus/#comments Tue, 08 Apr 2014 06:46:37 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=7200

“To doubt everything or to believe everything are two equally convenient solutions; both dispense with the necessity of reflection.” – Poincaré

Angenommen, Sie begegnen einem Skeptiker, der stolz von sich behauptet:

„Ich glaube nicht an UFOs. Ich glaube nicht an Astrologie. Ich glaube nicht an Homöopathie. Ich glaube nicht an Kreationismus. Ich glaube nicht an Geister. Ich glaube, dass diese Ansichten nicht nur falsch, sondern offensichtlich irrsinnig sind.“

Sie wissen sonst nichts über ihn. Wie viel Anerkennung verdient er nun hinsichtlich seiner Rationalität?

Gewiss würde jeder, der einigermassen gekonnt Evidenzen gewichten, alternative Erklärungen bedenken und A-priori-Wahrscheinlichkeiten abschätzen kann, an keine dieser Ansichten glauben.

Aber es gibt auch eine einfachere Erklärung für die Ansichten dieses Skeptikers: Er könnte lediglich dem Mainstream folgen. Vielleicht ist er auch mit einigermassen gebildeten Leuten befreundet und weiss, dass Astrologie und Homöopathie keine akzeptierten Ansichten seines „Stammes“ sind. Oder er spürt intuitiv, ohne das Gefühl in Worte fassen zu können, dass diese Ansichten irgendwie sonderbar klingen. Und er könnte einfach alles verhöhnen, das seltsam klingt und von seinen Stammesmitgliedern für falsch gehalten wird — ähnlich wie Kreationisten, die sich mit anderen Kreationisten über die Evolutionstheorie lustig machen, weil sie absurderweise behauptet, dass Affen Menschen gebären.

Es ist einfach, für Ihre Rationalität Anerkennung zu bekommen, indem Sie falsche Ansichten verspotten, die von Ihrem sozialen Umfeld bereits für falsch gehalten werden. Das bedeutet aber nicht, dass Sie wirklich rational sind und auch nur die geringste Fähigkeit haben, eine falsche Ansicht zu bemerken, welche die Leute um Sie herum für wahr halten; oder umgekehrt.

Der Gott-Test

In den guten alten Zeiten gab es einen einfachen, aber dennoch sehr hilfreichen Test für dieses Phänomen: Sie hätten eine Person einfach fragen können, was sie von Gott hält. Wenn sie der Idee viel grösseren Respekt als der Astrologie gezollt und sie einer eingehenden Diskussion für würdig erachtet hätte, dann wüssten Sie, dass sie sich von ihrer sozialen Umgebung leiten lässt und keine Ansichten verspottet, die in den Augen ihrer Mitmenschen hohen Status und Ansehen geniessen — ganz gleich wie dürftig die Beweislage ist.

Aber angenommen eine Skeptikerin denkt, dass die Beweislage für die Existenz Gottes ähnlich vernichtend wie jene für übernatürliche Kräfte ist, und behauptet ohne zu zögern: „Keine positiven Indizien, viele gescheiterte Untersuchungen, äussert geringe A-priori-Wahrscheinlichkeit, und wenn Sie an jene Ideen unter diesen Umständen glauben, stimmt etwas mit Ihrem Verstand nicht.“ Solcher Skeptizismus ist ein sozial kostspieliges Unterfangen und nicht jeder ihrer Mitmenschen würde so etwas gutheissen. Daraus können Sie folgern, dass die Skeptikerin nicht nur versucht, auf eine möglichst ungefährliche Art Beifall zu ernten.

Heute funktioniert der Gott-Test nicht mehr wirklich, weil immer mehr Menschen versuchen, die Religion der Lächerlichkeit preiszugeben und ihr jeglichen Respekt zu entziehen. Denn sie haben erkannt, dass der epistemisch hoffnungslose Zustand der Religion vor allem deshalb nicht bemerkt wird, weil sie noch immer in eine Aura des ehrfürchtigen Respekts gehüllt ist. Gott sei Dank gilt der Gottesglaube heute folglich in vielen sozialen Kreisen nur als eine weitere alberne Idee, an die niemand glaubt; nicht viel besser als die Astrologie. Ein Atheist könnte also ein fähiger Rationalist sein. Oder einfach jemand, der Reddit liest.

Man könnte jetzt weitere Ansichten kritisieren, die von einigen Menschen für wahr gehalten werden, und würde zwangsläufig manche LeserInnen verlieren — genauso wie man ein paar Jahrzehnte zuvor durch die Behauptung, dass die Religion einer ernsthaften Diskussion nicht würdig ist, den Grossteil der Leserschaft verärgert hätte.

Künstliche Intelligenz — nur Science-Fiction?

Eine solche Ansicht ist wohl die Überzeugung, dass starke künstliche Intelligenz unmöglich ist. Doch dies ist ein Beispiel von exzessivem Skeptizismus. Wahrscheinlich werden durch diese Behauptung nicht viele LeserInnen vergrault, denn innerhalb von gebildeten Kreisen glauben die meisten Leute, dass Gehirne keine Zauberei sind und dass es im Prinzip möglich ist, denkende Maschinen zu bauen. Natürlich gibt es auch Menschen für die künstliche Intelligenz „sonderbar“ und nach „Science-Fiction“ klingt; ein Glaube an etwas, das niemals nachgewiesen wurde, also unwissenschaftlich ist — vom epistemischen Standpunkt her auf einer Stufe mit Aliens und Homöopathie.

UFOs

Nebenbei bemerkt: Ihnen wird vielleicht aufgefallen sein, dass hier unerreichbare Evidenzen gefordert werden. Denn zwischen künstlicher Intelligenz und Homöopathie herrscht folgende, vierteilige Asymmetrie: (1) Um herauszufinden, dass künstliche Intelligenz definitiv unmöglich ist, müssten wir eine neue, der bisherigen Wissenschaft unbekannte Tatsache in Erfahrung bringen. Denn alles was wir derzeitig über Neuronen und die Evolution der Intelligenz wissen, deutet an, dass keine Magie im Spiel war. (2) Andererseits gilt: Um herauszufinden, dass Homöopathie überhaupt möglich ist, müssten wir eine neue, der modernen Wissenschaft unbekannte Tatsache entdecken; wenn unsere derzeitigen physikalischen Theorien auch nur annähernd richtig sind, kann Homöopathie nicht funktionieren. (3) Wenn Homöopathie funktionieren würde, sollten bereits klinische Doppelblindstudien vorliegen, die ihre Wirksamkeit bestätigen. Das Fehlen solcher Nachweise ist ein besonders überzeugender Nachweis ihrer Unwirksamkeit. (4) Falls jedoch künstliche Intelligenz theoretisch möglich sein sollte, ist nicht zwangsläufig zu erwarten, dass bereits mit heutigen Mitteln eine künstliche Intelligenz konstruiert werden kann; das Fehlen dieses Nachweises ist nur ein schwaches Anzeichen dafür, dass künstliche Intelligenz unmöglich ist.

Künstliche Intelligenz ist ein aufschlussreiches Beispiel, weil hier so manche SkeptikerInnen ihren Skeptizismus gegen eine in gebildeten Kreisen weitverbreitete Ansicht richten: Den Glauben, dass Intelligenz nicht mysteriös und letztendlich nachkonstruierbar ist. Hier kann man sogar sehen, wie zwei Prinzipien des Skeptizismus miteinander in Konflikt geraten; glaubt eine gute Skeptikerin nicht an künstliche Intelligenz, weil es ein Haufen spekulativer Science-Fiction ist? Oder glaubt eine gute Skeptikerin nicht an die Einzigartigkeit des Menschen, da diese irgendeine der modernen Wissenschaft unbekannte, mysteriöse Essenz der Intelligenz voraussetzen würde?

Willkürlicher Skeptizismus behindert den Fortschritt

In Fragen wie diesen treffen wir die Grenzen unseres Wissens an. Alles was heute etabliert ist, befand sich einmal an dieser Grenze. Es mag den Anschein haben, dass Diskussionen eigenartiger Ansichten abseits des Mainstreams unwichtig, ja sogar unklug sind, da man nur Ablehnung und offenen Spott riskiert. Aber hielte sich jeder an diesen Grundsatz, würde der Fortschritt zum Erliegen kommen. Der Mainstream liegt nicht in allen Fragen richtig, und zukünftige Wissenschaft wird nicht nur aus Theorien bestehen, die sich heute für jeden von uns vernünftig anhören — zumindest manche Dinge werden uns bizarr erscheinen. Eines Tages werden derartige wissenschaftliche Wahrheiten experimentell bestätigt und letztendlich von der Mehrheit für wahr gehalten werden. Aber vorher müssen die dafür nötigen Experimente finanziert werden.

Skeptizismus sollte also nicht als unwichtig abgetan werden. Ansichten abseits des Mainstreams sind nicht immer offensichtlich unsinnig. Diskussionen mit Randgruppen sind nicht immer zwecklose Schindereien — obwohl man sicherlich verstehen kann, dass es sich so anfühlt, wenn man mit Kreationisten zu tun hat. Nein, gute SkeptikerInnen versuchen die Grenzen unseres Wissens zu erweitern: Sie glauben, dass der mit Skepsis betrachtete Bereich nicht weiter erforscht werden sollte, und wir stattdessen die Grenzen unseres Wissens in eine andere Richtung ausdehnen sollten.

Das ist bedeutsame und schwierige Arbeit — sicherlich viel schwieriger als einfach nur alle Ansichten zu verspotten, die seltsam klingen und von Leuten in Ihrem sozialen Umfeld ohnehin schon nicht geglaubt werden.

Ehe Sie also glauben, dass jemand nützliche geistige Arbeit leistet, sollten Sie in Erfahrung bringen, ob dessen Skeptizismus zwischen Wahrheit und Unwahrheit unterscheidet, und einen einfallsreicheren Beitrag leistet, als nur zu behaupten: „Das hört sich seltsam an und ist keine Ansicht meines Stammes.“ In bayesianischer Sprache ausgedrückt sollten Sie herausfinden, ob p(Spott|falsche Ansicht & keine stammeszugehörige Ansicht) > p(Spott|wahre Ansicht & keine stammeszugehörige Ansicht).

Nutzloser vs. nützlicher Skeptizismus

Hier ein historisches Beispiel von unbrauchbarem Skeptizismus: Das Project Blue Book der US-Luftwaffe erklärte einmal eine angebliche UFO-Sichtung durch die verwirrende Erscheinung des Planeten Venus. Im Nachhinein stellte sich aber heraus, dass es tatsächlich ein Versuchsflugzeug war. Nein, rationale Menschen glauben nicht an UFOs, aber wenn Sie Versuchsflugzeuge durch den Planeten Venus weg-erklären, dann liefert keine Ihrer Behauptungen darüber hinausgehende bayesianische Belege gegen die Existenz von UFOs. Ihr Skeptizismus wäre nutzlos. Rationale SkeptikerInnen glaube nicht an UFOs, aber Project Blue Book kann uns diesbezüglich zu keinen zusätzlichen Belegen verhelfen, wenn es den gleichen Bericht abgeliefert hätte, wenn es tatsächlich Aliens gäbe.

Bevor Sie also jemandem zugutehalten, dass er ein intelligenter, rationaler Skeptiker ist, sollten Sie ihn bitten, eine Ansicht abseits des Mainstreams zu verteidigen. Nein, Atheismus zählt nicht mehr. Es muss etwas sein, das die meisten Leute aus dem sozialen Umfeld dieser Person nicht glauben. Zusatzpunkte gibt es, wenn die Ansicht zudem auch noch eigenartig klingt.

Gewiss, da draussen wimmelt es vor Wahnsinnigen und wenn Richard Dawkins die Astrologie niedermacht, leistet er gute und notwendige Arbeit. Aber es ist gefährlich, wenn Leute übermässige Anerkennung einheimsen, nur weil sie Astrologie, Homöopathie, UFOs und Gott herunterputzen. Was wenn sie durch das Attackieren einfacher Ziele berühmte Skeptiker werden, und dann ihre Glaubwürdigkeit gebrauchen, um sich beispielsweise über künstliche Intelligenz lustig zu machen? Gegenwärtig können Sie in intellektuellen Kreisen hohes Ansehen erlangen, wenn sie lediglich Ansichten wie Astrologie ins Visier nehmen, welche von der Mehrheit für ungebildet gehalten werden; aber dann können die selben Waffen gegen neuartige Ideen wie beispielsweise den Anti-Speziesismus gerichtet werden, obwohl einflussreiche Philosophen überzeugende Argumente für diese Anschauung anführen. Deshalb sollten Sie sich — bevor Sie sich einen guten, rationalen Skeptiker nennen dürfen — ein wenig aus dem Fenster lehnen und zumindest eine weniger gängige Ansicht vertreten, welche von den meisten Mitgliedern Ihres Stammes nicht geteilt wird.

Hier wäre es angebracht, auf Robyn Dawes als Paradebeispiel eines fähigen Rationalisten aufmerksam zu machen. Dawes hat nicht nur leichte Ziele wie die Astrologie angegriffen, sondern war auch massgeblich daran beteiligt, den völligen Mangel an experimentellen Wirksamkeitsnachweisen vieler psychotherapeutischer Schulen zusammenzustellen und der breiten Öffentlichkeit zugänglich zu machen. Zudem hat er gezeigt, dass unzählige abergläubische Verfahren wie der Rorschachtest weiterhin verwendet werden, und das obwohl buchstäblich hunderte von Experimenten vergeblich versucht haben, dessen Wirksamkeit zu beweisen. Heute scheint beispielsweise die Psychoanalyse kein schwieriges Ziel mehr zu sein, aber zu Dawes Zeiten genoss sie bei vielen Intellektuellen hohes Ansehen.

Merkmale willkürlicher SkeptikerInnen

Abschliessend noch ein paar einfache Warnsignale, die anzeigen, dass der fragliche „Skeptiker“ vermutlich nur automatisch einer oberflächlichen, gedanklichen Schablone folgt, die er gewohnheitsmässig benützt, um andere Ansichten zu verspotten.

  • Der „Skeptiker“ führt gegen X „Belege“ an, welche man aber auch erwartet hätte, wenn X wahr und nicht falsch wäre. Anders gesagt versteht der „Skeptiker“ also das bayesianische Evidenz-Konzept nicht. Eine rationale Skeptikerin glaubt nicht an die Existenz von UFOs, aber ihr Skeptizismus hat nichts mit all den Verrückten zu tun, die an UFOs glauben. Denn irrsinnige UFO-Sekten gäbe es auch, wenn es tatsächlich Aliens geben würde. Ein rationaler Skeptiker bezweifelt die Existenz von UFOs, nicht weil er Angst hat, mit Leuten von zweifelhaftem Ruf in einen Topf geworfen zu werden, sondern weil es ihm unwahrscheinlich erscheint, dass Ausserirdische interstellare Reisen auf sich nehmen und alle Anzeichen ihrer Anwesenheit verbergen und dann über Militärstützpunkten herumfliegen, während ihre Aussenbelichtung angeschaltet ist.
  • Die Forderung nach unerreichbaren Belegen ist häufig bei misslungenem Skeptizismus zu beobachten. Gewiss, künstliche Intelligenz oder Nanotechnologie übersteigen unsere heutigen technologischen Möglichkeiten. Aber die derzeitigen wissenschaftlichen Kenntnisse sprechen für deren letztendliche Realisierbarkeit: Unser Gehirn arbeitet ohne Hexerei und elementare physikalische Berechnungen scheinen zu zeigen, dass einfache nanotechnologische Maschinen funktionieren sollten. Doch viele sogenannte SkeptikerInnen ignorieren Kognitionswissenschaften und Physik, und verlassen sich auf das Totschlagargument „noch kein zuverlässiger Zeuge hat eine künstliche Intelligenz gesehen!“. Sie folgen blind einem Argumentationsmuster, das vielleicht bei Geistern und Spukhäusern Sinn macht, nicht jedoch bei künstlicher Intelligenz.
  • Der „Skeptiker“ versucht Ihnen Angst vor der fraglichen Ansicht zu machen; und das bereits im ersten Satz. Beispielsweise weist er darauf hin, dass UFO-Sekten ihre Opfer schlagen und verhungern lassen (obwohl das vermutlich auch geschehen würde, wenn es tatsächlich Aliens gäbe). Sicherlich, die negativen Folgen einer falschen Ansicht mögen real sein; aber zuerst sollte man durch andere Mittel aufzeigen, dass die Ansicht faktisch falsch ist. Andererseits würde man aus den unerwünschten Konsequenzen einer Ansicht auf deren Unwahrheit schliessen, was ein logischer Fehlschluss ist.
  • Die Idee wird zuerst verhöhnt, und Gegenargumente folgen erst später oder überhaupt nicht. Im Krieg gegen stupide Ideen kann Spott angebracht sein, aber Sie sollten zuerst das vernichtende Gegenargument verfassen, dann kann der Spott folgen.
  • Der Grad der Gewissheit bezüglich verschiedener Ansichten: Angenommen der „Skeptiker“ ist sich bei komplexen Streitfragen (z.B. einer bestimmten Drogenpolitik) genauso sicher wie bei eindeutig geklärten Sachverhalten (z.B. der Astrologie); dann können Sie davon ausgehen, dass er nicht wirklich weiss, wovon er redet.

Zum Schluss muss aber noch zur Vorsicht gemahnt werden: Aus schlechtem Skeptizismus kann man natürlich nicht folgern, dass die kritisierte Hypothese wahr ist. Schlechter Skeptizismus kann gegen wahre, aber ebenso gut gegen falsche Ansichten gerichtet sein.

In Anlehnung an den Originalartikel von Eliezer Yudkowsky.
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Der Fehlschluss der Atypikalität – Das schlechteste Argument der Welt? https://gbs-schweiz.org/blog/der-fehlschluss-der-atypikalitaet-das-schlechteste-argument-der-welt/ https://gbs-schweiz.org/blog/der-fehlschluss-der-atypikalitaet-das-schlechteste-argument-der-welt/#comments Tue, 31 Dec 2013 15:27:12 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=4496 David Stove veranstaltete einmal einen Wettbewerb, um das schlechteste Argument der Welt zu finden, aber er verlieh die Auszeichnung seinem eigenen Vorschlag, der obendrein seine eigenen Ansichten befürwortete. Die ganze Angelegenheit war also kein besonders objektiver Prozess. Wenn Stove das schlechteste Argument küren kann, dann kann ich das auch. Das schlechteste Argument der Welt lautet: „X befindet sich in einer Kategorie dessen prototypisches Element in uns eine bestimmte Emotion hervorruft. Deshalb sollten wir dieselbe Emotion auf X anwenden, auch wenn X ein atypisches Element der Kategorie ist.“

Nennen wir dies den Fehlschluss der Atypikalität. So ausgedrückt klingt das Ganze ziemlich dumm. Begeht diesen Fehlschluss überhaupt irgendjemand?

Der Fehlschluss klingt nur dumm, weil wir noch nüchtern über Kategorien und Eigenschaften reden. Sobald normale Wörter ins Spiel kommen, wird er derart überzeugend, dass viele, wenn nicht sogar die meisten aller schlechten Argumente in Politik und Philosophie auf die ein oder andere Weise einen Fehlschluss der Atypikalität darstellen. Aber betrachten wir zunächst ein einfacheres Beispiel.

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Angenommen jemand will zu Ehren Martin Luther Kings eine Statue errichten, um ihn so für seine Verdienste im gewaltlosen Widerstand gegen den Rassismus auszuzeichnen. Ein Kontrahent, der gegen den Bau der Statue ist, wirft ein: „Aber Martin Luther King war ein Krimineller!“

Jede Historikerin kann dies bestätigen. Rein fachlich betrachtet ist ein Krimineller jemand, der das Gesetz bricht, und King verstiess in der Tat wissentlich gegen ein Gesetz. Jenes nämlich, welches friedfertige Proteste gegen Rassentrennungen verbot.

Aber Martin Luther King war kein typischer Krimineller. Der prototypische Kriminelle ist ein Dieb oder ein Bankräuber.

Gier ist sein Antrieb, unschuldig seine Opfer und verheerend die Auswirkungen seiner Taten auf den Zusammenhalt der Gesellschaft. Da wir diese Dinge verurteilen, haben wir von einer Person natürlicherweise eine schlechtere Meinung, sobald wir erfahren, dass sie ein Krimineller ist.

Der Kontrahent sagt in etwa „Weil du Kriminelle verurteilst, und Martin Luther King ein Krimineller war, solltest du Martin Luther King ebenfalls verurteilen.“ Aber King war nicht habgierig und beutete keine Unschuldigen aus. Er wies nicht jene zentrale Eigenschaften eines typischen Kriminellen auf, aufgrund derer wir Kriminelle überhaupt erst geringschätzen. Daher gibt es keinen Grund, King gering zu schätzen, auch wenn er ein Krimineller war.

So dargestellt hört sich das alles logisch und überzeugend an. Unglücklicherweise ist dies unseren Instinkten gänzlich entgegengesetzt, denn im wirklichen Leben haben wir den starken Drang zu erwidern: „Martin Luther King ein Krimineller? Auf gar keinen Fall! Nimm das zurück!“ Deshalb ist der Fehlschluss der Atypikalität so erfolgreich. Sobald Sie dies tun, sind Sie in die Falle Ihres Gegners geraten. Es geht nicht mehr um die Vor- und Nachteile des Baus einer Statue; es geht darum, ob Martin Luther King ein Krimineller war. Da er einer war, haben Sie das Argument soeben verloren.

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Idealerweise sollten Sie einfach sagen können, dass King zwar ein Krimineller war, dass er aber ein „Krimineller von der guten Sorte“ war. Aber das mitten in einer Diskussion zu erläutern scheint wenig erfolgsversprechend. Und in manchen Fällen, in denen der Fehlschluss der Atypikalität für gewöhnlich zum Einsatz kommt, mag es sogar noch schwieriger sein.

Konkrete Beispiele

Im Folgenden seien einige dieser Fälle angeführt. Viele davon sind politisch1, was aus didaktischer Sicht suboptimal ist, aber es ist schwierig ein schlechtes Argument nur rein abstrakt und getrennt von konkreten Verwendungen zu analysieren. Die Beispiele sollen nicht andeuten, dass die Position abwegig ist, die durch das jeweilige Argument unterstützt wird. Ich will lediglich zeigen, dass einzelne Argumente mit gravierenden Mängeln behaftet sind.

„Abtreibung ist Mord!

Charles Manson bricht in Ihr Haus ein und erschiesst Sie. Dies wäre ein archetypischer Mord. Diese Art von Mord ist schlecht aus vielerlei Gründen: Sie bevorzugen es, nicht zu sterben; verschiedene Ihrer Hoffnungen und Träume blieben auf ewig unerfüllt; Ihre Familie und Freunde wären todunglücklich; und der Rest der Gesellschaft müsste in Angst leben bis Manson gefangen genommen wird.

Wenn man Mord als „Töten eines anderen menschlichen Wesens“ definiert, ist Abtreibung eigentlich Mord. Aber Abtreibung hat keine der Nachteile eines Mordes nach Manson-Art. Sicherlich, es mag so manche Gründe geben, welche sich gegen die Abtreibung ins Felde führen liessen. Doch der Ausdruck „Abtreibung ist Mord“ lädt dazu ein, Emotionen, welche durch einen grausamen Mord nach Manson-Art hervorgerufen werden, direkt auf eine Abtreibung anzuwenden. Aber einer normalen Abtreibung fehlen genau diejenigen Eigenschaften, aufgrund derer wir einen Mord überhaupt erst mit negativen Emotionen assoziieren2.

„Die Heilung von Krankheiten durch Gentechnik ist Eugenik!“

Ok, jetzt haben Sie mich erwischt. Da Eugenik das „Verbessern des Genpools“ bedeutet, ist diese Aussage offensichtlich richtig. Aber was ist eigentlich so schlimm an Eugenik? „Was schlimm an Eugenik ist? Hitler betrieb Eugenik! Die ganzen unmoralischen Wissenschaftler in den 1950er Jahren, die afroamerikanische Frauen ohne deren Einwilligung sterilisiert haben, betrieben auch Eugenik!“ – „Und was spricht nun gegen die Taten Hitlers und dieser unmoralischen Wissenschaftler?“ – „Was dagegen spricht? Sind Sie wahnsinnig? Hitler hat Millionen von Menschen umgebracht! Diese Wissenschaftler haben die Leben zahlloser Menschen ruiniert!“ – „Und das Heilen von Krankheiten durch Gentechnik führt auch dazu, dass Millionen von Menschen sterben und die Leben zahlloser Menschen ruiniert werden?“ – „Naja…nicht wirklich.“ – „Was spricht dann dagegen?“ – „Es ist Eugenik!“

„Evolutionäre Psychologie ist sexistisch!“

Wenn man Theorien, welche Unterschiede zwischen den Geschlechtern postulieren, als „sexistisch“ definiert, stimmt diese Aussage zumindest für einige Bereiche der evolutionären Psychologie. Zum Beispiel gilt dem Bateman-Prinzip zufolge, dass Männchen mehr um die Gunst der Weibchen konkurrieren als umgekehrt, falls die Weibchen dieser Spezies mehr Energie in die Nachkommen investieren. Dies setzt natürliche Differenzen zwischen den Geschlechtern voraus. „Aha, Sie gestehen also ein, dass die Theorie sexistisch ist!“ – „Und warum genau ist Sexismus noch einmal schlecht?“ – „Weil Sexismus behauptet, dass Frauen inhärent schlechter sind als Männer und weniger Rechte haben sollten!“ – „Folgt aus dem Bateman-Prinzip also auch, dass Frauen schlechter als Männer sind und weniger Rechte haben sollten?“ – „Naja…nicht wirklich.“ – „Aber was ist dann falsch daran?“ – „Es ist sexistisch!“

Ein zweiter, subtilerer Gebrauch des Fehlschlusses der Atypikalität verhält sich ungefähr folgendermassen: „X ist in einer Kategorie dessen prototypisches Element in uns eine emotionale Reaktion hervorruft. Daher sollten wir dieselbe emotionale Reaktion auf X anwenden, selbst wenn X mehr Vor- als Nachteile mit sich bringt.“

„Todesstrafe ist Mord!“

Mord im Stile von Charles Manson ist grausam und hat keinerlei Vorteile, die die Nachteile aufwiegen könnten, weshalb diese Art von Mord sehr starke negative Gefühle evoziert. Die Befürworter der Todesstrafe glauben, dass sie die Kriminalität reduziere oder andere Vorteile aufweise. Anders formuliert glauben sie, dass die Todesstrafe „ein Mord der guten Sorte“3 sei. Also ähnlich wie das einführende Beispiel, welches zu dem Schluss kam, dass Martin Luther King „ein Krimineller der guten Sorte“ sei. Aber normaler Mord ist derart verpönt, dass es wirklich schwierig ist, die Wendung „Mord der guten Sorte“ ernst zu nehmen, geschweige denn sie in einer hitzigen Diskussion zu gebrauchen. Denn das blosse Äussern des Wortes „Mord“ kann negative Emotionen in derselben Intensität wie unser Charles Manson Beispiel hervorrufen. (Nebenbei: Aus der Tatsache, dass „Todesstrafe ist Mord!“ ein schlechtes Argument gegen die Todesstrafe ist, folgt natürlich nicht, dass es keine guten Argumente gegen sie gibt.)

„Steuern sind Diebstahl!“

Wenn man Diebstahl als „Geld von jemand anderem ohne deren Einwilligung wegnehmen“ definiert, mag das wohl stimmen. Aber ein typischer Fall von Diebstahl — wie beispielsweise in jemandes Haus einbrechen und alle Juwelen stehlen — hat eigentlich nur Nachteile. Normaler Diebstahl ist ungerecht und schadet der Gesellschaft. Es lässt sich argumentieren, dass Steuern auch in einem gewissen Sinne ungerecht sind, da Menschen, die hart für ihr Geld gearbeitet haben, dieses an Andere abgeben müssen. Aber die Etablierung einer Regierung, welche durch Steuern ja erst möglich wird, ist ein unbestreitbarer Vorteil von Steuern und mag wichtiger sein, als dass niemand Geld an die Allgemeinheit abgeben muss. Die Frage ist, ob die Vorteile die Nachteile überwiegen. Deshalb sollte man Steuern nicht einfach ablehnen, nur weil man Diebstahl im Allgemeinen verurteilt. Man müsste ebenfalls zeigen, dass die Vorteile dieser bestimmten Form von Diebstahl deren Nachteile nicht überwiegen.

„Förderungsmassnahmen zugunsten von Minderheiten sind rassistisch!“

Wenn man Rassismus als „bestimmte Menschen aufgrund ihrer Rasse bevorzugen“ definiert, mag dies der Wahrheit entsprechen, aber wieder muss festgehalten werden, dass unsere unmittelbare negative Reaktion auf das archetypische Beispiel von Rassismus, wie z.B. den Ku Klux Klan, nicht auf unsere Reaktion gegenüber Förderungsmassnahmen zugunsten von Minderheiten verallgemeinert werden sollte. Ehe wir verallgemeinern, müssen wir zuerst überprüfen, dass die Probleme, aufgrund derer wir den Ku Klux Klan verurteilen — Gewalt, Erniedrigung, Uneinigkeit, Ungerechtigkeit — auch auf Förderungsmassnahmen zugunsten von Minderheiten zutreffen. Und selbst wenn wir einige dieser problematischen Eigenschaften auch hier finden, wie beispielsweise mangelnde Berücksichtigung meritokratischer Prinzipien, müsste man auch hier zunächst zeigen, dass die Nachteile dieser Politik deren Vorteile überwiegen.

In der Praxis

In hitzigen und temporeichen Wortgefechten kann es dennoch nützlich sein, zu behaupten, dass „Abtreibung kein Mord ist!“ Denn stellen Sie sich vor, Sie würden in einer Diskussion im Debattierclub verlauten lassen, dass „Abtreibung Mord ist, aber trotzdem gut“. Denn nun kann die Gegenseite einfach entgegnen: „Unser werter Opponent denkt anscheinend, dass Mord gut sein kann; wir hingegen beziehen tapfer Stellung und lehnen jegliche Form von Mord ab.“ Und damit haben Sie eigentlich auch schon verloren, denn Ihnen wird wahrscheinlich nicht die Zeit bleiben, Ihrem Widersacher und dem Publikum Ihre Position und den Fehlschluss der Atypikalität en détail zu erläutern. Ähnliches gilt auch für Diskussionen im Alltag, wo Zeit und Motivation häufig ebenfalls begrenzt sind. Aber falls die Umstände intellektuelle Redlichkeit und philosophische Klarheit erlauben, täten Sie gut daran, oberflächlicher Rhetorik abzuschwören und den Dingen auf den Grund zu gehen.

Es mag Fälle geben, in denen obiges Argumentationsmuster nützlich ist. Sie könnten beispielsweise versuchen eine Diskussion zu entfachen, indem Sie mögliche Widersprüche in der Position Ihres Gegners aufzeigen: „Hast du bemerkt, dass Steuern wirklich einige Eigenschaften von typischem Diebstahl aufweisen? Vielleicht hast du noch nie wirklich darüber nachgedacht? Warum sind deine moralischen Intuitionen in diesen beiden Fällen unterschiedlich?“ Aber sobald Ihr Gegenspieler erwidert, dass er ihre Einwände bedacht hat und sich seiner Meinung nach die beiden Fälle hinsichtlich X, Y, und Z unterscheiden, sollte die Unterhaltung fortschreiten; es macht wenig Sinn weiterhin stumpfsinnig zu insistieren: „Aber es ist Diebstahl!“

Meiner Ansicht nach läuft der Fehlschluss der Atypikalität in den meisten Fällen jedoch auf emotionale Manipulation hinaus. Menschen empfinden Wörter automatisch als ewig währendes, monolithisches Ganzes, über-generalisieren folglich die mit einem Wort assoziierten Emotionen, und wenden diese auf alle mit diesem Wort bezeichneten Dinge an. Deshalb sitzen Sie in der Falle, sobald ihr Diskussionspartner Martin Luther King einen „Kriminellen“ nennt. Ihnen wird in den meisten Fällen die Zeit fehlen, zu erwidern, dass Martin Luther King ein „Krimineller der guten Sorte“ sei und daraufhin lang und ausgiebig zu erklären, was Sie damit eigentlich meinen. Sie wurden gezwungen, das archetypische Beispiel des Wortes als Ausgangspunkt der Diskussion zu verwenden und genau die entscheidenden Informationen zu ignorieren.

Und deshalb ist der Fehlschluss der Atypikalität das schlechteste Argument der Welt.

Fussnoten

  1. Es wurden absichtlich drei progressive und drei konservative Beispiele angeführt, um dem geneigten Leser zu ersparen, diese zusammenzuzählen und über die ideologische Gesinnung des Autors zu spekulieren.
  2. Dies sollte von deontologischen Theorien unterschieden werden, denen zufolge Mord immer moralisch verwerflich ist und dies durch ein beweisbares moralisches Prinzip begründet werden kann. Ich glaube nicht, dass diese Anmerkung wirklich wichtig ist, weil nur sehr wenige Menschen überhaupt so weit vorausdenken. Zudem stellt — meiner zugestandenermassen umstrittenen Meinung zufolge — der Grossteil deontologischer Theorien eigentlich nur den Versuch dar, den Fehlschluss der Atypikalität zu formalisieren und zu rechtfertigen.
  3. Manche Leute „lösen“ dieses Problem, indem sie Mord als „ungesetzliches Töten“ definieren. Das ist in etwa genauso kreativ wie „Krimineller“ als „eine Person, die das Gesetz bricht und nicht Martin Luther King ist“ umzudefinieren.
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Warum uns politische Diskussionen einseitiger erscheinen, als sie sollten https://gbs-schweiz.org/blog/warum-uns-politische-diskussionen-einseitiger-erscheinen-als-sie-sollten/ https://gbs-schweiz.org/blog/warum-uns-politische-diskussionen-einseitiger-erscheinen-als-sie-sollten/#respond Sun, 22 Sep 2013 15:50:16 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=4501 Der Ökonom Robin Hanson hat einmal vorgeschlagen, dass es Geschäfte geben sollte, die verbotene Produkte verkaufen¹. Es gibt eine Reihe von exzellenten Argumenten für solch eine Regelung, wie beispielsweise das Recht auf persönliche Freiheit, oder dass es der Karriere der gesetzgebenden BürokratInnen förderlich ist möglichst viele Produkte zu verbieten. Gleichwohl ist es sehr wahrscheinlich, dass irgendeine arme, gutmütige, aber leider nicht überwältigend intelligente Mutter von drei Kindern in einen dieser Läden gehen und „Dr. Quacksalb’s Schwefelsäure-Trank“ für ihre Arthritis kaufen wird. Nach ihrem Tod wird das bitterliche Weinen ihrer Kinder im Staatsfernsehen zum umgehenden Verbot dieser Läden führen.

Das ist lediglich eine einfache, sachliche Vorhersage. Viele LeserInnen werden darin einen Ausspruch gegen die Legalisierung solcher Geschäfte sehen. Warum ist dem so?
Es besteht die berechtigte Erwartung, dass Diskussionen blosser Tatsachenfragen (beispielsweise, ob die Erde eine Kugel oder eine Scheibe ist) einseitig verlaufen; die Erde ist entweder eine Kugel oder eine Scheibe, und die Beweislage sollte dies widerspiegeln.
Aber es gibt keinen Grund, warum Diskussionen komplexer Fragestellungen mit zahlreichen Konsequenzen so einseitig sein sollten.

Warum führen wir also politische Diskussionen derart einseitig?

Politik ist ein Verstandestöter. Argumente sind Soldaten. Sobald Sie wissen, auf welcher Seite Sie stehen, unterstützen Sie automatisch alle Argumente Ihrer Seite und bekämpfen jene, welche für die Gegenseite sprechen. Würden Sie das nicht tun, würden Sie Ihren eigenen „Soldaten“ in den Rücken fallen. Wenn Sie dieses Muster befolgen, werden Ihnen politische Debatten einseitig erscheinen — die Kosten und Nachteile Ihrer favorisierten Politik sind feindliche Soldaten, die mit allen notwendigen Mitteln bekämpft werden müssen.
Doch ebenso wenig zeugt es von besonderer Reife, bei politischen Diskussionen stets vollkommene Neutralität zu wahren. Eine Politik kann wirklich mehr Vorteile und weniger Kosten aufweisen als eine andere. Wenn es keine politischen Programme gäbe, die anderen zumindest geringfügig überlegen wären, könnten wir niemals eine Entscheidung treffen. Aber wir müssen uns vor der menschlichen Neigung hüten, alle Nachteile einer favorisierten Politik zu bestreiten und alle Vorteile der gegnerischen Politik zu verleugnen. Menschen sind aufgrund dieser Neigung oftmals der Ansicht, dass politische Streitfragen viel eindeutiger zu klären sind, als dies eigentlich der Fall ist.

Wenn man Geschäfte erlaubt, welche ansonsten verbotene Produkte verkaufen, wird irgendeine arme, gutmütige, aber ungebildete Mutter von drei Kindern etwas kaufen, das sie umbringen wird. Dies ist lediglich eine deskriptive Vorhersage einfacher Tatsachen. Die Vorhersage scheint zudem eher unkompliziert — eine vernünftige Person sollte bereitwillig zugeben, dass die Vorhersage eintreten wird, unabhängig von ihrer Einstellung zu diesem politischen Streitpunkt. Sie können zugleich denken, dass das Verbot von Produkten diese nur teurer macht; oder dass Regulierungsbehörden ihre Macht missbrauchen werden. Aber Tatsache ist, dass die Mutter trotzdem sterben wird.

Wir leben in einem ungerechten Universum.

Wahrgenommene Ungerechtigkeit ruft in Menschen, wie bei manchen Primaten, starke negative Emotionen und Stress hervor.

Es gibt zwei beliebte Strategien mit der daraus resultierenden kognitiven Dissonanz umzugehen. Erstens könnte man seine Ansicht der Fakten ändern — bestreiten, dass die Ungerechtigkeit überhaupt stattfand – oder die Geschichte derart bearbeiten, dass sie gerecht erscheint. Zweitens könnte man seine ethischen Anschauungen ändern, also bestreiten, dass die Ereignisse überhaupt ungerecht waren.

Angenommen, in solchen Geschäften verbotener Waren hingen deutliche Warnschilder mit der Aufschrift „DINGE IN DIESEM GESCHÄFT KÖNNEN SIE TÖTEN“. Manche AnhängerInnen des Libertarismus werden nun behaupten, dass Menschen, die in einem solchen Laden Dinge kaufen, die sie anschließend töten, selbst schuld sind und ihren Tod verdienen. Wenn dies eine moralische Wahrheit wäre, gäbe es keine Gründe, welche gegen die Genehmigung solcher Geschäfte sprächen. Die Existenz solcher Geschäfte wäre nicht nur ein Netto-Gewinn; nein, solche Läden hätten nur Vorteile und keinerlei Nachteile.
Andere werden argumentieren, dass die Aufsichtsbehörden dazu gebracht werden können rational und den Interessen der VerbraucherInnen entsprechend zu handeln. Wenn dies tatsächlich gegeben wäre, dann hätte die Regulation von Produkten keinerlei Nachteile.

Ob es Ihnen passt oder nicht, es gibt eine Geburtslotterie der Intelligenz – obgleich dies einer jener Fälle ist, bei denen die Ungerechtigkeit des Universums so deutlich zutage tritt, dass manche lieber die Tatsachen bestreiten. Doch fast alle empirischen Untersuchungen lassen auf einen rein genetischen Anteil der Varianz von Intelligenz im Erwachsenenalter von mindestens 50% schließen. Aber selbst wenn dem nicht so wäre: Sie konnten sich Ihre elterliche Erziehung und die Lehrmethoden Ihrer frühen Schuljahre genauso wenig aussuchen.
Vielen von uns wurde beigebracht, dass das Leugnen der Realität moralisch verwerflich ist. Wir wurden davor gewarnt, optimistischem Wunschdenken nachzugeben und beispielsweise zu glauben, dass der Schwefelsäure-Trank uns guttun würde. Aber manchen Menschen wurde seit frühester Kindheit eingebläut, dass Glauben richtig und Zweifel schlecht ist, sei es durch Medizinmann oder Priester. In der damaligen Zeit wurde nur geringer Wert auf Selbstständigkeit oder Eigenverantwortlichkeit gelegt – im Gegensatz zu heute. Denken Sie wirklich, dass Sie so schlau sind, dass Sie ein anständiger, rationaler Skeptiker gewesen wären, selbst wenn Sie 500 Jahre vor Christus gelebt hätten?

Es gibt eine Lotterie der Geburt, egal was Sie von Genen halten.

Zu behaupten, dass „Menschen es verdienen, Schmerzen zu erleiden, wenn sie gefährliche Waren kaufen!“ zeugt nicht von unsentimentalem Realismus, sondern vielmehr von der Weigerung in einem ungerechten Universum zu leben. Wirklich tapfer und realistisch ist der Ausspruch „Ja, Schwefelsäure führt zu einem entsetzlichen, schmerzvollen Tod, und nein, diese Mutter von drei Kindern hat das nicht verdient, aber wir halten die Geschäfte weiterhin geöffnet, da deren Vorteile deren Nachteile überwiegen.“ Können Sie sich vorstellen, wie eine Politikerin dies sagt? Aber insofern, als WirtschaftswissenschaftlerInnen die Politik beeinflussen zu vermögen, könnte es helfen, wenn sie dies insgeheim denken würden oder vielleicht sogar in wissenschaftlichen Publikationen schreiben könnten; natürlich angemessen verbrämt in polysyllabischen Kryptizismen, damit es die Medien nicht zitieren können.

Wir sehnen uns nach einer Welt, welche frei von Ambiguität und Ungerechtigkeit ist. Doch unser Universum ist solchen Wünschen gegenüber taub. Und so verzerren wir häufig unbewusst unsere Wahrnehmung derart, dass Entscheidungen und Debatten unzweideutiger und gerechter erscheinen, als dies in Wirklichkeit der Fall ist. In Diskussionen über Politik kommen deren inhärent verstandestötenden Eigenschaften erschwerend hinzu.

Wenn Sie also bei der nächsten politischen Debatte über die offensichtliche Ignoranz und Niedertracht Ihres politischen Opponenten staunen — versuchen Sie inne zu halten und die Argumente der Gegenseite möglichst unvoreingenommen zu erwägen. Vielleicht steckt mehr dahinter als Sie glauben. Vielleicht auch nicht.

 

In Anlehnung an den Originalartikel von Eliezer Yudkowsky auf lesswrong.com.
Fussnote:
1. Natürlich müssten diese Geschäfte speziell gekennzeichnet sein und ihre Kunden müssten unter Beweis stellen, dass sie verstehen worauf sie sich einlassen. Zudem geht es hier nur um Waren, welche dem Kunden selbst potentiell Schaden zufügen, und nicht um Produkte, welche verboten sind, weil sie anderen schaden (wie z.B. Kinderpornographie).
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