Falsche Bescheidenheit und die „Arroganz“ der Wissenschaft
Bescheidenheit ist eine Tugend. Die Frage ist: Welche Art von Bescheidenheit?
Stellen wir uns einen Kreationisten vor, der behauptet: „Aber wer kann schon wirklich wissen, ob die Evolution korrekt ist? Es ist nur eine Theorie. Wissenschaftler sollten nicht so engstirnig, sondern bescheidener sein.“ Ist das Bescheidenheit? Der Kreationist ist jedenfalls sehr wählerisch in seiner Bescheidenheit: Er weigert sich gewaltige Mengen an Evidenzen zu berücksichtigen, da sie eine Schlussfolgerung begünstigen, die er für unbequem hält. Ob man dies nun als „Bescheidenheit“ bezeichnet oder nicht, rational ist es sicherlich nicht.
Wie verhält es sich mit einer Ingenieurin, die störungssichere Mechanismen für einen Fahrstuhl entwickelt, obwohl sie sich sicher ist, dass der Fahrstuhl auch ohne diese Mechanismen nicht ausfallen wird? Das scheint eine gute Art von Bescheidenheit zu sein. Obwohl sich so manche Ingenieure todsicher darüber waren, dass eine von ihnen entwickelte Maschine nicht ausfallen wird, fiel sie dennoch aus.
Und die Studentin, die bescheiden ihre Antworten bei einem Mathe-Test nochmals überprüft? Das ist wiederum die gute Art von Bescheidenheit.
Aber was ist mit einem Studenten, der behauptet, „Egal wie oft ich meine Antworten überprüfe; ich kann niemals sicher sein, dass sie richtig sind. Deshalb kann ich es auch gleich unterlassen.“ Das scheint eher die schlechte Art von Bescheidenheit zu sein.
Sie schlagen ihm vor, mehr zu lernen, aber der Student antwortet: „Nein, das würde mir nicht helfen, ich bin einfach nicht schlau genug. Jemand wie ich muss sich dem Schicksal schlechter Noten fügen.“ Doch dies ist soziale Bescheidenheit und hat folglich mit sozialem Status, aber nichts mit Wissenschaft oder rationalem Denken zu tun. Wenn Sie jemanden bitten, „bescheidener“ zu sein, wird er automatisch an soziale Bescheidenheit denken — was ein intuitives und altbekanntes Konzept ist. Wissenschaftliche Bescheidenheit hingegen ist ein neues, kontraintuitives Konzept und nicht an sich sozial. Wissenschaftliche Bescheidenheit sollten Sie auch ausüben, wenn Sie alleine und unbeobachtet auf einem Planeten wären, der Lichtjahre von der Erde entfernt ist. Wenn Sie ein guter Wissenschaftler sind, überprüfen Sie Ihre Berechnungen selbst unter diesen Umständen genau.
Angenommen, der Student antwortet: „Aber ich habe gesehen, wie andere Studenten ihre Antworten nochmals überprüft haben und sie waren dennoch falsch. Zudem gibt es ja auch noch das Induktionsproblem. Egal, was ich mache, ich kann niemals hundertprozentig sicher sein.“ Das mag sehr tiefgründig und bescheiden klingen. Aber es ist kein Zufall, dass der Student den Test möglichst schnell abgeben will, um nach Hause gehen und Computer spielen zu können.
In der Physik kündigt sich das Ende einer Ära nicht immer mit Donner und Trompeten an; es beginnt öfter mit einem zunächst unwichtig erscheinenden Fehler in den Gleichungen. Aber da Physiker nun einmal diese “arrogante” Idee haben, dass ihre Modelle nicht nur meistens, sondern immer und überall zutreffen sollten, gehen sie selbst geringfügigen Fehlern nach. Häufig verschwindet ein kleiner Fehler bei näherer Betrachtung. Aber manchmal dehnt sich ein solcher Fehler aus, bis die ganze Theorie in sich zusammen bricht. Nur weil PhysikerInnen nach Perfektion strebten, verfügen wir heute über derart faszinierende (und nützliche) Errungenschaften wie beispielsweise die Quantenphysik.
Aber ist es nicht dreist, die ganze Zeit richtig liegen zu wollen? Wenn die Wissenschaft behaupten würde, dass die Evolutionstheorie meistens, aber nicht immer korrekt ist (oder dass die Erde an manchen Tagen vielleicht wirklich eine Scheibe ist), dann hätten WissenschaftlerInnen in so manchen Kreisen wahrscheinlich einen besseren Ruf. Die Wissenschaft würde als weniger streitlustig angesehen werden, weil man nicht mit Leuten debattieren müsste, die glauben, dass die Erde flach sei — ein Kompromiss wäre möglich. Wer häufig argumentiert, erscheint streitlustig. Noch schlimmer wird es, wenn man sich wiederholt weigert, Kompromisse zu machen. Es scheint sich hier wieder um eine Sache des sozialen Status zu handeln: WissenschaftlerInnen haben sich zwar einigen Status verdient, indem sie so nützliche Hilfsmittel wie Antibiotika und Computer erfunden haben. Doch in den Köpfen einiger Gegner der Wissenschaft mag sich Folgendes abspielen: „Diese Wissenschaftler beharren darauf, nur ihre Ideen in öffentlichen Schulen zu unterrichten. So hoch ist ihr sozialer Status nun auch nicht! Priester haben ja schliesslich auch hohen sozialen Status. Wissenschaftler werden langsam grössenwahnsinnig — sie haben ein bisschen sozialen Status gewonnen und jetzt denken sie, dass sie das Sagen haben! Sie sollten bescheidener sein, mehr Kompromisse machen.“
Viele Menschen scheinen nur eine recht vage Vorstellung von „rationaler Bescheidenheit“ zu haben. Doch es ist gefährlich, normative Prinzipien zu vertreten, die man nicht wirklich versteht; wenn eine gedankliche Vorstellung zu ungenau ist, kann sie leicht angepasst werden, um schliesslich fast jede Handlung zu rechtfertigen. Wenn Leute ungenaue Vorstellungen haben, mit denen man für fast alles argumentieren kann, glauben sie letzten Endes das, was auch immer sie anfangs glauben wollten. Das ist so praktisch, dass Menschen Unklarheit meist gar nicht aufgeben wollen. Aber Zweck der Ethik ist es, uns zu führen, nicht von uns geführt zu werden.
„Bescheidenheit“ ist also eine Tugend, die häufig missverstanden wird. Das bedeutet nicht, dass wir die Idee der Bescheidenheit verwerfen sollten, sondern dass wir sie achtsam verwenden sollten. Es ist hilfreich, die Handlungen zu betrachten, die von einer „bescheidenen“ Geisteshaltung nahe gelegt werden, und sich zu fragen: „Macht mich diese Art zu handeln, stärker oder schwächer?“
„Bescheidenheit“ dient zudem häufig nur als Vorwand, um mit der Achsel zu zucken. So wie die Käuferin eines Lotterieloses, die sagt: „Aber Sie können nicht wissen, dass ich verlieren werde.“ Oder der Kreationist, der behauptet: „Sie können nicht beweisen, dass die Evolutionstheorie wahr ist.“ Diesen Fällen liegt motivierter Skeptizismus zugrunde, eine Unterart des confirmation bias — Ansichten, die man nicht glauben will, werden übermässig hinterfragt. Bescheidenheit wird häufig als allumfassende Ausrede missverstanden, nicht an etwas glauben zu müssen, weil man am Ende doch nie hundertprozentig sicher sein kann. Aber allumfassende Ausreden sind immer verdächtig.
Ein weiteres Problem besteht darin, dass man — um einen guten Eindruck zu machen — allzu leicht blosse Lippenbekenntnisse zur Bescheidenheit ablegen kann, ohne dabei wirklich bescheiden zu sein. Ähnlich verhält es sich mit religiösen Überzeugungen: Daniel Dennett weist in seinem Buch „Den Bann brechen“ darauf hin, dass viele religiöse Behauptungen zwar schwer zu glauben sind, aber viele Leute denken, dass sie an solche Behauptungen glauben sollten. Dennett bezeichnet das als „an den Glauben glauben„. Es ist ziemlich schwer, wirklich zu glauben, dass drei gleich eins ist. Es ist viel einfacher zu glauben, dass man als guter Christ glauben sollte, dass drei — irgendwie — gleich eins ist, und dies in der Kirche zu bekunden.
Nur allzu leicht lässt sich jedes Gegenargument wie folgt erwidern: „Nun, natürlich könnte ich mich irren.“ Und nachdem man somit pflichtbewusst seine Bescheidenheit bekundet hat, kann man einfach seines Weges gehen, ohne auch nur das Geringste zu ändern.
Es besteht immer die Versuchung, sorgfältig alle neuen Informationen in solcher Weise auszulegen, dass man die eigenen Ansichten und erst recht die eigenen Handlungen so wenig wie möglich ändern muss. John Kenneth Galbraith hat einmal gesagt: „Vor die Wahl gestellt, unsere Meinung zu ändern oder zu beweisen, dass dies nicht nötig ist, macht sich fast jeder an den Beweis.“ Und je grösser die Unannehmlichkeit ist, seine eigene Meinung zu ändern, desto mehr Anstrengung wendet man für den Beweis auf.
Aber wenn man sowieso das Gleiche tut wie bisher, macht es gar keinen Sinn, sich mühsam ausgeklügelte Rationalisierungen auszudenken. Menschen treffen häufig auf neue Informationen und akzeptieren diese zunächst dem Anschein nach, nur um am nächsten Tag zu erklären, dass sie ihre bisherige Haltung unverändert beibehalten und dafür nun aber eine andere Begründung liefern. Doch der Zweck des Denkens ist es, die eigenen Pläne zu gestalten. Wenn man neue relevante Informationen erlangt, sollte man reagieren, seine Pläne anpassen und updaten. Das ist zwar mühevoll, aber besser als das neue Wissen einfach nur in unzugänglichen Kammern des eigenen Bewusstseins verschwinden zu lassen. Aber Bescheidenheit, so wie sie häufig missverstanden wird, kann als wunderbare Ausrede dienen, genau dies zu tun — man muss nur einräumen, dass man falsch liegen könnte und schon hat man einen Vorwand, nichts an seinem Verhalten zu ändern.
Seine eigene Fehlbarkeit einzugestehen und dann nichts dagegen zu unternehmen, zeugt nicht von Bescheidenheit; man prahlt lediglich damit. Wahre Bescheidenheit erfordert daher das Ergreifen von konkreten Massnahmen, um sich gegen seine möglichen Irrtümer abzusichern.
Quellenangabe: