Max Kocher – GBS Schweiz https://gbs-schweiz.org Aufklärung im 21. Jahrhundert Wed, 15 Oct 2014 14:02:47 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.6.1 Die Widerlegung der eigenen Überzeugungen – ein Lottogewinn?! https://gbs-schweiz.org/blog/die-widerlegung-der-eigenen-ueberzeugungen-ein-lottogewinn/ https://gbs-schweiz.org/blog/die-widerlegung-der-eigenen-ueberzeugungen-ein-lottogewinn/#respond Mon, 13 Oct 2014 15:12:52 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=8873 Der Titel dieses Beitrags wirkt auf den ersten Blick womöglich kontraintuitiv. Was soll daran gut sein, falsch gelegen zu sein? Warum sollte ich mich darüber freuen? Und wer gibt mir jetzt die Million? Dies sind Fragen, die im Verlaufe dieses Beitrags beantwortet werden. Hierfür werfen wir einen genaueren Blick auf die Hintergründe unserer Intuition und zeigen warum wir ihr in diesem Fall nicht vertrauen sollten.

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Stellen Sie sich vor, Sie wollen in Ihrem Leben viel Gutes bewirken. Ihren persönlichen Überzeugungen nach entscheiden Sie sich so oder so. Nehmen wir weiterhin an, dass Sie ein sehr religiöser Mensch sind und von der Effektivität des Gebets stark überzeugt sind. Nun glauben Sie, dass Sie für die Menschen in einem nahegelegenen Krankenhaus sehr viel tun können, indem Sie unentwegt für sie beten. Sie reden auf den Knien den lieben langen Tag auf einen Ihrer Götter ein, so dass er Sie anhöre und die Herzoperationen der Patienten gut ausgehen lasse. Manchmal scheint es zu klappen, manchmal nicht. (Gottes Wege sind nun einmal unergründlich!?) Täglich wiederholen Sie Ihr scheinbar selbstloses Handeln, um so vielen Patienten zu helfen, wie Sie nur können. Abends legen Sie sich schlafen mit der tiefen Zufriedenheit, dass so vielen Menschen geholfen werden konnte. Ist das nicht wunderbar?

Vielleicht nicht. Es kommt darauf an, was Ihr eigentliches Ziel ist. Möchten Sie einfach nur ein gutes Gefühl haben, das durch Ihre Hilfsaktion ausgelöst wird? Oder möchten Sie in erster Linie, dass diesen Menschen tatsächlich geholfen wird? Die meisten Menschen bevorzugen das zweite und gleichzeitig altruistische Ziel. Das erste Ziel wird unabhängig davon erfüllt, ob Ihre Gebete tatsächlich eine Wirkung haben. Denn der Glaube, dass Sie etwas positives bewirken, macht Sie womöglich schon per se glücklich. Und falls Ihre Gebete eine Wirkung haben, so ist auch das zweite Ziel erreicht. Wenn Ihre Gespräche mit Ihren Göttern jedoch nicht fruchten, verfehlen Sie Ihr eigentliches Ziel, den Patienten zu helfen. Daher liegt es in Ihrem Interesse, dass Ihre Überzeugungen korrekt sind.

Sie sind fest davon überzeugt, dass Gebete Wirkung zeigen, da Sie dies schon oft erlebt haben. Fakt ist jedoch, dass unsere subjektive Wahrnehmung durch eine Vielzahl von systematischen Denkfehlern verzerrt wird. Wir neigen besipielsweise dazu, den aktuellen Status Quo einer Änderung vorzuziehen, sogar wenn eine Änderung der Situation für unsere Zielerreichung besser wäre. Wir fallen dem Confirmation Bias zum Opfer, welcher im Allgemeinen in der Neigung besteht, nach Evidenzen zu suchen, die unsere Überzeugungen eher bestätigen als widerlegen. Damit verbunden überschätzen wir systematisch den aktuellen Zustand unserer Kenntnisse, Fähigkeiten oder auch die Qualität unserer Informationen. Daher neigen wir unter diesem Overconfidence Bias stärker dazu, unsere eigenen Überzeugungen für akkurater oder wahrscheinlicher wahr zu halten als sie es wirklich sind. Auf unsere Intuition sollten wir uns demnach nicht immer verlassen. Unsere subjektive Sichtweise könnte verzerrt sein. In diesem Fall können wir auf empirische Daten zurückgreifen, um unsere Überzeugung zu überprüfen. Eine Studie in den USA untersuchte die vermeintliche Wirkung von Gebeten bei 1802 Bypass-Patienten. Die Ergebnisse sind relativ eindeutig – Gebete sind für die Patienten wirkungslos!

Falls es wirklich Ihr Ziel ist, den Menschen im Krankenhaus zu helfen, sollten Sie nach dieser Überzeugungsänderung – auch Update genannt – sofort mit dem Beten aufhören, denn dies bringt den Patienten überhaupt nichts. Stattdessen könnten Sie Ihre Pflegerausbildung nutzen und etwas gegen die Knappheit an Angestellten im Krankenhaus tun, somit die Ärzte entlasten und die Wahrscheinlichkeit von erfolgreichen Operationen erhöhen. Sie sollten weniger darüber enttäuscht sein, dass Sie mit Ihrer Ansicht bisher falsch lagen, als sich darüber zu freuen, dass Sie es nun besser wissen. Bisher haben Sie Ihr eigenes Ziel – Menschen zu helfen – nicht erreichen können, da sie falsche Überzeugungen über die Realität hatten. Durch das Update Ihrer Überzeugungen können Sie Ihr Ziel nun wesentlich effektiver erreichen. Wir könnten sagen, dass dieses Update einem Lottogewinn gleicht, da es eine enorme Bereicherung für Sie darstellen kann.

Ähnlich verhält es sich mit anderen Überzeugungen. Wir alle haben bestimmte Ziele, die wir zu erreichen suchen. Der Erfolg hängt systematisch davon ab, ob unsere eigenen Überzeugungen die Welt möglichst korrekt widerspiegeln. Darin enthaltene Fehler führen systematisch dazu, dass wir unsere Ziele weniger gut erreichen. Es liegt also in unserem starken Interesse, dass unsere falschen Überzeugungen von anderen widerlegt werden, da wir unsere Ziele dann effektiver verfolgen können. Der Nutzen eines solchen Updates ist enorm und kommt unverhofft – es liegt an uns, ihn dankend anzunehmen und uns an diesem Lottogewinn zu erfreuen.

Bild von takfoto

 

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Confirmation Bias https://gbs-schweiz.org/blog/confirmation-bias/ https://gbs-schweiz.org/blog/confirmation-bias/#comments Wed, 01 Oct 2014 16:59:57 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=8793  

einstein zitat

 

Es ist schwieriger, eine vorgefasste Meinung zu zertrümmern als ein Atom.

Mit dieser Aussage sollte Albert Einstein Recht behalten. Wie oft stösst man auf intelligente Personen, die felsenfest von ihrer Meinung überzeugt sind, obwohl diese völlig irrational zu sein scheint? Es gibt eine Vielzahl von Gründen für irrationale Überzeugungen – doch ein besonderer scheint unser Urteilsvermögen massgeblich zu verzerren – der Confirmation Bias.

Haben Sie wieder einmal beobachten können, wie eine Frau schlecht einparken kann, dass sich Zwillinge nicht mit Wassermännern vertragen oder dass alle Politiker doch nur egoistische Schweine sind? Wenn das bei Ihnen der Fall sein sollte, haben Sie sich wahrscheinlich vom Confirmation Bias hinters Licht führen lassen. Dieser besteht im Allgemeinen in einer Neigung, unsere Überzeugungen durch Wahrnehmung, Erinnern oder Denken eher zu bestätigen als zu widerlegen. Richtige Überzeugungen zu bestätigen stellt an sich kein Problem dar. Jedoch werden aufgrund dieses Biases auch falsche Überzeugungen bestätigt. Das inhärente Problem liegt darin, dass wir unsere vorgefasste möglicherweise falsche Meinung tendenziell nicht ändern werden.

Ein Experiment

Versuchen Sie einmal Folgendes: Ich gebe Ihnen eine Zahlenfolge vor, die nach einer bestimmten Regel angeordnet ist. 2-4-6. Sie können mir weitere Zahlenfolgen vorschlagen, um herauszufinden, welche Regel hier angewendet werden muss. Ich sage Ihnen, ob Ihre vorgeschlagene Zahlenfolge der Regel entspricht. 8-10-12 (Richtig). 11-13-15 (Richtig). 3-7-6 (Falsch). Haben Sie die Lösung? Die Nachfolgerzahl ist die Summe aus der Vorgängerzahl und 2? Diese Lösung ist falsch. Die richtige Antwort lautet: Die Nachfolgerzahl ist grösser als die Vorgängerzahl. D.h., dass auch 8-10-500 richtig ist. Der Kognitionspsychologe Peter Wason hat diesen Test ursprünglich mit seinen Studenten durchgeführt. Sein erstaunliches Resultat zeigt sich darin, dass die Versuchsteilnehmer eine Theorie aufstellen und in überwiegender Mehrheit lediglich versuchen, diese zu bestätigen. Hätten die Studenten dagegen versucht, Ihre eigene Theorie zu widerlegen, wären sie sicherlich auf die korrekte Regel gestossen.

Ursache und Wirkung

Bei Aussagen, wie „Typisch! Das machen sie immer so!“ oder „Ich weiss doch, was ich gesehen habe. Meine Lebenserfahrung sagt mir XY!“ sollten die Alarmglocken läuten. Leider können wir uns nicht immer auf unsere durch subjektive Erfahrungen geprägten Überzeugungen verlassen, da diese häufig auf die eine oder andere Weise verzerrt sind und somit die Welt nicht korrekt abbilden. Woran liegt das? Welche Ursache hat dieser Bias? Pro Sekunde strömen auf unser Gehirn etwa 11.000.000 Reize ein, die durch unsere Sinnesorgane (Augen, Ohren, Nase, etc.) aufgenommen werden1. Unsere bewusste Aufmerksamkeit ist jedoch stark limitiert. Tatsächlich werden uns nur etwa 40 davon bewusst. Mehr würde die beschränkten Kapazitäten unseres Gehirns sprengen, da der Aufwand, all diese Reize zu verarbeiten, viel zu gross wäre. Da wir mit der ungeheuren Überreizung nicht klarkommen würden, wenn wir versuchen würden alles in einer Sekunde bewusst wahrzunehmen, haben sich im Verlauf der Evolution gewisse Heuristiken (Lösungsstrategien) gebildet, mit denen wir den grossen Informationsfluss mit geringem kognitivem Aufwand handhaben. Eine dieser Heuristiken ist die selektive Wahrnehmung. Die wahrgenommen Reize gelangen zu unserem Gehirn, wo sie eine Art Filter durchlaufen, welcher eine kleine Anzahl an relevanten Reizen durchlässt. Dies ist eine sehr praktische evolutionspsychologische Errungenschaft, da unser Gehirn hierdurch eine Menge Energie einspart und uns trotzdem handlungsfähig lässt. Die Frage ist jedoch: Wie entscheidet unser Gehirn, welche Reize relevant sind und welche der 11 Millionen Reize vernachlässigt werden können? Im Laufe der Evolution hat sich die Heuristik der Bestätigung als erfolgreich erwiesen. Ein automatischer Filter, welcher Überzeugungen nach bestätigenden Informationen selektiert, galt für Homo Sapiens in seiner Entwicklungsgeschichte als sehr nützlich, um die Reizüberflutung in den Griff zu bekommen.

Ein Grund dafür, dass unser Gehirn nicht fehlerfrei arbeitet, liegt in seiner Struktur begründet. Wir können bei einer neuen Situation nicht alle möglichen Hypothesen neutral durchgehen, da dies viel zu viele kognitiven Kapazitäten und Zeit benötigen würde. Man sehe sich dies am Beispiel von Wasons Experiment an. Es gibt Tausende oder gar Millionen von Hypothesen, die alle Zahlenfolgen erklären könnten. Jedoch testet man nur diejenige, die man bereits vorgefasst hat, da es einen enorm grossen kognitiven Aufwand erfordern würde, sich erst mal alle möglichen Regeln zu überlegen, welche die Zahlenfolge erlauben würden. Genau so verhält es sich mit anderen Situationen. Tausende, wenn nicht Millionen von Hypothesen stehen uns potentiell zur Verfügung, welche die Situation erklären könnten. Wir können nicht ständig all diese Hypothesen durchgehen – daher nehmen wir ganz einfach die erste, die uns in den Sinn kommt. Es ist sehr wahrscheinlich, dass uns zuerst die Hypothese in den Sinn kommt, welche bereits in unserem Langzeitgedächtnis abgespeichert ist und welche wir in der Vergangenheit bereits auf ähnliche Situationen angewendet haben.

Es ist viel effizienter, von bereits bestehenden Hypothesen und Theorien unseres Langzeitgedächtnisses auszugehen, da unser Kurzzeitgedächtnis eine stark limitierte Kapazität hat, was die Fähigkeit einschränkt, Informationen unmittelbar zu verarbeiten. Die Kapazität unseres Langzeitgedächtnisses ist hingegen wesentlich grösser. Unzählige Informationen, Schlussfolgerungen und Überzeugungen können dort als Wissensstrukturen abgespeichert werden und sind verfügbar, wenn wir neue Schlussfolgerungen ziehen müssen. Das Langzeitgedächtnis fungiert somit als Quelle unserer Hypothesen und Theorien. Die Beschränkung des Kurzzeitgedächtnisses und die grosse Menge an gespeichertem Wissen beeinflussen unsere Schlussfolgerungen in sozialen Interaktionen, welche sehr stark von unseren Theorien und Hypothesen gesteuert werden. Es ist sehr nützlich und erfordert wenig kognitive Kapazitäten, unser gespeichertes Wissen über ähnliche Situationen, Veranstaltungen oder Personen zu nutzen, um neue Situationen, Veranstaltungen oder Personen zu interpretieren. Unser Gehirn neigt daher dazu, lieber auf der Seite der hilfreichen und bereits existierenden Theorien und Hypothesen des Langzeitgedächtnisses zu bleiben,  als blindlings alle möglichen Theorien und Hypothsen durchzugehen und somit wertvolle kognitive Kapatzitäten und Zeit zu verschwenden2.

Konsequenzen

Wenn Sie heutzutage durch die Heuristik des Confirmation Bias geleitet werden, machen Sie sich leicht Vorurteile und weitere falsche Überzeugungen zu eigen. Sie haben beispielsweise irgendwo gehört, dass Frauen schlecht einparken können. Sie sind auf der Strasse und sehen ein Auto, das Probleme beim Einparken hat. Und tatsächlich handelt es sich um eine Frau. An der nächsten Ecke ist es wieder eine Frau und schon wieder und schon wieder. Ihre Überzeugung muss also stimmen. Tatsächlich bemerken Sie nur Frauen, die nicht einparken können. Alle anderen Frauen, die keine Probleme haben, kommen nicht durch Ihren Aufmerksamkeitsfilter. Sie bestätigen lediglich Ihre Theorie. (Tatsächlich zeigen Studien, dass Frauen nicht schlechter einparken können als Männer. Im Gegenteil schnitten z.B. in einer britischen Studie mit 2500 Teilnehmern die Frauen sogar besser ab als die Männer.) Ähnlich verhält es sich in der Astrologie. Immer wenn Sie auf Situationen stossen, in welchen Zwillinge und Wassermänner sich nicht vertragen, werden Sie sich dessen bewusst bzw. merken sich diese Ereignisse besser. Fälle, in denen das Gegenteil der Fall ist, werden ignoriert oder vergessen. Die Astrologie lebt neben dem Barnum-Effekt vom Confirmation Bias. Und auch Ihre Meinung über Berufsgruppen wie Politiker oder Polizisten ist womöglich auf die gleiche Weise entstanden.

Die Bestätigung Ihrer Überzeugungen durch Evidenzen ist wichtig; jedoch ist es ebenfalls sehr wichtig, mit der Meinung im Konflikt stehende Evidenz ebenfalls anzunehmen und entsprechend zu verarbeiten – denn ansonsten laufen wir Gefahr, dass unsere Meinungen lediglich das Produkt unausgewogener Verarbeitung der eigentlichen Fakten darstellen und insofern auch falsch sind bzw. mit grosser Wahrscheinlichkeit nicht der Realität entsprechen. Je mehr man sich dieses Biases bewusst wird, desto erfolgreicher kann man ihm entgehen und desto erfolgreicher kann man wahre Überzeugungen sein eigen nennen.

Quellenangabe

1. Schleier, Christian (2008): Neuromarketing – Über den Mehrwert der Hirnforschung für das Marketing (URL: http://www.decode-online.de/en/downloads/pdf/Neuromarketing-Ueber-den-Mehrwert-der-Hirnforschung.pdf)
2. vgl. Fiske, S. T., & Taylor, S. E. (2013). Social cognition: From brains to culture. Sage. Kapitel 8, 206-207
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Technophobie – Verlust der Unabhängigkeit? https://gbs-schweiz.org/blog/technophobie-verlust-der-unabhaengigkeit/ https://gbs-schweiz.org/blog/technophobie-verlust-der-unabhaengigkeit/#respond Sat, 31 May 2014 16:16:39 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=7932 Während wir uns im ersten Beitrag mit dem Einfluss von Film und Literatur auf unser Technologiebild beschäftigt haben, legen wir im zweiten Beitrag unseren Fokus auf das Gefühl, die Kontrolle zu verlieren und somit abhängig zu werden.

Die meisten Ängste sind eng mit einem Kontroll- oder Unabhängigkeitsverlust gekoppelt. Im Falle der Technologie können einige Menschen das Gefühl bekommen, sie verlören ihre Unabhängigkeit, da sie nach und nach immer mehr auf die Technologie angewiesen sind.

Internet Addiction

Betrachten wir folgendes Beispielszenario, das nicht allzu weit in der Zukunft zu liegen scheint. So manche Experten im Bereich der Nanotechnologie sind der Meinung, dass Nanomedizin unser Immunsystem von Grund auf erneuern und verbessern wird. Man stelle sich Nanobots vor, die in unserem Organismus auf Patrouille gehen und dabei verschiedene Aufgaben übernehmen. Beispielsweise ersetzen sie unsere weissen Blutkörperchen, die dafür zuständig sind, Krankheitserregern den Garaus zu machen. Die Nanobots können diese Aufgabe übernehmen und deutlich bessere Arbeit erbringen als die hauseigenen Agenten unseres Immunsystems. Nanobots können darüber hinaus auf einer molekularen und sogar atomaren Ebene operieren. Sie könnten effektiv Krebszellen bekämpfen, für den Nachbau von Knochen, Muskeln und Organen sorgen, und sogar bei Operationen mehr als hilfreich sein. Das klingt doch alles überragend, oder?

Was könnte dem Einsatz einer solchen Technologie schon entgegengebracht werden? Nun ja, ein Einwand könnte darin bestehen, dass wir uns mit dem Einsatz solcher Technologien von ihnen abhängig machen. Nehmen wir uns noch einmal des Beispiels des Nanobots bestückten Immunsystems an. Können wir nach der Nutzung wieder zurück in den „Normalzustand“? Wenn unsere weissen Blutkörperchen vollständig durch überlegene Nanobots ersetzt wurden und die Produktion neuer weisser Blutkörperchen eingestellt wird, könnte es sein, dass wir nach Jahren oder Jahrzehnten ein Problem haben könnten, uns wieder von den Nanobots zu trennen. Möglicherweise verlässt sich unser Körper so sehr auf die Nanobots, dass er nicht mehr im Stand sein wird, ohne sie auszukommen. Vielleicht leben wir dann in einer Umwelt, die deutlich mehr Schadstoffe und Krankheitserreger birgt als zur heutigen Zeit. Vielleicht leben wir nur aufgrund der Nanobots gesund und unbehelligt. Vielleicht würde unser altes Immunsystem (also das heutige biologische) mit der neuen Umwelt nicht mehr klarkommen. Damit bestünde eine völlige Abhängigkeit von diesen kleinen Robotern.

Möglicherweise missfällt dieser Gedanke einigen Menschen. Unabhängigkeit ist für die Individuen der westlichen Hemisphäre kein geringer Wert. Im Gegenteil, Unabhängigkeit rangiert auf den meisten Werteskalen ziemlich weit oben. Ist es nicht so, dass wir alle gerne Herr über uns selbst sind? Am Liebsten haben wir es wohl, wenn wir dazu noch etwas Kontrolle auf unser Umfeld ausüben können. Und missfällt uns der Gedanke nicht, wenn wir bemerken, dass uns die Wahl abgenommen wird – dass Kontrolle auf uns ausgeübt wird? Wir wollen es gerne selbst in der Hand haben. Aber was ist „es“? Die Entscheidung, die Wahl, die Kontrolle oder die Übersicht? Möglicherweise wird das Konzept eines auf Nanobots basierenden Immunsystem zu komplex für den normalen Bürger? Immerhin haben wir nicht alle Life Sciences oder Nanotechnologie studiert, um wirklich zu verstehen, was da vor sich geht. Und wenn wir es nicht wirklich verstehen, geben wir unsere Kontrolle ab – und somit vielleicht auch unsere Unabhängigkeit?! Ist das nicht das scheinbar grosse Problem mit neuen Technologien? Die bereits überkomplexe Welt wird noch komplexer. Als normale Bürger kommen wir gar nicht hinterher, alles zu verstehen oder zumindest den Überblick zu bewahren.

Komplexität führt zu Unkenntnis. Unkenntnis führt zu Kontrollverlust. Kontrollverlust führt zu Abhängigkeit. Und Abhängigkeit führt zu unsäglichem Leid.

So oder so ähnlich könnte die Argumentation an Yoda angelehnt aussehen. Mit der ersten und letzten Ableitung bin ich nicht ganz einverstanden. Einerseits zieht Komplexität im ersten Moment zwar eine Unkenntnis nach sich, jedoch muss diese nicht von dauerhafter Natur sein. Es liegt wohl in der Verantwortung jedes Einzelnen, sich die Kenntnis anzueignen. Andererseits ist Abhängigkeit nicht immer schlecht und führt somit nicht immer zu Leid. Um dies zu erläutern, möchte ich ein weiteres Beispiel vorbringen, das in unserer Gegenwart bzw. unserer Vergangenheit anzusiedeln ist.

Seit dem Jahr 2010 werden einige U-Bahnen in der Stadt Nürnberg nicht mehr aktiv von einem Menschen gesteuert, sondern von einem automatischen Fahrsystem betrieben. Die fahrerlosen U-Bahnen beschleunigen, bremsen, öffnen und schliessen die Türen völlig automatisch. Auch eine Fahrerkabine ist nicht mehr vonnöten. Als ich eines Tages am Hauptbahnhof auf die nächste U-Bahn wartete, bemerkte ich eine ältere Dame (70-80 Jahre jung), die partout nicht in die U-Bahn steigen wollte. Sie traute dem Ganzen nicht. Eine U-Bahn ohne Fahrer? Das kann doch nur schief gehen! Ein Zug, welcher durch einen Fahrer über Knöpfe und Hebel gesteuert wird, war für sie wohl noch nachvollziehbar. Aber ein automatisches Fahrsystem, das ohne Menschen funktioniert – das war ihr zu komplex. Sie verstand nicht ansatzweise, wie so etwas überhaupt funktionieren soll. Diese Unkenntnis führte für sie natürlich zu dem Gefühl eines Kontrollverlustes und somit zur Abhängigkeit von etwas, von dem sie keine Ahnung hatte. Das Gefühl der Abhängigkeit oder das Ausgeliefert-Sein war für sie nicht zu ertragen. (Da meine Neugierde geweckt war, wartete ich, um ihr Verhalten weiterhin zu beobachten.) Sie wartete eine halbe Stunde auf eine U-Bahn, die noch auf altmodische Weise von einem menschlichen Fahrer betrieben wurde, bis sie endlich weiter konnte.

Was sagt uns das? Sind ihre Bedenken rational? Hätte sie sich vernünftig erkundigen sollen, um ein besseres Verständnis von der Funktionsweise zu bekommen? Auch wenn sie es verstehen würde, könnte man einwenden, dass ja doch eine gewisse Form von Abhängigkeit besteht. Man setzt sich in die U-Bahn und hofft, dass das Ding schon weiss, was es machen soll. Abhängigkeit wird meist sehr negativ konnotiert. Aber ist Abhängigkeit denn immer etwas Negatives? Um diese Frage zu beantworten, schauen Sie doch einmal an sich herunter. Sie tragen doch bestimmt eine Hose, ein T-Shirt, eine Bluse oder wenigstens ein paar Socken an Ihrem Körper. Haben Sie diese Kleidung eigenhändig angefertigt? Haben Sie Ihr T-Shirt selbst genäht? Die Baumwolle selbst verarbeitet? Sie selbst gepflückt oder gar angebaut? Wahrscheinlich nicht. Sie haben Ihr T-Shirt in irgendeinem Laden gekauft. Stört Sie dieser Umstand? Immerhin sind Sie abhängig von all den Personen und Prozessen, die daran beteiligt waren, Ihnen Ihr T-Shirt geben zu können. Könnten Sie sich ein T-Shirt nähen? Wissen Sie, was beim Baumwollanbau zu beachten ist? Wahrscheinlich eher nicht. Wenn also niemand mehr T-Shirts herstellen würde, wären Sie aufgeschmissen. Dennoch beunruhigt Sie das nicht sonderlich. In unserer heutigen Gesellschaft spezialisieren wir uns alle im Berufsleben. Jede Person hat ihre ganz spezielle Aufgabe, während sie von den Spezialisierungen der anderen profitiert. Dadurch begeben wir uns alle in eine gewisse Form von Abhängigkeit. In der Soziologie nannte Émile Durkheim dieses Phänomen „organische Solidarität“. Durch die effiziente Arbeitsteilung unserer Gesellschaft entsteht eine starke Abhängigkeit unter den jeweiligen Individuen, die aber positiv zu verstehen ist. Während in früheren Gesellschaften das Subsistenzprinzip herrschte, in welchem sich jeder nahezu eigenständig mit allen Gütern versorgt, sind wir heute stark auf andere angewiesen, was uns zu mehr Komplexität, Gesundheit, Wohlstand und anderen Möglichkeiten führt. Abhängigkeit muss also nichts Schlechtes bedeuten. Wir leben alle in Abhängigkeit.

Vielleicht ist die Sicht auf die Abhängigkeit auch nur eine Frage der Gewohnheit. Vielleicht passte es den meisten Menschen einmal nicht, dass sie nicht mehr selbstständig alle ihre Werkzeuge herstellen und sich ihre Nahrung selbst beschaffen konnten, weil sie sich somit in eine Abhängigkeit von anderen Gesellschaftsmitgliedern brachten. Ein paar Jahre nach dem U-Bahn-Szenario mit der alten Dame stand ich in einer solchen automatisierten U-Bahn, als eine Gruppe Kindergartenkinder und ihre Erzieherin in die U-Bahn drängten. Sie befanden sich ganz vorne, wo normalerweise die Fahrerkabine zu verorten ist. Die Erzieherin versuchte ihren Kindern spasseshalber weiszumachen, dass die U-Bahn „von Geisterhand gesteuert“ wird. Eine 4-Jährige erwiderte daraufhin: „Ach, Quatsch! Sie fährt doch automatisch!“ Im Gegensatz zu der alten Dame wachsen diese Kinder mit der vollautomatisierten U-Bahn auf. Ihre Abhängigkeit wird ihnen nicht bewusst, da sie einerseits da hinein wachsen und andererseits auch keinen Schaden oder Nachteil wahrnehmen. Vielleicht verhält es sich genauso mit der Nanomedizin. Heutige Generationen könnten sie als fremd und abhängigkeitsfördernd betrachten, während zukünftige Generationen sie als Selbstverständlichkeit begreifen werden.

Serie: Technophobie

  1. Wer hat Angst vor der schönen neuen Welt?
  2. Verlust der Unabhängigkeit?
Bild von Federico_Morando®
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Technophobie – Wer hat Angst vor der schönen neuen Welt? https://gbs-schweiz.org/blog/technophobie-wer-hat-angst-vor-der-schoenen-neuen-welt/ https://gbs-schweiz.org/blog/technophobie-wer-hat-angst-vor-der-schoenen-neuen-welt/#respond Fri, 16 May 2014 18:16:21 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=7809 Warum sind so viele Menschen technophob? Handelt es sich um rationale Ängste? Besteht eine unmittelbare Gefahr? Im Film Transcendence spielen technologiefeindliche Extremisten eine zentrale Rolle im Geschehen. Sie sind der festen Überzeugung, dass die Technologie und insbesondere eine fortgeschrittene künstliche Intelligenz eine immense Bedrohung für unsere Menschlichkeit und sogar die Menschheit darstellt. Eine interessante Frage, welcher wir uns widmen wollen, dreht sich um das Warum. Warum sind oder werden Menschen technophob? Natürlich gibt es eine Vielzahl an Erklärungsmöglichkeiten. Der Status-Quo-Bias ist beispielsweise eine offensichtliche. Diese Beitragsreihe beschäftigt sich mit zwei möglichen Hauptgründen für unsere technophobe Intuition – einerseits dem Einfluss aus Literatur und Film, und andererseits dem Gefühl des Unabhängigkeitsverlustes.

Terminator

Haben Sie schon einmal einen Film mit einer funktionierenden utopischen Zukunft gesehen? Vielleicht einen (wirklich) utopischen Roman gelesen? Wahrscheinlich nicht. Wenn überhaupt stellt sich die scheinbare Utopie als eine Dystopie heraus, in welcher der einsame Held die komplette Welt rettet und dabei noch die Frau abbekommt. Ein Film oder ein Roman, in welchem nichts Dramatisches passiert, empfinden wir meist einfach nur als langweilig. Und eine Zukunft, in welcher alle happy sind, lässt sich nicht an den Zuschauer bringen. Wir brauchen ein dramaturgisches Mittel, um eine Storyline zu inszenieren. Dieses dramaturgische Mittel ist in der Science Fiction eine bestimmte Verwendungsweise einer „gefährlichen“ Technologie. Tatsächlich ist nicht die Technologie als gefährlich zu betrachten, sondern eine mögliche Verwendungsweise. Aber dies nur nebenbei. Ob Werke wie Terminator, Matrix, I, Robot, BladeRunner, 1984 oder Schöne neue Welt – überall wird Technologie zum Verhängnis der Menschheit. Ob uns dieses Bild prägt? Sicherlich. In gewisser Weise werden wir dazu konditioniert, mit „Zukunftstechnologien“ Begriffe wie „Dystopie“, „Zerstörung“ und „Untergang der Menschheit“ zu assoziieren.

 

Versuchen Sie es einmal. Sagen Sie einem Ihrer Freunde oder Ihrer Bäckerin, dass sie Kognitionswissenschaftler sind. Die Bäckerin wird höflich nicken, ohne zu verstehen, womit Sie Ihr Brot verdienen. Sagen Sie ihr dann, dass Sie sich auf das Forschungsfeld der künstlichen Intelligenz spezialisieren, wird in ihrem Kopf der Suchlauf nach allen Verknüpfungen zum Thema „künstliche Intelligenz“ initialisiert. Nach kurzem Nachdenken spuckt sie ihre wenigen Suchergebnisse aus: Terminator, Matrix, I, Robot sind die üblichen Verdächtigen. Eine fortgeschrittene AGI (Artificial General Intelligence), die ein Bewusstsein auf dem Stand eines Menschen hat und mindestens so intelligent ist wie ihre Schöpfer, beschliesst kurzerhand, dass die Menschen nichts mehr zu sagen haben. Daher werden sie entweder ausgelöscht oder versklavt und müssen als Batterien herhalten. Was soll sich die Bäckerin dabei sonst denken? Dies sind die einzigen Bilder, die sie von KI-Forschung hat. Vielleicht denkt sie noch kurz darüber nach, Ihre Brötchen zu vergiften, damit Sie es nicht mehr hinbekommen, Skynet zu erschaffen und somit die Auslöschung der Menschheit zu verantworten haben. Spass beiseite. Fakt ist nun einmal, dass wir im Alltag nicht viel mit der Idee von Zukunftstechnologien zu tun haben. Die meisten von uns stossen lediglich durch Literatur und Film darauf. Und da in einer guten Geschichte etwas ordentlich schief laufen muss, vermitteln uns diese Medien ein negativ angehauchtes Bild von diesen Zukunftstechnologien. Leider scheint uns oft unsere Intuition auszureichen, uns für oder gegen etwas zu positionieren. Manchmal scheint unsere Intuition so stark zu sein, dass wir eine rationale Reflexion für Zeitverschwendung halten. Ob wir unserer Intuition immer vertrauen sollten? Ich bezweifle es.

 

Nehmen wir eine relativ simple und bereits existierende Technologie – die PID (Präimplantationsdiagnostik). Sie dient dazu, Embryonen bei einer In-vitro-Fertilisation auf Erbkrankheiten und Anomalien der Chromosomen zu überprüfen. Die PID kann als sehr nützliches Mittel verstanden werden, zukünftigen Kindern ein leidfreieres Leben zu ermöglichen. Doch ist die PID in einigen Ländern wie in Italien, Österreich und der Schweiz komplett verboten. Seit 2010 ist der Einsatz der PID in Deutschland gelockert, was einen begrenzten Einsatz ermöglicht. Natürlich schwingt ein großer Rattenschwanz an ethischer Debatte bei diesem Thema mit. Und ich möchte diese Debatte hier nicht von neuem aufmachen. Doch vermute ich, dass die Grundneigung vieler PID-Gegner in einem prinzipiellen Misstrauen gegenüber Technologie begründet liegt. Schnell kommen Szenarien wie aus Aldous Huxleys Schöne neue Welt in den Sinn, in welcher Menschen grundsätzlich künstlich hergestellt und von Geburt an in Klassen eingeteilt werden. Die Alphas sind den Betas in allem überlegen, während die Betas den Gammas überlegen sind, etc. Huxleys schöne neue Welt stellt eine klare Dystopie dar. Aber führt uns die PID zwangsweise zu einer biologisch geteilten Klassengesellschaft? Ich bezweifle es. Aber dies sind die Bilder, die uns in den Kopf kommen, wenn wir auf Technologie stossen, die wie in diesem Fall in die Biologie des Menschen eingreifen. Ähnlich verhält es sich bei der Gentechnik. An dieser Stelle sei erwähnt, dass es selbstverständlich Risiken und ethische Bedenken gibt, die nicht ausser Acht gelassen werden sollten. Jedoch sollte man sich nicht von der Intuition leiten lassen, die einem Literatur und Film vermittelt haben.

Serie: Technophobie

  1. Wer hat Angst vor der schönen neuen Welt?
  2. Verlust der Unabhängigkeit?
Bild von SebKe
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Toleranz – nur ein Mainstream-Bekenntnis? https://gbs-schweiz.org/blog/toleranz-nur-ein-mainstream-bekenntnis/ https://gbs-schweiz.org/blog/toleranz-nur-ein-mainstream-bekenntnis/#respond Sat, 19 Apr 2014 16:48:01 +0000 http://gbs-schweiz.org/?p=7765 Toleranz und Offenheit werden in nahezu allen Breitengraden als hohe Werte angesehen. Heutzutage muss man ganz einfach tolerant und offen sein, wenn man als zivilisierte Person durchgehen möchte. Die meisten von uns sind keine Rassisten mehr. Liegt das aber daran, dass wir rationaler und ethisch überlegter über solche Probleme reflektieren? Oder liegt das vielmehr daran, dass Toleranz und Offenheit gegenüber anderen Ethnien einfach zum guten Ton des Mainstreams gehören? Um nicht das Gesicht zu verlieren, müssen wir einfach dieser Meinung sein. (Was nicht heissen soll, dass diese Meinung falsch ist.)

Toleranz

Ein Beispiel: Wir schreiben das Jahr 2014. Alice behandelt Bob aufgrund seiner Hautfarbe abfällig. Als zivilisierte Menschen würden wir intuitiv sagen, dass Alices Verhalten inakzeptabel ist. Wir würden sie wohl darauf hinweisen, sie meiden oder ebenfalls abfällig behandeln, weil wir sie für eine Rassistin halten würden. Versetzen wir das Szenario doch 100 Jahre in die Vergangenheit. Alice behandelt Bob aufgrund seiner Hautfarbe abfällig. Als zivilisierte Menschen (des Jahres 1914) würden wir intuitiv sagen, dass Alice alles richtig macht. Sie handelt den Werten der aktuellen Gesellschaft entsprechend. Ihr ist nichts vorzuwerfen. An dieser Stelle werden wohl einige Leser empört aufschreien. „Selbstverständlich verhält sich Alice falsch. Rassismus ist nicht zu tolerieren!“ Ich stimme vollkommen mit dem empörten Leser überein. Aber möglicherweise aus anderen Gründen.

Aus der heutigen Perspektive erscheint uns ein rassistisches Verhalten intuitiv als ethisch falsch. Aus der Perspektive des zivilisierten Menschen des Jahres 1914 jedoch nicht. Warum ist das so? Sind wir heutzutage einfach wesentlich intelligenter, rationaler und ethisch reflektierter? Nicht unbedingt – zumindest nicht auf der Ebene des Individuums. Der grosse Unterschied zwischen den beiden Szenarien liegt in den etablierten Werten der jeweiligen Gesellschaften. Heutzutage ist Rassismus etwas Unhaltbares. Stattdessen wird Toleranz und Offenheit ganz gross geschrieben. Das wissen wir als zivilisierte Menschen auch. Darum sagen wir intuitiv, dass Alices Verhalten falsch sei. In der zivilisierten Gesellschaft von 1914 sind Toleranz und Offenheit keine besondereren Werte; daher sagen jene Menschen, dass Alice nichts falsch gemacht hat. Der empörte Leser wird nun einwerfen, dass man in seinem Verhalten ethisch doch nicht gerechtfertigt ist, wenn man lediglich das tut oder unterlässt, was in der Gesellschaft akzeptiert wird. Und da gebe ich dem empörten Leser Recht. Doch ist es genau das, was die Menschen unserer zivilisierten Tage häufig tun.

Für den heutigen zivilisierten Menschen stellt rassistisches Verhalten eine ethische Widerwärtigkeit dar. Darüber reflektieren die meisten Individuen aber nicht. Sie nehmen diesen Gedanken lediglich an, weil es zum guten Ton gehört. Verhält man sich rassistisch, bekommt man gleich etwas zu hören. Willkür gegenüber anderen relativ neuen Ideen zeigt dann doch, dass man nicht wirklich offen oder tolerant ist, sondern lediglich der Meinung der breiten Masse folgt.

Analog zum ersten Beispiel sehen wir uns statt des Rassismus den Speziesismus an. Wir schreiben das Jahr 2014. In den meisten Kreisen der zivilisierten Welt, ist es in der Gesellschaft akzeptiert, Fleisch und Tierprodukte zu essen. Eine gängige Formulierung besagt „Es sind doch nur Tiere und keine Menschen.“ Allein die Tatsache, dass Schweine, Rinder, Hühner, etc. nicht unserer Spezies angehören, scheint auszureichen, ihre Präferenzen (zum Beispiel so wenig zu leiden wie möglich) zu ignorieren. Wenn nun Alice das Rind Bob in einem winzigen Stall ohne Weidengang hält, mästet und ihn nach 2 Jahren (bei einer natürlichen Lebenserwartung von max. 20 Jahren) tötet, ihn in kleine Portionen zerstückelt und sein Fleisch verspeist, wird Alices Verhalten akzeptiert. Wo bleibt der empörte Leser an dieser Stelle? Er befindet sich wohl gerade im Jahre 2114. Wir springen 100 Jahre in eine mögliche Zukunft. Das gleiche Szenario spielt sich ab. Der Mainstream der Gesellschaft hat sich vom Speziesismus abgewendet. Nutztiere werden nicht  mehr gehalten, gemästet und getötet. Die Barbarei der Schlachthäuser gehört wie der Rassismus der Vergangenheit an. Im Jahr 2114 würden die meisten Menschen aufschreien und Alice intuitiv eine ethische Widerwärtigkeit vorwerfen. Im Jahr 2014 passiert das nicht. Ist Alices Verhalten jedoch ethisch gerechtfertigt, weil es mit den aktuellen Werten ihrer Gesellschaft d’accord geht? Wenn dem so wäre, wäre damals der Rassismus von 1914 auch gerechtfertigt gewesen. Folglich kann da etwas nicht stimmen. Toleranz und Offenheit schliessen viele weitere Unterebenen mit ein. Doch neigen wir in der Gesellschaft dazu, gewisse Unterebenen zu vernachlässigen, während wir nur auf den etablierten Unterebenen klar Stellung gegen Intoleranz und Verschlossenheit beziehen.

Im Jahr 2014 werden Anti-Speziesisten häufig noch belächelt. Man verschliesst sich den (neuen) Ideen und toleriert sie nicht, indem man das Leben von nicht-menschlichen Tieren nicht respektiert und deren Präferenzen nicht anerkennt. Antispeziesismus ist lediglich ein Beispiel, das bei den „scheinbar“ offenen und toleranten Mainstream-Mitläufern auf taube Ohren stösst. Heutzutage ist es leicht, sich auf die Seite der Anti-Rassisten zu stellen. Hätten Sie sich vor 100 Jahren aber auch auf dieser Seite positioniert? Und wenn Sie im Jahr 2114 leben würden, in welchem es (unserem Szenario entsprechend) keine Nutztierhaltung mehr gibt, würden Sie noch Speziesist sein? Verhält sich die Rassistin Alice nur 2014 ethisch inkorrekt oder auch im Jahre 1914? Verhält sich die Speziesistin Alice nur 2114 ethisch inkorrekt oder auch im Jahre 2014? Toleranz besteht nicht darin, auf der Seite der breiten Masse zu sein – auch wenn sich diese breite Masse für tolerant halten sollte.

Anscheinend wollen wir uns alle als tolerant und offen bezeichnen. Doch hört die Toleranz und die Offenheit nicht bei offensichtlichen Problemsituationen wie der rassistischen Alice auf. Auch die homophobe Alice verschwindet seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts immer mehr von der Bildfläche. Wenn wir rational über den Rassismus oder die Homophobie reflektieren, erschliesst sich die ethische Inkorrektheit. Genauso verhält es sich auch mit dem Speziesismus. Um wirklich tolerant und offen zu sein, bedarf es nicht nur einer kulturell geprägten Intuition, sondern der rationalen Reflexion.

 

Quellenangabe
Bild: https://www.flickr.com/photos/monhsi/371595928
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