Inferentielle Entfernungen: Warum Sie niemand versteht – Teil 2
Die Umwelt evolutionärer Angepasstheit des Homo Sapiens (auch als „Umwelt unserer Vorfahren“ bekannt) bestand aus Gruppen von Jägern und Sammlern, welche höchstens 200 Mitglieder umfassten. Da es noch keine Schrift gab, blieb Wissen nur erhalten, wenn es erinnert oder mündlich mitgeteilt wurde.
In einer solchen Welt ist jegliches Hintergrundwissen Allgemeinwissen. Jede Information ist öffentlich bekannt, ausser sie ist streng privat.
Stellen Sie sich vor, Sie würden in dieser Welt leben. Es ist unwahrscheinlich, dass Sie mehr als einen inferentiellen Schritt von jemand Anderem entfernt sind. Wenn Sie eine neue Oase entdecken, müssen Sie Ihren Stammesmitgliedern nicht erst erklären, was eine Oase ist, warum es eine gute Idee ist, Wasser zu trinken, oder wie man läuft. Nur Sie wissen, wo die Oase liegt; das ist Ihr privates Wissen. Aber sonst verfügt jeder über das Hintergrundwissen, um Ihre Beschreibung einer Oase zu verstehen. Jeder besitzt die nötigen Konzepte, um überhaupt über Wasser nachdenken zu können; das ist Allgemeinwissen. In einer solchen Welt müssen Sie fast nie zuerst ihre Begriffe erläutern, damit die Anderen Ihrer Erklärung folgen können. Sie müssen höchstens ein neues Konzept erklären, nicht zwei oder mehrere gleichzeitig.
In der Umwelt unserer Vorfahren gab es keine abstrakten Disziplinen mit sorgfältig gesammelten, enormen Wissensbeständen, aus denen elegante Theorien abgeleitet und in Büchern übermittelt wurden, deren Schlussfolgerungen folglich hunderte von inferentiellen Schritten von allgemein bekannten Hintergrundannahmen entfernt waren.
Damals galten alle, die Aussagen ohne offensichtliche Belege von sich gaben, entweder als Lügnerinnen oder Idioten. Es ist unwahrscheinlich, dass sich damals jemand dachte, „Vielleicht verfügt mein Gesprächspartner ja über gut abgesichertes Hintergrundwissen, von dem niemand sonst in meinem Stamm je auch nur gehört hat“, weil das damals einfach nicht vorkam.
Wenn hingegen Sie etwas Offensichtliches sagen und die andere Person es nicht versteht, ist diese idiotisch, oder zumindest absichtlich unbelehrbar, um Sie zu verärgern.
Und wenn obendrein jemand nicht sofort einleuchtende Behauptungen macht und erwartet, dass Sie ihm Glauben schenken und auch noch empört reagiert, falls Sie das nicht tun, dann muss Ihr Gegenüber schlichtweg verrückt sein.
Zusammen mit der Illusion der Transparenz erklärt dies wohl, warum die meisten Wissenschaftlerinnen Schwierigkeiten haben, wenn sie mit Laien oder sogar mit anderen Wissenschaftlern anderer Fachbereiche kommunizieren. Denn häufig misslingen Erklärungsversuche, weil der Erklärende nur einen Schritt zurück macht, wo eigentlich zwei oder mehr Schritte vonnöten wären. Oft gehen aber auch die Zuhörerinnen davon aus, dass die Sache mit nur einem Erklärungsschritt verständlich sein müsse und sind nicht bereit, sich auf längere Ausführungen einzulassen. Beide Seiten denken, dass neue Erkenntnisse und Allgemeinwissen nahe beieinander liegen, während diese tatsächlich durch grosse, inferentielle Entfernungen getrennt sind.
Ein Biologe muss zu einer Physikerin nur sagen, dass die Evolutionstheorie die „einfachste Erklärung“ ist, um diese zu begründen. Aber die Phrase „einfachste Erklärung“ verdankt ihre ehrfurchtgebietende Bedeutung der Geschichte der Wissenschaft. Und nur wem diese eingeschärft wurde, verehrt Ockhams Rasiermesser als ein Wort der Macht, welches die Geburt neuer Hypothesen ankündigt oder den Grabstein verworfener Theorien schmückt. Für alle Anderen hört sich „Aber das ist die einfachste Erklärung“ allenfalls nach einem halbwegs interessanten, aber keinesfalls nach einem zwingenden Argument an. Für Autoreparaturen oder Büropolitik eignet es sich jedenfalls nicht besonders. Somit ist der Biologe, der die Wahrheit der Evolutionstheorie mit Ockhams Rasiermesser begründet, in den Augen der Zuhörer offenkundig nur in seine eigenen Ideen verliebt und zu arrogant, um noch offen für alternative, ebenso plausible Erklärungen zu sein.
Ein klar verständliches Argument darf folglich nur von jenem Wissen ausgehen, über welches der Adressat des Arguments bereits verfügt. Falls Sie nicht weit genug ausholen, reden Sie nur mit sich selbst.
Wenn Sie zu irgendeinem Zeitpunkt eine Aussage machen, welche nicht einleuchtend ist oder zumindest durch Ihre vorherigen Argumente untermauert wird, denkt Ihre Gesprächspartnerin allenfalls, dass Sie einem Kult zum Opfer gefallen sind.
Das passiert auch, wenn Sie sichtlich größeres Gewicht auf ein Argument legen, als in den Augen der Zielgruppe zu dieser Zeit berechtigt ist, wie das beispielsweise beim Biologen und Ockhams Rasiermesser der Fall war.
Zudem sollten Sie besser nicht andeuten, dass Sie denken, dass Sie über spezielles Hintergrundwissen verfügen, welches Ihr Gesprächspartner nicht hat. Oder dass Sie und Ihren Gesprächspartner dutzende inferentielle Schritte trennen. Die meisten Menschen kennen keine evolutionär-psychologischen Argumente für eine kognitive Verzerrung, welche dazu führt, dass inferentielle Entfernungen unterschätzt werden. Die Leute werden nur denken, dass Sie schlichtweg eingebildet und herablassend sind.
Sollten Sie ausserdem glauben, dass Sie das Konzept von „systematisch unterschätzten inferentiellen Entfernungen“ kurz und prägnant erklären können, habe ich schlechte Neuigkeiten für Sie.
Serie: Warum Sie niemand versteht
Illusion der Transparenz
Inferentielle Entfernungen