Die Gefahr positiver Affekte
Fällt die Entscheidung beim Durchstöbern der Cocktailkarte nicht leicht, so wähle ich jenen Drink, den ich mit einer positiven Erinnerung – einem speziellen Abend, einer Filmszene – verknüpfen kann. Die entsprechenden Assoziationen helfen mir dabei nicht nur bei der Entscheidungsfindung, sie geben dem Cocktailschlürfen auch eine zusätzliche Qualität. Solche Affekte durchziehen unsere Entscheidungsfindungen mehr, als uns dies gemeinhin bewusst ist, insbesondere auch bei Entscheidungen zu ernsthafteren Themen, bei welchen wir uns eigentlich nicht von Affekten leiten lassen wollen.
Affektheuristik
Die Affektheuristik beschreibt das Treffen von Entscheidungen nach subjektiven Gefühlen, welche nicht mit den für die Entscheidung eigentlich relevanten Faktoren zusammenhängen. Die hierbei relevanten Gefühle entstehen automatisch und unfreiwillig und sind von kurzer Dauer – kürzer etwa als Launen. Sie werden im Allgemeinen nicht bewusst empfunden. Als Beispiel für einen Stimulus, der solche Gefühle hervorruft, kann das Lesen des Wortes „Mutterliebe“ oder aber „Lungenkrebs“ dienen. Die Affektheuristik erlaubt es, schnelle Entscheidungen zu treffen, Probleme effizient zu lösen und allgemein zu funktionieren, ohne komplexe Recherchen und Informationsreflexionen betreiben zu müssen. Gleichzeitig birgt sie die Gefahr von Fehlentscheidungen, also von Entscheidungen, die nicht zum eigentlich angestrebten Ziel führen. Besonders relevant ist die Affektfheuristik bei „Bauchentscheidungen“ (was aber nicht heisst, dass Bauchentscheidungen per se irrational sind).
Bereits beschrieben wurde das Jelly Beans Experiment, in welchem das positive Gefühl, welches durch den Anblick von mehr Gewinnmöglichkeiten ausgelöst wird, sämtliches Wissen über Wahrscheinlichkeiten in den Hintergrund zu stellen vermag. Viele weitere Beispiele für die Affektheuristik sind aus der Forschung bekannt.
- Eine Krankheit, über die man erfährt, dass sie 1’286 von 10’000 Menschen töten wird, wird als gefährlicher eingeschätzt als eine, die mit 24.14%-iger Wahrscheinlichkeit zum Tode führt (Yamagishi 1997). Anscheinend wirkt das mentale Bild von tausend Leichen viel bedrohlicher als der Prozentwert, der eine höhere Opferzahl vorhersagt.
- Finucance et al. (2000) gingen der Theorie nach, dass Menschen positive oder negative Urteile über einen bestimmten Aspekt von etwas zu einem positiven oder negativen Urteil über dieses Ding insgesamt ausweiten würden; so etwa Informationen über Risiko und Nutzen von Kernkraftwerken. Rein logisch sind die Informationen über die Risiken einer Technologie völlig unabhängig von den Informationen über deren Nutzen. Tiefe Risiken und hohe Nutzen sind beide gut – aber sie sind nicht das gleiche Gute. Dennoch stellten Finucane et al. fest, dass Informationen über den hohen Nutzen von Kernkraftwerken, Erdgas oder Nahrungskonservierungsmitteln dazu führten, dass Testpersonen die Risiken dieser Technologien als geringer einschätzten. Informationen über die hohen Risiken hingegen führten dazu, dass der Nutzen der Technologien als geringer eingeschätzt wurden. Der negative Zusammenhang zwischen wahrgenommenen Risiken und wahrgenommenem Nutzen verstärkte sich, wenn die Testpersonen unter Zeitdruck gesetzt wurden.
- Ganzach (2011) stellte einen ähnlichen Effekt in der Finanzwelt fest. Nach ökonomischer Lehrmeinung sind Ertrag und Risiko positiv korreliert. Aktien bringen höhere Erträge als Staatsanleihen, bei entsprechend höherem Risiko. Liess man Analysten Aktien beurteilen, mit denen sie vertraut waren, so korrelierten die Einschätzungen über Risiko und Ertrag positiv, wie erwartet. Ging es hingegen um das Einschätzen von Aktien, mit denen sie nicht vertraut waren, beurteilten die Analysten diese, als ob sie allgemein gut oder schlecht wären – tiefes Risiko und hoher Ertrag oder hohes Risiko und tiefer Ertrag.
Die beiden letztgenannten Beispiele passen zur allgemeineren Feststellung, dass Zeitdruck, eine dürftige Informationslage und Ablenkung die Dominanz von Wahrnehmungsheuristiken über analytische Erwägungen verstärken.
Ankerheuristik
Wo absolute Zahlen schwer zu bewerten sind, wird der Vergleich mit gerade vorhandenen Bezugspunkten oder „Ankern“ als positiver oder negativer Entscheidungsfaktor verwendet, welcher dann die eigentlich relevante absolute Höhe überwiegen kann.
- Hsee (1998) fragte Testpersonen, wieviel sie für einen der folgenden beiden Becher mit Speiseeis zu bezahlen bereit wären (1oz = 28g).
Testpersonen, die nur eine der beiden Skizzen sahen, waren im Falle von Verkäuferin H durchschnittlich bereit, $1.66 zu bezahlen, während es im Falle von Verkäufer L $2.66 waren. Die absolute Menge an Speiseeis ist schwer zu bewerten, deshalb wird der Vergleich mit der maximal möglichen Füllmenge zur Bewertung herangezogen. Zeigt man den Testpersonen aber beide Skizzen, so werden tatsächlich die Eismengen bewertet; Verkäuferin H hätte $1.85 erhalten, Verkäufer L hingegen nur $1.56.
- Die Führung eines Flughafens muss entscheiden, zur Erhöhung der Sicherheit Geld für neu anzuschaffende Ausrüstung oder für Alternativen auszugeben. Slovic et al. (2002) informierten zwei Gruppen von Testpersonen über die Pro- und Kontra-Argumente für den Kauf der Ausrüstung und liessen sie ihre Zustimmung zum Kauf auf einer Skala von 0 bis 20 angeben. Der einen Gruppe wurde gesagt, der Kauf würde 150 Leben retten. Der anderen Gruppe wurde gesagt, er würde 98% von 150 Leben retten. Die Hypothese, welche das Experiment motivierte, war, dass 150 Leben zu retten vage gut tönt – sind 150 Leben viel? – während 98% von irgendetwas eindeutig gut ist, weil es so nahe am „Maximum“ liegt, das als Anker gesetzt wird. Das Resultat war, dass 150 Leben zu retten eine durchschnittliche Unterstützung von 10.4 erhielt, während sie für 98% von 150 Leben bei 13.6 lag.
- Im Marketing werden solche Effekte häufig bewusst eingesetzt. Kürzlich im grössten Zürcher Kino: Mit dem Eintrittsticket kann eine Portion Popcorn zu einem um 2 Fr. vergünstigten Preis gekauft werden. Die Popcorn werden hinter der Eintrittskontrolle verkauft und mehrere Vergünstigungen sind nicht kumulierbar. Was den tatsächlich bezahlten Preis betrifft, könnte also anstelle der Vergünstigung über das Ticket auch einfach der Verkaufspreis generell um 2 Fr. gesenkt werden. Aber wer für sein Popcorn 2 Fr. weniger bezahlen muss, als sie eigentlich kosten würden, wird sie, unabhängig von der absoluten Höhe des tatsächlichen Preises, eher kaufen.
- Laut Hsee (1998) wird, wer jemandem einen Schal für 45$ schenkt, als grosszügiger eingeschätzt als jemand, der einen Mantel für 55$ schenkt. Für die Beurteilung der Grosszügigkeit ist also weniger die absolute Höhe der Ausgabe entscheidend als der Vergleich des Preises eines Objektes mit dem durchschnittlichen Preis eines Objektes aus der gleichen Produktklasse. Wer grosszügig erscheinen will, tut gut daran, ein Produkt aus einer möglichst billigen Kategorie zu schenken. Aus dieser Perspektive erscheint etwa die japanische Sitte, Melonen zu verschenken, welche einen für WestlerInnen kaum nachvollziehbaren Preis gekostet haben, in völlig neuem Licht.
Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Affektfheuristik darin besteht, eine spontane positive oder negative emotionale Reaktion auf einen bestimmten Aspekt von etwas zu einem allgemeinen positiven oder negativen Urteil über dieses etwas auszudehnen. Manifestiert sich die Affektfheuristik in der Sozialpsychologie, so spricht man vom Halo-Effekt.
Halo-Effekt I (Personen)
Die Forschung (Cialdini 2001) hat gezeigt, dass wir gutaussehenden Individuen automatisch vorteilhafte Charakteristiken wie Talent, Freundlichkeit, Ehrlichkeit und Intelligenz zuschreiben. Wir treffen diese Urteile, ohne uns bewusst zu sein, dass die körperliche Attraktivität dabei eine Rolle spielt. Die Konsequenzen der unbewussten Annahme, dass „gutaussehend gleich gut“ ist, sind zum Teil beunruhigend. So kam z.B. eine Studie über die kanadischen Bundeswahlen von 1974 zum Schluss, dass attraktive KandidatenInnen mehr als zweieinhalbmal so viele Stimmen wie unattraktive erhielten. Trotz solcher Belege für die Bevorzugung attraktiver PolitikerInnen zeigten daran anknüpfende Forschungsarbeiten, dass sich die WählerInnen ihres Bias‘ nicht bewusst sind. So stritten 73% der kanadischen WählerInnen vehement ab, dass ihre Wahl durch das äussere Erscheinungsbild beinflusst war; lediglich 14% zogen einen solchen Einfluss in Betracht. Wie sehr die WählerInnen auch den Einfluss der Attraktivität auf die Wahlentscheidung abstreiten mögen, die Forschung hat sie wiederholt bestätigt.
Ähnliche Folgen äusserlicher Attraktivität oder Unattraktivität zeigen sich beim Einstellen und der Bezahlung von Arbeitskräften und selbst in der Höhe von Strafen vor Gericht. Attraktiven Personen wird eher geholfen und sie sind erfolgreicher darin, die Meinung eines Publikums zu ändern (Cialdini 2001).
Nicht nur die Attraktivität einer Person kann zu Halo-Effekten führen; beispielsweise auch Behinderungen oder der soziale Status einer Person können einen positiven oder negativen Eindruck erzeugen, welcher die weitere Wahrnehmung der Person „überstrahlt“ und so den Gesamteindruck unverhältnismässig beeinflusst. Speziell Ruhm scheint die Wahrnehmung aller übrigen positiven Eigenschaften zu verstärken. Wir bewundern einen Superhelden, der jemanden dank seiner Superkräfte rettet, mehr als jemanden, der dies ohne Superkräfte tut.
Zur Vermeidung des Halo-Effektes kann es neben dem Wissen um diesen hilfreich sein, bewusst verschiedene Aspekte getrennt zu bewerten. Wenn eine Lehrperson zunächst die erste Aufgabe aller Schüler korrigiert, dann die zweite, und so weiter, besteht weniger Gefahr, dass eine ausserordentlich gut oder schlecht beantwortete Aufgabe die Bewertung der übrigen Aufgaben derselben Schülerin beeinflusst.
Halo-Effekt II (Theorien)
Das Wissen um die Affektfheuristik und den Halo-Effekt macht auch verständlicher, wie wir wissenschaftliche oder politische Theorien wahrnehmen und zu deren Anhängern werden. Je lieber uns eine Theorie ist, desto eher überschätzen wir, wie gut sie die Fakten erklärt. Die Phlogiston-Theorie konnte so ziemlich alles erklären, so lange sie nichts vorherzusagen hatte. Je mehr Phänomene mit der liebgewonnenen Theorie schon erklärt wurden, desto wahrer scheint sie – hat sie sich nicht all diese vielen Male bewährt? Je wahrer die Theorie scheint, desto eher werden wir sie in Frage stellende Evidenz ignorieren. Je allgemeiner sie scheint, desto breiter werden wir sie anwenden. Sollten Sie jemanden kennen, der glaubt, dass die Illuminati heimlich das Weltgeschehen kontrollieren, so waren wahrscheinlich die beschriebenen Mechanismen mit am Werk.
Positive Feedback-Zyklen aus Leichtgläubigkeit und Bestätigung sind für vielerlei Fehler im Alltagsleben wie in der Wissenschaft verantwortlich. Einen ähnlichen Einfluss haben Spiralen, die mit einem stark positiven Affekt beginnen – einem Gedanken, der sich wirklich gut anfühlt. Ein neues Wirtschaftssystem zum Beispiel soll nicht nur die Armen füttern, sondern auch den Weltfrieden und ökologische Rettung bringen.
Positive Charakteristiken verstärken die Wahrnehmung aller übrigen positiven Charakteristiken. Ist der positive Affekt genügend schwach, so verzerrt er die Gesamtwahrnehmung etwas, ohne ausser Kontrolle zu geraten. Ist er aber stark genug, beginnt die positive Resonanz allumfassend zu werden. Ein echter Marxist sieht Marx‘ Weisheit in jedem Hamburger, den McDonalds verkauft; in jeder Beförderung, die ihm verwehrt blieb, die er aber in einem echten Arbeiterparadies erhalten hätte; in jeder Wahl, die nicht nach seinem Gusto verläuft; und in jedem Zeitungsartikel, welcher einseitig „falsch“ ausgerichtet ist. Jedes Mal, wenn die grosse Idee verwendet wird, um etwas zu erklären, bestätigt sie sich noch mehr. Sie fühlt sich noch besser an, und was sich gut anfühlt, das sind wir umso mehr gewillt zu glauben.
Wie kann man einer solchen „affektiven Todesspirale“ widerstehen? Sicher nicht, indem man versucht, gar nichts mehr zu bewundern. Manche Ideen sind wirklich gut; manche Taten verdienen uneingeschränkten Respekt. Ganz vermeiden lässt sich der Halo-Effekt nicht; aber man kann vermeiden, dass die positive Feedbackspirale ausser Kontrolle gerät. Dazu kann man für jede positive Behauptung über etwas, dem gegenüber man bereits positiv eingestellt ist, eine entsprechend starke Begründung verlangen; möglichst spezifisch auf diese Behauptung fokussieren, nicht auf die guten oder schlechten Gefühle, welche sie auslöst, und ohne sie mit den übrigen Aspekten in Verbindung zu bringen; bewusst nach Schwachstellen und nicht nur nach Bestätigung suchen; das grosse Etwas in kleinere, unabhängige Ideen aufteilen und diese isoliert behandeln; sich im Falle von Gegenargumenten nicht damit zufrieden geben, dass man „nicht widerlegt werden kann“ oder dass es „Argumente dafür und dagegen gibt“. Das alles hört sich trivial an, aber wenn wir einem Konzept gegenüber einmal eine positive Einstellung haben, neigen wir fast unvermeidlich dazu, weitere positive Behauptungen darüber glauben zu wollen.
Die wirklich gefährlichen Fälle sind jene, in denen sich jede Kritik an der grossen Idee schlecht anfühlt oder sie sozial nicht akzeptabel ist. Argumente werden dann zu Soldaten, jedes Argument für die eigene Seite muss unterstützt werden, egal wie schwach es ist, und jedes Argument der Gegenseite muss an seiner schwächsten Stelle angegriffen werden. Alles andere wäre Verrat. Und so gerät die Spirale ausser Kontrolle.
Finucane, M. L., Alhakami, A., Slovic, P., & Johnson, S. M. (2000). The affect heuristic in judgments of risks and benefits. Journal of Behavioral Decision Making 13 (pp. 1-17)
Ganzach, Y. (2001). Judging risk and return of financial assets. Organizational Behavior and Human Decision Processes 83 (pp. 353-370).
Hsee, C. K. (1998). Less is better: When low-value options are valued more highly than high-value options. Journal of Behavioral Decision Making 11 (pp. 107-121)
Slovic, P., Finucane, M., Peters, E. and MacGregor, D. (2002). Rational Actors or Rational Fools: Implications of the Affect Heuristic for Behavioral Economics. Journal of Socio-Economics 31, 329–342.
Yamagishi, K. (1997). When a 12.86% mortality is more dangerous than 24.14%: Implications for risk communication. Applied Cognitive Psychology, 11, 495-506.