Adrian Hutter – GBS Schweiz https://gbs-schweiz.org Aufklärung im 21. Jahrhundert Thu, 26 Feb 2015 10:28:34 +0000 de-DE hourly 1 https://wordpress.org/?v=5.6.1 Das Für und Wider der Empathie https://gbs-schweiz.org/blog/das-fuer-und-wider-der-empathie/ https://gbs-schweiz.org/blog/das-fuer-und-wider-der-empathie/#respond http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=4918 Die acht-jährige Karina Encarnacion aus Missouri schrieb 2008 einen Brief an den frischgewählten Präsidenten Barack Obama, indem sie ihn darüber beratschlagte, welche Art von Hund er sich für seine Töchter zulegen sollte. Sie schlug auch vor, Recycling strenger durchzusetzen und unnötige Kriege zu untersagen. Obama bedankte sich schriftlich bei ihr und unterbreitete seine eigenen Ratschläge:

Solltest du die Bedeutung dieses Wortes noch nicht kennen, so möchte ich, dass du „Empathie“ im Wörterbuch nachschlägst. Ich glaube, wir haben nicht genügend Empathie in unserer heutigen Welt, und es liegt an deiner Generation, dies zu ändern.

empathy

Es war nicht das erste Mal, dass Obama sich für die Empathie aussprach. Zwei Jahre früher, in einer Rede zur Abschlussfeier an der Xavier-Universität in Louisiana, erörterte er die Wichtigkeit davon „die Welt durch die Augen jener zu sehen, die anders sind als wir“ – das hungrige Kind, der entlassene Stahlarbeiter, die Familie deren Existenz im Sturm der Wirtschaftskrise zusammenbrach. Er fuhr fort

Wenn du auf diese Weise denkst – wenn du die Grenzen deiner Sorge ausdehnst und der Notlage der anderen Empathie entgegen bringst, ob sie nun nahe Freunde oder ferne Fremde sind – so wird es schwieriger nicht zu handeln, schwieriger nicht zu helfen.

Empathie und Altruismus

Das Wort „Empathie“ wurde im Deutschen 1848 vom Philosophen Rudolf Hermann Lotze erstmals verwendet, wobei sich dieser am altgriechischen Wort empatheia für Leidenschaft orientierte. Dennoch reicht das Interesse an den moralischen Implikationen davon, uns in die Schuhe anderer hineinzuversetzen, weiter zurück. In der Theorie der ethischen Gefühle (1759) stellte Adam Smith fest, dass Sinneseindrücke alleine unser Mitgefühl mit anderen nicht in Gang setzen können:

Auch wenn unser Bruder auf der Folterbank liegt, so lange wir selbst uns wohl fühlen, werden uns unsere Sinne nie darüber informieren, wie er leidet.

Was uns zu moralischen Wesen macht ist nach Smith das Vermögen „uns in seine Situation zu versetzen […] und in gewissem Sinne die gleiche Person wie er zu werden, und deshalb eine Ahnung von seinen Empfindungen zu erhalten und sogar etwas zu fühlen das, wenn auch weniger intensiv, sich von diesen nicht all zu sehr unterscheidet.“.

In diesem Sinne ist Empathie ein instinktives Spiegeln der Erfahrungen der anderen – James Bonds Genitalien werden in Casino Royale malträtiert und männliche Kinobesucher verziehen die Gesichter und schlagen ihre Beine übereinander.

Smith spricht davon wie „edle Personen“, die die Schmerzen und Geschwüre eines Bettlers entdecken, „dazu neigen, ein Jucken und eine unangenehme Empfindung in den entsprechenden Teilen ihres Körpers zu fühlen“. Die „Empathie-Altruismus Hypothese“, wie der Psychologe C. Daniel Batson sie nennt, geniesst heute in den Sozialwissenschaften weitgehenden Rückhalt. Batson fand heraus, dass alleine schon seine Testpersonen anzuweisen, sich in jemand anderes Perspektive hineinzuversetzen, diese fürsorglicher machte und ihre Wahrscheinlichkeit zu helfen erhöhte.

Die Empathie-Forschung gedeiht dieser Tage, während die kognitive Neurowissenschaft einen Wandel durchläuft, den einige die „affektive Revolution“ nennen. Der Fokus auf Emotionen verstärkt sich, insbesondere auf jene, die bei moralischem Denken und Handeln involviert sind. Zum Beispiel hat sich gezeigt, dass einige derselben neuronalen Systeme, die aktiv sind, wenn wir selbst Schmerzen empfinden, auch aktiv werden, wenn wir das Leiden anderer beobachten. Andere Forscher untersuchen, wie Empathie in Schimpansen und anderen Primaten entsteht, wie sie sich in jungen Kindern entwickelt, sowie die Umstände, welche sie auslösen.

Das Interesse hierbei ist nicht rein akademisch. Wenn wir die Empathie besser verstehen, werden wir möglicherweise auch im Stande sein, mehr von ihr zu produzieren. Einige hemmen ihre Empathie indem sie sich bewusst politische oder religiöse Ideologien einverleiben, die Härte gegen Widersacher predigen. Bei anderen rührt mangelndes Empathie-Vermögen von schlechten Genen, misshandelnder Erziehung, brutalen Erfahrungen oder dem üblichen unglücklichen Gulasch aus allem obigen her. Ein Extrem bildet dabei jenes Prozent der Menschen, die klinisch als Psychopathen bezeichnet werden. Zu den üblichen Kriterien zählt hierfür „Gefühlskälte; Mangel an Empathie“. Andere charakteristische psychopathische Züge wie fehlendes Schuldgefühl und pathologisches Lügen lassen sich auf dieses eine fundamentale Defizit zurückführen. Manche geben dem Mangel an Empathie die Schuld für einen Grossteil des Leides in der Welt. Der britische Psychologe und Autismus-Forscher Simon Baron-Cohen geht in The Science of Evil: On Empathy and the Origins of Cruelty (2012) gar so weit, das Böse der „Empathie-Erosion“ gleichzusetzen.

Emily Bazelon schreibt in ihrem aufmerksamen neuen Buch über Mobbing, Sticks and Stones (2013), „Der erschreckendste Aspekt des Mobbings ist das völlige Fehlen von Empathie“ – eine Diagnose, welche sie nicht nur für die Mobber zieht, sondern auch für jene, die nichts unternehmen um den Opfern zu helfen. Nur wenige von denen, die sich an Mobbing beteiligen, werden sich zu ausgewachsenen Psychopathen entwickeln, wägt sie ab. Der Empathie-Mangel ist vielmehr situational: Mobber haben sich angewöhnt, ihre Opfer als wertlos zu sehen; sie haben sich entschieden, ihre empathischen Reaktionen zu unterdrücken. Die meisten jedoch wachsen aus ihrem schrecklichen Verhalten heraus, und werden es möglicherweise bereuen. „Der Schlüssel ist sich daran zu erinnern, dass fast jeder die Fähigkeit zu Empathie und Anstand hat – und diese Fähigkeit so gut wie nur möglich zu fördern“, erklärt sie.

Zwei weitere aktuelle Bücher, Die empathische Zivilisation (2009) von Jeremy Rifkin und Humanity on a Tightrope (2010) von Paul R. Ehrlich und Robert E. Ornstein, argumentieren eindrücklich dafür, dass die Empathie einer der hauptsächlichen Treiber der menschlichen Entwicklung war, und dass wir mehr von ihr brauchen um das Überleben unserer Spezies zu sichern. Ehrlich und Ornstein wollen, dass wir uns „emotional einer globalen Familie anschliessen“. Rifkin fordert uns auf, den Schritt zu einem „globalen empathischen Bewusstsein“ zu machen. Er sieht darin die letzte grosse Hoffnung um die Welt vor der Umweltzerstörung zu retten, und schliesst mit der klagenden Frage „Gelingt es uns rechtzeitig ein Bewusstsein für unsere Biosphäre und globale Empathie zu entwickeln, um den Kollaps des Planeten zu vermeiden?“ Diese Bücher sind durchdacht und bieten eine ausführliche und verständliche Übersicht über die wissenschaftliche Literatur zur Empathie. Dem Zeitgeist entsprechend beschwören sie vertiefte Empathie enthusiastisch als Heilmittel für die Übel der Menschheit.

Beschränkt, engstirning und des Rechnens nicht fähig

Dieser Enthusiasmus könnte aber fehlgeleitet sein. Die Empathie bringt ihre eigenen Schwierigkeiten mit sich – sie ist beschränkt, engstirning und des Rechnens nicht fähig. Häufig handeln wir dann am besten, wenn wir klug genug sind, uns nicht auf sie zu verlassen.

Im Oktober 1987 versteinerte Jessica McClue die amerikanische Nation, als die Eineinhalbjährige in Texas in einen engen Brunnen fiel und eine Rettungsaktion auslöste, welche achtundfünfzig Stunden dauerte. „Jeder und jede in Amerika wurde zu Jessicas Pate oder Patin als das geschah“ erklärte Präsident Reagan. Die immense Kraft der Empathie hat sich wieder und wieder gezeigt. Sie war der Grund dafür, dass Amerikanerinnen und Amerikaner vom Schicksal von Natalee Holloway gefesselt wurden, einer Teenagerin, die im Jahr 2005 in Aruba verschwand. Sie ist auch dafür verantwortlich, dass im Gefolge von Tragödien und Katastrophen, über die ausführlich berichtet wurde – der Tsunami 2004, Hurrikan Katrina im Jahr darauf oder Taifun „Hayian“ auf den Philippinen – zahlreiche Menschen bereit waren, Zeit, Geld und sogar Blut zu spenden.

Warum reagieren Menschen auf diese Unglücke, aber nicht auf andere? Der Psychologe Paul Slovic weist darauf hin, dass der Berichterstattung über Holloways Verschwinden deutlich mehr Sendezeit gewidmet wurde als dem zeitgleich stattfindenden Genozid in Darfur. Jeden Tag stirbt das zehnfache der Todesopfer von Hurrikan Katrina an vermeidbaren Krankheiten, und über dreizehn mal soviele gehen an Unterernährung zu Grunde.

Natürlich schaffen es neue Ereignisse die Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Ebenso wie wir das Brummen des Verkehrs mit der Zeit ignorieren können beginnen wir Probleme zu übersehen, wenn sie unbeugsam scheinen, wie das Verhungen von Kindern in Afrika – oder Tötungsdelikte in den Vereinigten Staaten. In den vergangenen drei Dekaden gab es um die sechzig grosse Schiessereien, welche für etwa fünfhundert Tote verantwortlich waren; das entspricht etwa einem Promille der Tötungselikte in Amerika. Aber Massenmorde schaffen es auf Fernsehschirme, in die Schlagzeilen und ins Web; die grössten setzen sich im kollektiven Gedächtnis fest – Columbine, Virginia Tech, Aurora, Sandy Hook. Sofern das Opfer niemand ist, von dem man schon gehört hat, gehören die übrigen 99.9% zum Hintergrundlärm.

„Effekt des identifizierbaren Opfers“ (identifiable victim effect) nennt man das, was die entscheidende Ursache für Empathie ist. Der Ökonom Thomas Schelling bemerkte vor fünfundvierzig Jahren mit beissendem Sarkasmus „Wenn ein sechsjähriges Mädchen mit braunem Haar tausende von Dollars für eine Operation benötigt, die ihr Leben bis Weihnachten verlängern wird, so wird die Poststelle mit Spenden überschwemmt, um sie zu retten. Berichtet man aber, dass ohne eine Mehrwertsteuer die Krankenhäuser in Massachusetts verfallen werden und sich so die Anzahl verinderbarer Todesfälle erhöhen wird, so wird kaum jemand ein Träne vergiessen oder nach seinem Scheckbuch greifen.“

Der Effekt lässt sich in Experimenten beobachten. Die Psychologinnen Tehila Kogut und Ilana Ritov befragten Testpersonen wieviel Geld sie bereit wären zu geben um ein Medikament zu entwickeln, welches das Leben eines Kindes retten würde; andere wurden gefragt wieviel sie geben würden um acht Kinder zu retten. Die Antworten waren ungefähr identisch. Nachdem Kogut und Ritov einer dritten Gruppe aber Namen und Alter des Kindes sagten und ein Bild von ihm zeigten, so schossen die Spenden in die Höhe – es wurde nun viel mehr gespendet um das eine Kind zu retten als die acht.

Die Anzahl Opfer hat kaum einen Einfluss – ob man vom Leiden von Fünftausenden oder Fünfhunderttausenden hört, macht psychologisch kaum einen Unterschied. Stellen Sie sich vor, dass Sie lesen, dass zweitausend Menschen kürzlich bei einem Erdbeben in einem fernen Land starben, darauf aber zu entdecken, dass es tatsächlich sogar zwanzigtausend Opfer waren. Fühlen Sie sich zehn mal schlechter? Sofern wir die Zahlen als relevant erkennen können ist es auf Grund der Vernunft, nicht der Empathie.

Kritikerinnen wie Linda Polman weisen darauf hin, dass uns der empathische Reflex im breiteren Kontext der Humanität in die Irre führen kann. Wenn jene, von welchen die Gewalt ausgeht, von Hilfszahlungen profitieren – wie etwa im Fall von „Steuern“, die Warlords häufig von internationalen Hilfsorganisationen verlangen – so schafft man letztlich einen Anreiz, weitere Gräueltaten zu begehen. Nicht unähnlich ist die Praxis einiger Eltern in Indien ihre Kinder bei Geburt zu verstümmeln, damit sie effektivere Bettler werden. Das Leid der Kinder geht uns zu Herzen, aber eine leidenschaftslosere Analyse der Situation ist nötig wenn wir etwas sinnvolles unternehmen wollen, um es zu verhindern.

Auch in der öffentlichen Sphäre schafft eine „Politik der Empathie“ nicht viel Klarheit. Politische Dispute beinhalten in der Regel einen Dissens darüber wem gegenüber wir empathisch sein sollen.

Bei vielen Problemstellungen kann die Empathie uns in die falsche Richtung ziehen. Der Zorn, der erwächst, wenn die Perspektive eines Opfers eingenommen wird, kann Rachegelüste wecken und dazu verleiten, die langfristigen Konsequenzen aus den Augen zu verlieren. In einer Studie von Jonathan Baron und Ilana Ritov wurden Testpersonen gefragt, wie eine Firma, welche ein Impfmitel hergestellt hat, das für den Tod eines Kindes verantwortlich war, am besten bestraft werden sollte. Einigen wurde gesagt, dass eine hohe Busse die Anstrengungen der Firma verstärken würde, ein sichereres Produkt herzustellen. Anderen wurde erzählt, dass eine hohe Busse die Firma davon abschrecken würde, das Impfmittel herzustellen. Da es keine gleichwertigen Alternativen auf dem Markte gäbe würde eine solche Strafe zu mehr Toten führen. Die meisten Testpersonen kümmerten sich wenig um die Konsequenzen; sie wollten, dass die Firma hart bestraft wird, ungeachtet der Konsequenzen.

Diese Dynamik tritt im Strafrecht häufig zu Tage. Willie Horton, ein verurteilter Mörder auf Hafturlaub, vergewaltigte 1987 eine Frau in Massachusetts, nachdem er ihren Verlobten zusammengeschlagen und gefesselt hatte. Das Hafturlaubs-Programm wurde als peinlicher Fehler von Gouverneur Michael Dukakis angesehen und von seinen Gegnern gegen ihn verwendet, als er im kommenden Jahr für die Präsidentschaft kandidierte. Nichtsdestotroz hat das Programm wohl die Wahrscheinlichkeit solcher Vorfälle gesenkt. Eine Untersuchung kam 1987 zum Schluss, dass die Rückfälligkeitsrate in Massachusetts in den elf Jahren, in denen es das Programm gab, abnahm und dass Verurteilte, die vor ihrer Freilassung beurlaubt wurden, seltener ein Verbrechen begingen als die übrigen. Das Problem ist, dass sich nicht auf Individuen zeigen lässt, die auf Grund des Programmes nicht vergewaltigt, angegriffen oder getötet wurden, ebensowenig, wie sich auf eine spezifische Person zeigen lässt, deren Leben durch eine Impfung gerettet wurde.

Es gibt hier ein grösseres Muster zu erkennen. Vernünftige Richtlinien bringen häufig einen Nutzen, der nur statistisch ist, während Opfer Namen und Geschichten haben. Ein Beispiel, das die Grenzen der Empathie besonders deutlich zeigt, ist die globale Erwärmung. Gegner von Beschränkungen auf CO2-Emissionen fällt es leicht, identifizierbare Opfer zu finden – all jene, die unter höheren Kosten oder weggefallen Arbeitsplätzen zu leiden haben. Die Millionen von Menschen, die irgendwann in der Zukunft die Konsequenzen unserer gegenwärtigen Inaktivität zu tragen haben, sind hingegen blasse statistische Abstraktionen.

Dass kaum weitsichtige Massnahmen ergriffen werden wird häufig auf das Anreizsystem in demokratischen Staaten (welches kurzfristige Lösungen begünstigt) und auf die mächtigen Einflüsse des Geldes zurückgeführt. Die Politik der Empathie aber trägt ebenso ihre Schuld. Zu häufig bedeutet unsere Rücksichtnahme auf spezifische heutige Individuen, dass Krisen ignoriert werden, die zahlreiche Menschen in der Zukunft schädigen werden.

Empathie und die Zukunft

Zu moralischem Urteilen gehört mehr, als sich in die Schuhe des Gegenübers zu versetzen. Der Philosoph Jesse Prinz weist darauf hin, dass viele Handlungen, die wir leicht als falsch erkennen, wie Ladendiebstahl oder Steuerhinterziehung, kein identifizierbares Opfer haben. Andererseits verlangen viele gute Taten – etwa, ein faires und unparteisches System zur Verurteilung von Spenderorganen trotz des Leides jener, die unten auf der Liste stehen, durchzusetzen – die Empathie zur Seite zu stellen. Acht Tote sind schlimmer als einer, auch wenn man den Namen der einen kennt; schlecht organisierte Entwicklungshilfe kann kontraproduktiv sein; die Gefahren, die vom Klimawandel ausgehen, rechtfertigen die Opfer die nötig werden, um sie abzuwenden. „Die Abnahme der Gewalt mag mit einer weiterreichenden Empathie zusammenhängen“, schreibt der Psychologe Steven Pinker, „sie hat aber auch viel mit handfesteren Tugenden wie Besonnenheit, Vernunft, Fairness, Selbst-Kontrolle, Normen und Tabus und dem Konzept der Menschenrechte zu tun.“ Ein abwägendes Untersuchen moralischer Pflichten und wahrscheinlicher Folgen ist ein besserer Ratgeber bei der Planung der Zukunft als die impulsive Empathie.

Rifkin und andere haben plausibel argumentiert, dass zu moralischem Fortschritt gehört, unser Bedenken von der Familie und dem Stamm auf die Menschheit als ganzes (und darüber hinaus) auszudehnen. Dennoch ist es unmöglich, sieben Milliarden Fremden Empathie entgegenzubrigen, oder um jemanden, den man man nie getroffen hat, gleich besorgt zu sein, wie um ein Kind, eine Freundin oder einen Partner. Unsere beste Hoffnung für die Zukunft besteht nicht darin, dass alle die gesammte Menschheit als ihre Familie sehen – das ist unmöglich. Sie liegt viel mehr darin anzuerkennen, dass auch dann, wenn wir Fremden keine Empathie entgegen bringen, ihr Leben dennoch den gleichen Wert hat wie das jener, die wir lieben.

Dies soll kein Aufruf für eine Welt ohne Empathie sein. Auch eine Rasse von Psychopathen kann klug genug sein um die Prinzipien der Solidarität und Fairness zu entdecken. (Forschung zeigt, dass kriminelle Psychopathen nicht unfähig sind, moralische Urteile zu treffen.) Das Problem mit jenen, denen die Empathie fehlt, ist, dass sie trotz ihrer Fähigkeit zu Erkennen was Recht ist, keine Motivation haben, dies in ihr Handeln einfliessen zu lassen. Der Funke des Mitfühlens ist nötig um Moral handlungswirksam zu machen.

Ein Funke mag aber alles sein, was nötig ist. Vom Extrem der Psychopathie abgesehen gibt es keinen Hinweis darauf, dass die weniger empathischen auch weniger moralisch sind als der Rest. Simon Baron-Cohen hat beobachtet, dass viele Menschen mit Autismus und Asperger-Syndrom, obwohl typischerweise empathie-defizient, hoch moralisch sind und ein starkes Bedürfnis haben, Regeln zu folgen und sicherzustellen, dass sie fair angewendet werden. Wirklich einen Unterschied macht Empathie hingegen in unseren persönlichen Beziehungen. Niemand möchte wie Charles Dickens‘ Karrikatur-Utilitarist Thomas Gradgrind leben, der alle Beziehungen, inklusive die zu seinen Kindern, aus der rein ökonomischen Perspektive betrachtet. Empathie macht uns menschlich, sie macht uns sowohl zu Subjekten als auch zu Objekten moralischer Gedanken. Die Empathie betrügt uns nur, wenn wir sie als moralische Richtlinie verwenden.

Nach dem Amoklauf an der Sandy Hook Primarschule wurde die Stadt Newton mit soviel Wohltätigkeitsbemühungen überschüttet, dass diese zu einer Last wurden. Über achthundert Freiwillige waren mit der Verteilung der Geschenke beschäftigt, welche die Stadt erreichten. Trotz Appellen der Stadtverwaltung die Zuwendungen anderswohin kommen zu lassen brach der Strom an Geschenken nicht ab. Eine grosse Lagerhalle wurde mit Plüschtieren vollgestopft, welche die Bewohner von Newton nicht mehr brauchen konnten. Millionen von Dollars erreichten die eigentlich ziemlich wohlhabende Gemeinde. Die amerikanische Bevölkerung wollte Newton helfen. Gleichzeitig, um eine lange Liste zu beginnen, sterben jährlich hunderttausende Kinder an Malaria.

So sehen die Paradoxe der Empathie aus. Die Kraft der Empathie hängt mit ihrem Vermögen zusammen unsere moralische Aufmerksamkeit auf einen kleinen Ausschnitt der Welt zu fokussieren. Wenn allerdings Milliarden auf diesem Planeten überleben sollen, gilt es auch das Wohlergehen jener zu berücksichtigen, die noch nicht geschädigt, und erst recht jener, die noch nicht geboren sind. Sie haben keine Namen, Gesichter und Geschichten um unser Gewissen aufzurütteln und an unsere Empathie zu appellieren. Ihre Zukunft zu sichern verlangt vielmehr nach sorgfältigem Abwägen und Reflektieren. Unsere Herzen werden immer mit dem Baby im Brunnen sein, das ist ein Massstab unserer Humanität. Die Empathie muss sich aber der Vernunft unterordnen, wenn die Menschheit eine rosige Zukunft haben soll.

Sehr freie Übersetzung eines Artikels von Paul Bloom im New Yorker: The Baby in the Well (englisch)
Artikelbild: flickr / glsims99
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That we have found the tendency to conformity in our society so strong is a matter of concern. It raises questions about our ways of education and about the values that guide our conduct.

Solomon Asch

In einem erstmals 1951 veröffentlichten und seither wiederholt replizierten Experiment wies Solomon Asch den Konformitätsdruck nach, der die Entscheidungen von Menschen in sozialen Situationen beeinflusst. Die Testpersonen mussten im Experiment angeben, welche der 3 Linien A, B oder C gleich lang ist wie eine links davon eingeblendete.

 

 

 

 

 

Das Experiment war so aufgebaut, dass jeweils 5 Personen der Reihe nach die Frage beantworteten. Dabei waren 4 Personen von Asch eingesetzte Schauspieler. Die Testperson beantwortete die Frage jeweils als 4-te Person in der Reihe. In 18 Durchgängen gaben die Schauspieler 6-mal die richtige Antwort und die übrigen 12-mal einstimmig eine falsche.

Das verstörende Ergebnis des Experiments war, dass die eigentlichen Testpersonen in 37% der Fälle der Mehrheitsantwort folgten und ebenfalls die offensichtlich falsche Antwort gaben. Lediglich ein Viertel der Testpersonen gab in allen Fällen die korrekte Antwort. Asch selbst war der Ansicht, dass sein Ergebniss Fragen bezüglich unseres Bildungssystemes aufwirft. Auch in Situationen, die von der Testperson nicht als Experiment wahrgenommen werden, lässt sich Konformität mit sinnlosem Mehrheitsverhalten herbeiführen, wie sich etwa hier beobachten lässt.

Das in Aschs Experimenten beobachtete gruppenkonforme Verhalten aus Angst, von der Mehrheitsmeinung abzuweichen, wird als normative Konformität bezeichnet. Orientiert man sich hingegen aufgrund eigener Unwissenheit oder Unsicherheit an der Mehrheit, so spricht man von informativer Konformität. Ein entsprechender Effekt wurde von Sherif schon 1935 entdeckt. Dabei nutzte er den autokinetischen Effekt, eine optische Täuschung, die auftritt, wenn ein kleiner Lichtpunkt in einem dunklen Raum den Anschein hat, sich zu bewegen obwohl er eigentlich still steht. Die Versuchspersonen sollten angeben, wieviele Zentimeter sich der Lichtpunkt bewegt. Interessanterweise antworteten die Versuchspersonen unterschiedlich, wenn sie separat oder in Gruppen gefragt wurden und ihre Einschätzung laut ausprechen sollten. Sherif fand heraus, dass sich die Antworten der Personen innerhalb einer Gruppe mit der Zeit einander annährten und schliesslich zu einer gemeinsamen Schätzung konvergierten.

Die Bereitschaft durchschnittlicher Personen in klarem Widerspruch zum eigenen Gewissen autoritären Anweisungen Folge zu leisten, welche in den berühmten Milgram-Experimenten eindrücklich nachgewiesen wurde, veranschaulicht beide Aspekte der Konformität. Der informative Aspekt zeigt sich darin, dass die Folgsamkeit gegenüber vermeintlichen Experten höher war, als gegenüber Laien. Hingegen reduzierten auch Anwesende, welche die Anweisungen des Versuchsleiters in Frage stellten, die Gehorsamkeit, was den normativen Einfluss deutlich macht.

Sherifs Experiment unterscheidet sich von Aschs Studie dadurch, dass die Personen tatsächlich daran glauben, dass ihre Aussage über die Bewegung des Lichtpunktes korrekt sei, während Verschiedenes dafür spricht, dass den Testpersonen in Aschs Eperiment bewusst ist, dass sie die falsche Antwort geben. So lässt etwa die Möglichkeit, seine Antwort ungesehen von der Gruppe abzugeben die Konformität sinken. Auch Ingroup-Outgroup-Manipulationen zeigen, dass die Konformität unter Mitgliedern einer Ingroup höher ist: Linde und Patterson (1964) stellten fest, dass Männer mit schweren orthopädischen Beschwerden sich ihresgleichen gegenüber eher konform verhalten als gegenüber gesunden Männern. In einer Metastudie (Smith und Bond 1996) wurde festgestellt, dass die Konformität bei zwei vorherigen Falschantworten deutlich höher ist als bei nur einer, und bei dreien noch einmal deutlich höher als bei zweien, sich danach aber nicht mehr stark verändert.

Schon eine einzige von der (falschen) Mehrheitsantwort abweichende Aussage schwächt die Tendenz zur Konformität stark ab – um bis zu 80%. Dies geschieht unabhängig davon, ob die Antwort der abweichenden Person die richtige oder eine andere falsche ist. Es scheint in der Regel also tatsächlich das Unbehagen zu sein, der einzige Abweichler zu sein, welches die Testpersonen die offensichtlich falsche Antwort geben lässt. Der vorherige Abweichler beeinflusst entscheidend, ob man sich einer Revolution anschliesst oder eine Revolution startet. Dennoch waren Testpersonen, welche dem Abweichler folgend die korrekte Antwort gaben, überzeugt, dass sie dies auch ohne den vorherigen Abweichler getan hätten. Offenbar ist es schwierig, korrekt zu antizipieren, wie man selbst einer einstimmigen Mehrheit gegenüber reagieren würde. Widersetzte sich der Abweichler nur während der ersten sechs Runden der Mehrheit und schloss sich danach dieser an, so stieg abrupt auch die Fehlerrate der eigentlichen Testperson an – und zwar ebenso stark, wie wenn es nie einen Abweichler gegeben hätte. Der erste Nonkonformist zu sein, kann eine ebenso schwierige wie wichtige soziale Aufgabe sein. Lohnen tut sie sich aber nur, wenn sie auch durchgezogen wird.

Quellenangabe
Asch, S. E. (1956). Studies of independence and conformity: A minority of one against a unanimous majority. Psychological Monographs 70.
Sherif, M. (1935). A study of some social factors in perception. Archives of Psychology 187/27.
Linde, T. F. and Patterson, C. H. (1964). Influence of orthopedic disability on conformity behavior. The Journal of Abnormal and Social Psychology 1/86.
Bond, R. and Smith, P. B. (1996). Culture and Conformity: A Meta-Analysis of Studies Using Asch’s Line Judgment TaskPsychological Bulletin 119 (pp. 111-137)
Yudkowsky, E. (2007). Asch’s Conformity Experiment. LessWrong (16.7.2013)
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Die Gefahr positiver Affekte https://gbs-schweiz.org/blog/die-gefahr-positiver-affekte/ https://gbs-schweiz.org/blog/die-gefahr-positiver-affekte/#respond http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=1464 Fällt die Entscheidung beim Durchstöbern der Cocktailkarte nicht leicht, so wähle ich jenen Drink, den ich mit einer positiven Erinnerung – einem speziellen Abend, einer Filmszene – verknüpfen kann. Die entsprechenden Assoziationen helfen mir dabei nicht nur bei der Entscheidungsfindung, sie geben dem Cocktailschlürfen auch eine zusätzliche Qualität. Solche Affekte durchziehen unsere Entscheidungsfindungen mehr, als uns dies gemeinhin bewusst ist, insbesondere auch bei Entscheidungen zu ernsthafteren Themen, bei welchen wir uns eigentlich nicht von Affekten leiten lassen wollen.

Affektheuristik

Die Affektheuristik beschreibt das Treffen von Entscheidungen nach subjektiven Gefühlen, welche nicht mit den für die Entscheidung eigentlich relevanten Faktoren zusammenhängen. Die hierbei relevanten Gefühle entstehen automatisch und unfreiwillig und sind von kurzer Dauer – kürzer etwa als Launen. Sie werden im Allgemeinen nicht bewusst empfunden. Als Beispiel für einen Stimulus, der solche Gefühle hervorruft, kann das Lesen des Wortes „Mutterliebe“ oder aber „Lungenkrebs“ dienen. Die Affektheuristik erlaubt es, schnelle Entscheidungen zu treffen, Probleme effizient zu lösen und allgemein zu funktionieren, ohne komplexe Recherchen und Informationsreflexionen betreiben zu müssen. Gleichzeitig birgt sie die Gefahr von Fehlentscheidungen, also von Entscheidungen, die nicht zum eigentlich angestrebten Ziel führen. Besonders relevant ist die Affektfheuristik bei „Bauchentscheidungen“ (was aber nicht heisst, dass Bauchentscheidungen per se irrational sind).

Bereits beschrieben wurde das Jelly Beans Experiment, in welchem das positive Gefühl, welches durch den Anblick von mehr Gewinnmöglichkeiten ausgelöst wird, sämtliches Wissen über Wahrscheinlichkeiten in den Hintergrund zu stellen vermag. Viele weitere Beispiele für die Affektheuristik sind aus der Forschung bekannt.

  • Eine Krankheit, über die man erfährt, dass sie 1’286 von 10’000 Menschen töten wird, wird als gefährlicher eingeschätzt als eine, die mit 24.14%-iger Wahrscheinlichkeit zum Tode führt (Yamagishi 1997). Anscheinend wirkt das mentale Bild von tausend Leichen viel bedrohlicher als der Prozentwert, der eine höhere Opferzahl vorhersagt.
  • Finucance et al. (2000) gingen der Theorie nach, dass Menschen positive oder negative Urteile über einen bestimmten Aspekt von etwas zu einem positiven oder negativen Urteil über dieses Ding insgesamt ausweiten würden; so etwa Informationen über Risiko und Nutzen von Kernkraftwerken. Rein logisch sind die Informationen über die Risiken einer Technologie völlig unabhängig von den Informationen über deren Nutzen. Tiefe Risiken und hohe Nutzen sind beide gut – aber sie sind nicht das gleiche Gute. Dennoch stellten Finucane et al. fest, dass Informationen über den hohen Nutzen von Kernkraftwerken, Erdgas oder Nahrungskonservierungsmitteln dazu führten, dass Testpersonen die Risiken dieser Technologien als geringer einschätzten. Informationen über die hohen Risiken hingegen führten dazu, dass der Nutzen der Technologien als geringer eingeschätzt wurden. Der negative Zusammenhang zwischen wahrgenommenen Risiken und wahrgenommenem Nutzen verstärkte sich, wenn die Testpersonen unter Zeitdruck gesetzt wurden.
  • Ganzach (2011) stellte einen ähnlichen Effekt in der Finanzwelt fest. Nach ökonomischer Lehrmeinung sind Ertrag und Risiko positiv korreliert. Aktien bringen höhere Erträge als Staatsanleihen, bei entsprechend höherem Risiko. Liess man Analysten Aktien beurteilen, mit denen sie vertraut waren, so korrelierten die Einschätzungen über Risiko und Ertrag positiv, wie erwartet. Ging es hingegen um das Einschätzen von Aktien, mit denen sie nicht vertraut waren, beurteilten die Analysten diese, als ob sie allgemein gut oder schlecht wären – tiefes Risiko und hoher Ertrag oder hohes Risiko und tiefer Ertrag.

Die beiden letztgenannten Beispiele passen zur allgemeineren Feststellung, dass Zeitdruck, eine dürftige Informationslage und Ablenkung die Dominanz von Wahrnehmungsheuristiken über analytische Erwägungen verstärken.

Ankerheuristik

Wo absolute Zahlen schwer zu bewerten sind, wird der Vergleich mit gerade vorhandenen Bezugspunkten oder „Ankern“ als positiver oder negativer Entscheidungsfaktor verwendet, welcher dann die eigentlich relevante absolute Höhe überwiegen kann.

  • Hsee (1998) fragte Testpersonen, wieviel sie für einen der folgenden beiden Becher mit Speiseeis zu bezahlen bereit wären (1oz = 28g). Skizzen von Eisbechern in der Untersuchung von Hsee (1998)                          Testpersonen, die nur eine der beiden Skizzen sahen, waren im Falle von Verkäuferin H durchschnittlich bereit, $1.66 zu bezahlen, während es im Falle von Verkäufer L $2.66 waren. Die absolute Menge an Speiseeis ist schwer zu bewerten, deshalb wird der Vergleich mit der maximal möglichen Füllmenge zur Bewertung herangezogen. Zeigt man den Testpersonen aber beide Skizzen, so werden tatsächlich die Eismengen bewertet; Verkäuferin H hätte $1.85 erhalten, Verkäufer L hingegen nur $1.56.
  • Die Führung eines Flughafens muss entscheiden, zur Erhöhung der Sicherheit Geld für neu anzuschaffende Ausrüstung oder für Alternativen auszugeben. Slovic et al. (2002) informierten zwei Gruppen von Testpersonen über die Pro- und Kontra-Argumente für den Kauf der Ausrüstung und liessen sie ihre Zustimmung zum Kauf auf einer Skala von 0 bis 20 angeben. Der einen Gruppe wurde gesagt, der Kauf würde 150 Leben retten. Der anderen Gruppe wurde gesagt, er würde 98% von 150 Leben retten. Die Hypothese, welche das Experiment motivierte, war, dass 150 Leben zu retten vage gut tönt – sind 150 Leben viel? – während 98% von irgendetwas eindeutig gut ist, weil es so nahe am „Maximum“ liegt, das als Anker gesetzt wird. Das Resultat war, dass 150 Leben zu retten eine durchschnittliche Unterstützung von 10.4 erhielt, während sie für 98% von 150 Leben bei 13.6 lag.
  • Im Marketing werden solche Effekte häufig bewusst eingesetzt. Kürzlich im grössten Zürcher Kino: Mit dem Eintrittsticket kann eine Portion Popcorn zu einem um 2 Fr. vergünstigten Preis gekauft werden. Die Popcorn werden hinter der Eintrittskontrolle verkauft und mehrere Vergünstigungen sind nicht kumulierbar. Was den tatsächlich bezahlten Preis betrifft, könnte also anstelle der Vergünstigung über das Ticket auch einfach der Verkaufspreis generell um 2 Fr. gesenkt werden. Aber wer für sein Popcorn 2 Fr. weniger bezahlen muss, als sie eigentlich kosten würden, wird sie, unabhängig von der absoluten Höhe des tatsächlichen Preises, eher kaufen. 
  • Laut Hsee (1998) wird, wer jemandem einen Schal für 45$ schenkt, als grosszügiger eingeschätzt als jemand, der einen Mantel für 55$ schenkt. Für die Beurteilung der Grosszügigkeit ist also weniger die absolute Höhe der Ausgabe entscheidend als der Vergleich des Preises eines Objektes mit dem durchschnittlichen Preis eines Objektes aus der gleichen Produktklasse. Wer grosszügig erscheinen will, tut gut daran, ein Produkt aus einer möglichst billigen Kategorie zu schenken. Aus dieser Perspektive erscheint etwa die japanische Sitte, Melonen zu verschenken, welche einen für WestlerInnen kaum nachvollziehbaren Preis gekostet haben, in völlig neuem Licht.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass die Affektfheuristik darin besteht, eine spontane positive oder negative emotionale Reaktion auf einen bestimmten Aspekt von etwas zu einem allgemeinen positiven oder negativen Urteil über dieses etwas auszudehnen. Manifestiert sich die Affektfheuristik in der Sozialpsychologie, so spricht man vom Halo-Effekt.

Halo-Effekt I (Personen)

Die Forschung (Cialdini 2001) hat gezeigt, dass wir gutaussehenden Individuen automatisch vorteilhafte Charakteristiken wie Talent, Freundlichkeit, Ehrlichkeit und Intelligenz zuschreiben. Wir treffen diese Urteile, ohne uns bewusst zu sein, dass die körperliche Attraktivität dabei eine Rolle spielt. Die Konsequenzen der unbewussten Annahme, dass „gutaussehend gleich gut“ ist, sind zum Teil beunruhigend. So kam z.B. eine Studie über die kanadischen Bundeswahlen von 1974 zum Schluss, dass attraktive KandidatenInnen mehr als zweieinhalbmal so viele Stimmen wie unattraktive erhielten. Trotz solcher Belege für die Bevorzugung attraktiver PolitikerInnen zeigten daran anknüpfende Forschungsarbeiten, dass sich die WählerInnen ihres Bias‘ nicht bewusst sind. So stritten 73% der kanadischen WählerInnen vehement ab, dass ihre Wahl durch das äussere Erscheinungsbild beinflusst war; lediglich 14% zogen einen solchen Einfluss in Betracht. Wie sehr die WählerInnen auch den Einfluss der Attraktivität auf die Wahlentscheidung abstreiten mögen, die Forschung hat sie wiederholt bestätigt.

Ähnliche Folgen äusserlicher Attraktivität oder Unattraktivität zeigen sich beim Einstellen und der Bezahlung von Arbeitskräften und selbst in der Höhe von Strafen vor Gericht. Attraktiven Personen wird eher geholfen und sie sind erfolgreicher darin, die Meinung eines Publikums zu ändern (Cialdini 2001).

Nicht nur die Attraktivität einer Person kann zu Halo-Effekten führen; beispielsweise auch Behinderungen oder der soziale Status einer Person können einen positiven oder negativen Eindruck erzeugen, welcher die weitere Wahrnehmung der Person „überstrahlt“ und so den Gesamteindruck unverhältnismässig beeinflusst. Speziell Ruhm scheint die Wahrnehmung aller übrigen positiven Eigenschaften zu verstärken. Wir bewundern einen Superhelden, der jemanden dank seiner Superkräfte rettet, mehr als jemanden, der dies ohne Superkräfte tut.

Zur Vermeidung des Halo-Effektes kann es neben dem Wissen um diesen hilfreich sein, bewusst verschiedene Aspekte getrennt zu bewerten. Wenn eine Lehrperson zunächst die erste Aufgabe aller Schüler korrigiert, dann die zweite, und so weiter, besteht weniger Gefahr, dass eine ausserordentlich gut oder schlecht beantwortete Aufgabe die Bewertung der übrigen Aufgaben derselben Schülerin beeinflusst.

Halo-Effekt II (Theorien)

Das Wissen um die Affektfheuristik und den Halo-Effekt macht auch verständlicher, wie wir wissenschaftliche oder politische Theorien wahrnehmen und zu deren Anhängern werden. Je lieber uns eine Theorie ist, desto eher überschätzen wir, wie gut sie die Fakten erklärt. Die Phlogiston-Theorie konnte so ziemlich alles erklären, so lange sie nichts vorherzusagen hatte. Je mehr Phänomene mit der liebgewonnenen Theorie schon erklärt wurden, desto wahrer scheint sie – hat sie sich nicht all diese vielen Male bewährt? Je wahrer die Theorie scheint, desto eher werden wir sie in Frage stellende Evidenz ignorieren. Je allgemeiner sie scheint, desto breiter werden wir sie anwenden. Sollten Sie jemanden kennen, der glaubt, dass die Illuminati heimlich das Weltgeschehen kontrollieren, so waren wahrscheinlich die beschriebenen Mechanismen mit am Werk.

Positive Feedback-Zyklen aus Leichtgläubigkeit und Bestätigung sind für vielerlei Fehler im Alltagsleben wie in der Wissenschaft verantwortlich. Einen ähnlichen Einfluss haben Spiralen, die mit einem stark positiven Affekt beginnen – einem Gedanken, der sich wirklich gut anfühlt. Ein neues Wirtschaftssystem zum Beispiel soll nicht nur die Armen füttern, sondern auch den Weltfrieden und ökologische Rettung bringen.

Positive Charakteristiken verstärken die Wahrnehmung aller übrigen positiven Charakteristiken. Ist der positive Affekt genügend schwach, so verzerrt er die Gesamtwahrnehmung etwas, ohne ausser Kontrolle zu geraten. Ist er aber stark genug, beginnt die positive Resonanz allumfassend zu werden. Ein echter Marxist sieht Marx‘ Weisheit in jedem Hamburger, den McDonalds verkauft; in jeder Beförderung, die ihm verwehrt blieb, die er aber in einem echten Arbeiterparadies erhalten hätte; in jeder Wahl, die nicht nach seinem Gusto verläuft; und in jedem Zeitungsartikel, welcher einseitig „falsch“ ausgerichtet ist. Jedes Mal, wenn die grosse Idee verwendet wird, um etwas zu erklären, bestätigt sie sich noch mehr. Sie fühlt sich noch besser an, und was sich gut anfühlt, das sind wir umso mehr gewillt zu glauben.

Wie kann man einer solchen „affektiven Todesspirale“ widerstehen? Sicher nicht, indem man versucht, gar nichts mehr zu bewundern. Manche Ideen sind wirklich gut; manche Taten verdienen uneingeschränkten Respekt. Ganz vermeiden lässt sich der Halo-Effekt nicht; aber man kann vermeiden, dass die positive Feedbackspirale ausser Kontrolle gerät. Dazu kann man für jede positive Behauptung über etwas, dem gegenüber man bereits positiv eingestellt ist, eine entsprechend starke Begründung verlangen; möglichst spezifisch auf diese Behauptung fokussieren, nicht auf die guten oder schlechten Gefühle, welche sie auslöst, und ohne sie mit den übrigen Aspekten in Verbindung zu bringen; bewusst nach Schwachstellen und nicht nur nach Bestätigung suchen; das grosse Etwas in kleinere, unabhängige Ideen aufteilen und diese isoliert behandeln; sich im Falle von Gegenargumenten nicht damit zufrieden geben, dass man „nicht widerlegt werden kann“ oder dass es „Argumente dafür und dagegen gibt“. Das alles hört sich trivial an, aber wenn wir einem Konzept gegenüber einmal eine positive Einstellung haben, neigen wir fast unvermeidlich dazu, weitere positive Behauptungen darüber glauben zu wollen.

Die wirklich gefährlichen Fälle sind jene, in denen sich jede Kritik an der grossen Idee schlecht anfühlt oder sie sozial nicht akzeptabel ist. Argumente werden dann zu Soldaten, jedes Argument für die eigene Seite muss unterstützt werden, egal wie schwach es ist, und jedes Argument der Gegenseite muss an seiner schwächsten Stelle angegriffen werden. Alles andere wäre Verrat. Und so gerät die Spirale ausser Kontrolle.

Quellenangabe
Cialdini, R. B. (2001). Influence: Science and Practice. Boston, MA: Allyn and Bacon.
Finucane, M. L., Alhakami, A., Slovic, P., & Johnson, S. M. (2000). The affect heuristic in judgments of risks and benefits. Journal of Behavioral Decision Making 13 (pp. 1-17)
Ganzach, Y. (2001). Judging risk and return of financial assets. Organizational Behavior and Human Decision Processes 83 (pp. 353-370).
Hsee, C. K. (1998). Less is better: When low-value options are valued more highly than high-value options. Journal of Behavioral Decision Making 11 (pp. 107-121)
Slovic, P., Finucane, M., Peters, E. and MacGregor, D. (2002). Rational Actors or Rational Fools: Implications of the Affect Heuristic for Behavioral Economics.  Journal of Socio-Economics 31, 329–342. 
Yamagishi, K. (1997). When a 12.86% mortality is more dangerous than 24.14%: Implications for risk communication. Applied Cognitive Psychology, 11, 495-506.
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Warum kluge Menschen dumme Dinge tun https://gbs-schweiz.org/blog/warum-kluge-menschen-dumme-dinge-tun/ https://gbs-schweiz.org/blog/warum-kluge-menschen-dumme-dinge-tun/#comments Tue, 18 Dec 2012 17:41:30 +0000 http://giordano-bruno-stiftung.ch/?p=873 Intelligenz alleine macht noch nicht rational. Rational zu denken, verlangt mentale Fähigkeiten, die einige von uns nicht haben und viele nicht nutzen.

„Wie kann ein so kluger Mensch so dumm sein?“ Wir alle haben uns dies schon gefragt, nachdem wir gesehen haben, wie eine äusserst intelligente Freundin oder ein Verwandter sich wie ein Dummkopf verhalten hat.

Menschen kaufen, wenn die Preise hoch sind, und verkaufen, wenn sie tief sind. Sie glauben an ihr Horoskop. Sie können sich nicht vorstellen, dass ihnen das passieren könnte. Sie setzen alles auf schwarz, weil schwarz „überfällig“ ist. Sie bestellen eine extragrosse Portion Pommes mit einer Cola Light. Sie benutzen das Mobiltelefon, während sie am Steuer sitzen. Sie wetten darauf, dass eine Finanzblase nie platzen wird.

Sie haben auch schon etwas ähnlich Dummes getan. Ebenso wie ich. Professor Keith Stanovich sollte es besser wissen, aber auch er hat schon dumme Fehler gemacht.

„Ich habe einmal 30,000$ mit einem Haus verloren“ sagt er, und lacht. „Wahrscheinlich haben wir zu viel dafür bezahlt. Alle Bücher sagen dir „Verliebe dich nicht in ein Haus. Verliebe dich in vier Häuser.“ Wir haben diese Regel verletzt.“ Stanovich ist ausserordentlicher Professor für Entwicklungs- und Angewandte Psychologie an der Universität Toronto und erforscht Intelligenz und Rationalität. Der Grund dafür, dass kluge Menschen dumme Dinge tun, so Stanovich, ist, dass Intelligenz und Rationalität nicht dasselbe sind.

Intelligenz und Rationalität I

„Es gibt eine begrenzte Menge von kognitiven Fähigkeiten, die wir ausfindig machen und Intelligenz nennen. Aber das ist nicht dasselbe wie intelligentes Verhalten in der realen Welt“, erklärt Stanovich.

Er hat sogar einen Begriff kreiert, um das Unvermögen, rational zu handeln – trotz eigentlich hinreichender Intelligenz – zu beschreiben: „Dysrationalität„.

Die Frage, wie Intelligenz definiert und gemessen werden soll, ist seit mindestens 1904 kontrovers, als Charles Spearman die Vorstellung verbreitete, dass ein „allgemeiner Intelligenzfaktor“ die Grundlage aller kognitiven Funktionen bildet. Andere sind der Ansicht, dass sich Intelligenz aus vielen verschiedenen kognitiven Fähigkeiten zusammensetzt. Einige wollen den Intelligenzbegriff um emotionale und soziale Intelligenz erweitern.

Stanovich ist überzeugt, dass jene Intelligenz, die ein IQ-Test misst, ein sinnvolles und nützliches Konstrukt ist. Es geht ihm nicht darum, unsere Definition von Intelligenz zu erweitern, sondern er gibt sich mit der kognitiven Intelligenz zufrieden. Er vertritt aber die Auffassung, dass Intelligenz alleine kein Garant für rationales Verhalten ist.

Anfang 2010 veröffentlichte die Yale University Press Stanovichs neues Buch What Intelligence Tests Miss: The Psychology of Rational Thought. Darin führt er eine ganze Reihe von Intelligenz unabhängiger kognitiver Fähigkeiten und Dispositionen an, die einen mindestens ebenso grossen Einfluss darauf haben, ob jemand rational denkt und handelt. In anderen Worten: Man kann intelligent, aber irrational sein. Und man kann ein rationaler Denker sein, ohne über besondere Intelligenz zu verfügen.

Eine Aufgabe, die 80% falsch beantworten

Zeit für eine Denksportaufgabe. Versuchen Sie die folgende Frage zu beantworten, bevor Sie weiterlesen. Jack schaut Anne an, aber Anne schaut George an. Jack ist verheiratet, aber George nicht. Schaut eine verheiratete Person eine unverheiratete an?

  • Ja
  • Nein
  • Kann nicht entschieden werden

Über 80 Prozent der Menschen beantworten diese Frage falsch. Falls Ihre Antwort war, dass die Frage nicht entschieden werden kann, gehören Sie zu auch zu ihnen. (Wie ich.) Die korrekte Antwort ist: Ja, eine verheiratete Person schaut eine unverheiratete an.

Die meisten glauben, dass wir zu wissen brauchen, ob Anne verheiratet ist oder nicht. Doch gehen Sie alle Möglichkeiten durch. Wenn Anne ledig ist, schaut eine verheiratete Person (Jack) eine ledige Person an (Anne). Wenn Anne verheiratet ist, schaut eine verheiratete Person (Anne) eine unverheiratete Person (George) an. In beiden Fällen ist die Antwort folglich Ja.

Die meisten Menschen verfügen über die Intelligenz, auf diese Lösung zu kommen, wenn man ihnen sagt „denk logisch“ oder „geh alle Möglichkeiten durch“. Aber ohne Anstoss wenden sie nicht ihre ganzen mentalen Kapazitäten für das Problem auf.

Dies ist einer der Hauptgründe für Dysrationalität, so Stanovich. Wir alle sind „kognitive Geizhälse“, die es vermeiden, zu viel zu denken. Aus einer evolutionären Perspektive macht das durchaus Sinn. Denken kostet Zeit, ist ressourcenintensiv und manchmal kontraproduktiv. Wenn es sich bei dem Problem, das gerade vorliegt, darum handelt, einem Säbelzahntiger zu entkommen, lohnt es sich nicht, mehr als einen Sekundenbruchteil für die Entscheidung zu verwenden, ob man in einen Fluss springen oder auf einen Baum klettern will.

Framing und Anchoring Effect

Wir haben deshalb eine ganze Reihe von Heuristiken und Biases entwickelt, um die Menge an Hirnschmalz zu beschränken, die wir für ein Problem aufwenden. Diese Techniken führen zu raschen Antworten, die häufig richtig sind – aber nicht immer.

Zum Beispiel zeigte eine Forscherin in einem Experiment Probanden eine Schüssel, gefüllt mit mehrheitlich weissen Jelly Beans und versprach ihnen einen Dollar, wenn es ihnen gelingt, blind eine rote Jelly Bean zu ziehen. Die Probanden konnten dabei zwischen zwei Schüsseln wählen. Die eine Schüssel enthielt neun weisse Jelly Beans und eine rote. Die andere enthielt 92 weisse und acht rote. 30 bis 40% der Testpersonen entschieden sich aus der grösseren Schüssel zu ziehen, obwohl die meisten verstanden, dass eine 8%-ige Gewinnchance schlechter ist als eine 10%-ige. Die visuelle Verlockung der zusätzlichen roten Jelly Beans bezwang ihr Verständnis von Wahrscheinlichkeiten.

Oder gehen Sie gedanklich das folgende Problem durch. Ein Krankheitsausbruch wird voraussichtlich 600 Leute umbringen, falls nichts unternommen wird. Es gibt zwei Behandlungsmethoden. Option A wird 200 Leute retten. Option B wird mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Drittel 600 Leute retten und mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln niemanden. Die meisten Menschen entscheiden sich für A. Es ist besser, wenn 200 Leute garantiert gerettet werden, als das Risiko einzugehen, dass alle sterben.

Stellt man die Frage aber wie folgt: Option A bedeutet, dass 400 Leute sterben werden. Option B lässt mit einer Wahrscheinlichkeit von einem Drittel niemanden sterben und mit einer Wahrscheinlichkeit von zwei Dritteln 600 Leute – wählen die meisten Menschen Option B. Sie riskieren, alle zu töten bzw. sterben zu lassen, um dafür die geringere Chance zu erhalten, alle zu retten.

Aus einer rationalen Perspektive ist das Problem dabei, dass die beiden Szenarien identisch sind. Der einzige Unterschied ist, dass die Frage umformuliert wird, um die 400 Toten in Option A zu betonen und nicht die 200 Geretteten. Man nennt dies den „Framing Effect“. Er zeigt, dass die Art, wie eine Frage gestellt wird, einen dramatischen Einfluss auf die Antwort hat, die wir zu geben geneigt sind, und zu widersprüchlichen Antwort führen kann.

Weiter gibt es den „Anchoring Effect“. In einem Experiment haben Forscher ein Rad gedreht, das so präpariert war, dass es entweder bei der Zahl 10 oder 65 hielt. Nachdem das Rad gestoppt hatte, fragten die Forscher ihre Probanden, ob der Anteil afrikanischer Länder in den Vereinten Nationen höher oder tiefer sei als diese Zahl. Darauf baten sie die Probanden, diesen Anteil zu schätzen. Diejenigen, die die grössere Zahl gesehen hatten, schätzten signifikant höher als jene, die die tiefere Zahl gesehen hatten. Die Zahl „verankerte“ ihre Antwort, obwohl sie die Zahl kognitiv für völlig beliebig und bedeutungslos hielten.

Confirmation Bias und Mindware Gaps

Die Liste geht weiter. Wir suchen nach Hinweisen, welche unsere Überzeugen bestätigen und lassen jene unberücksichtigt, welche sie in Frage stellen („Confirmation Bias“). Wir betrachten Situationen aus unserer eigenen Perspektive, ohne jene der anderen Seite zu berücksichtigen („Myside Bias“, „Selection Bias“). Eine anschauliche, aber probabilistisch praktisch bedeutungslose Anekdote beinflusst uns stärker als hochaussagekräftige Statistiken. Wir überschätzen, wie viel wir wissen. Wir halten uns für überdurchschnittlich. Wir sind überzeugt, dass wir weniger von Biases beinflusst sind als die anderen.

Schliesslich identifiziert Stanovich eine weiter Quelle der Dysrationalität – er nennt sie „Mindware Gaps“ (etwa: Verstandes- oder Wissenslücken). Unsere Mindware, erklärt er, besteht aus gelernten kognitiven Regeln, Strategien und Glaubenssystemen. Sie beinhaltet unser Verständnis von Wahrscheinlichkeiten und Statistik ebenso wie unsere Bereitschaft alternative Hypothesen zu berücksichtigen, wenn wir versuchen, ein Problem zu lösen. Die richtige Mindware kann – im Gegensatz zur Intelligenz – besser erlernt werden. Allerdings eignen sich manche hochintelligente und gebildete Menschen nie angemessene Mindware an. Menschen können auch an „kontaminierter Mindware“ leiden, etwa an Aberglauben, was zu irrationalen Entscheidungen führt.

Intelligenz und Rationalität II

Laut Stanovich hat Dysrationalität wichtige Auswirkungen in der Realität. Sie kann finanzielle Entscheidungen ebenso beeinflussen wie die Regierungspolitik, welche man unterstützt, und die PolitikerInnen, die man wählt, sowie allgemeiner die Fähigkeit, das Leben zu führen, das man führen will. Zum Beispiel haben Stanovich und seine Mitarbeiter herausgefunden, dass Glücksspielsüchtige in verschiedenen Rationalitätstests schlechter abschneiden als die meisten Menschen. Sie treffen impulsivere Entscheidungen, ziehen die zukünftigen Konsequenzen ihrer Handlungen weniger in Betracht und glauben häufiger and Glücks- und Pechszahlen. Auch was das Verständnis von Wahrscheinlichkeit und Statistik betrifft, schneiden sie schlecht ab. Zum Beispiel verstehen sie weniger häufig, dass, wenn fünf Münzwürfe in Folge Kopf ergeben haben, dies die Wahrscheinlichkeit für Zahl beim nächsten Wurf nicht erhöht. Ihre Dysrationalität macht sie häufig nicht nur zu schlechten Spielern, sondern auch zu Glücksspielsüchtigen – Menschen, die weiterspielen, obwohl sie sich selbst, ihre Familie und ihre Existenzgrundlage schädigen.

In seiner Forschungskarriere hat Stanovich die Pionierarbeit verfolgt, welche Daniel Kahnemann, Wirtschaftsnobelpreisträger, und sein Mitarbeiter Amos Tversky auf dem Gebiet der Heuristiken und Biases geleistet haben. Stanovich begann 1994, die Resultate von Rationalitätstests mit den Resultaten der gleichen Personen in konventionellen Intelligenztests zu vergleichen. Er fand heraus, dass sie nicht viel miteinander zu tun haben. Bei einigen Aufgaben sind rationales Denken und Intelligenz fast vollständig unabhängig voneinander.

Zum Beispiel könnten Sie viel rationaler denken als jemand, der viel klüger ist als Sie. Ebenso hat eine Person mit Dysrationalität mit fast der gleichen Wahrscheinlichkeit eine überdurchschnittliche wie einen unterdurchschnittliche Intelligenz.

Um zu verstehen, woher die Rationalitätsunterschiede zwischen verschieden Personen kommen, empfiehlt Stanovich, sich den Verstand dreigeteilt zu denken. Erstens gibt des den autonomen Verstand, welcher problematische kognitive Abkürzungen verwendet. Stanovich nennt das „Typ-1-Verarbeitung“. Sie geschieht schnell, automatisch und ohne bewusste Kontrolle.

Der zweite Teil ist der algorithmische Verstand. Dieser beschäfigt sich mit Typ-2-Verarbeitung, also dem langsamen, mühsamen, „logischen“ Denken, welches Intelligenztests messen.

Der dritte Teil ist der reflektive Verstand. Er entscheidet, wann die Urteile des autonomen Verstandes genügen und wann die schwere Maschinerie des algorithmischen Verstandes zu Rate gezogen werden soll. Der reflektive Verstand scheint entscheidend dafür zu sein, wie rational jemand ist. Der algorithmische Verstand kann sich in voller Gefechtsbereitschaft befinden, er kann Ihnen aber nicht helfen, wenn Sie ihn nicht richtig in Anspruch nehmen.

Wann und wie der reflektive Verstand aktiv wird, hängt mit mehreren Persönlichkeitsmerkmalen zusammen, etwa ob jemand dogmatisch, flexibel, aufgeschlossen oder gewissenhaft ist oder mit Ambiguitäten umgehen kann.

„Die inflexible Person zum Beispiel hat Mühe, neues Wissen zu assimilieren“, führt Stanovich aus. „Personen mit einem starken Bedürfnis, Dinge zu einem Abschluss zu bringen, legen die Arbeit bei der erstbesten Lösung nieder. Eine bessere Lösung zu finden, würde mehr kognitive Anstrengung erfordern.“

Denkstrategien

Zum Glück kann rationales Denken gelehrt und gelernt werden. Stanovich denkt, das Schulsystem sollte viel mehr Gewicht darauf legen. Die Grundlagen des statistischen und wissenschaftlichen Denkens zu vermitteln, hilft. Gleiches gilt für allgemeinere Denkstrategien. Studien zeigen, dass eine gute Methode zur Verbesserung des kritischen Denkens darin besteht, sich jeweils systematisch das Gegenteil vorzustellen. Ist dies einmal zur Gewohnheit geworden, hilft es nicht nur, alternative (bzw. alle jeweils möglichen) Hypothesen zu berücksichtigen, sondern auch bei der Vermeidung des Anchoring Bias, des Confirmation Bias sowie des Myside Bias.

Stanovich spricht sich dafür aus, dass Psychologen Tests zur Ermittlung eines Rationalitätsquotienten (RQ) entwickeln, welche dann IQ-Tests ergänzen können. „Ich bin nicht notwendigerweise dafür, jedem und jeder Tests aufzuzwingen“, sagt er. „Aber wenn man kognitive Funktionen schon testet, warum soll man sich dann auf einen IQ-Test beschränken, welcher nur einen bestimmten Bereich der kognitiven Funktion misst?“

Quellenangabe

Kleiner, K. (2009). Why smart people do stupid things. University of Toronto Magazine.

Stanovich, K. (2009). What intelligence tests miss: The psychology of rational thought. New Haven: Yale University Press.

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