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„Bananen und Eier“ oder „Süssigkeiten und Fleisch“? – Die Lebensmittel(q)wahl armer Menschen

on August 3. 2013

Die Millennium Goals der UN definieren als erstes Ziel die Reduktion von Armut und Hunger. Die Verbindung und Gleichsetzung von Armut und Hunger entspricht der Sichtweise des sogenannten Westens: Arm sind Menschen in erster Linie dann, wenn ihr Haushaltseinkommen nicht ausreicht, um genügend Kalorien pro Tag zu sich nehmen zu können. So legt auch ein Grossteil der Regierungen ihr Hauptaugenmerk auf die quantitative Bereitstellung von Nahrung.

Obwohl ein hoher Anteil der Nahrung bei der Lieferung verdirbt oder von Ratten gegessen wird – in Indien geht so die Hälfte des Weizens und ein Drittel des Reises „verloren“ –, geht man weiterhin von der Annahme aus, dass dies der effektivste Weg ist, um Poverty Traps zu bekämpfen. Folgender Gedanke scheint auf den ersten Blick ziemlich einleuchtend: Da sich sehr arme Menschen nicht genügend Essen leisten können, sind sie unproduktiver und können sich nicht aus eigenem Antrieb aus ihrer Armutsfalle befreien.
 Eine solche Annahme geht davon aus, dass arme Menschen die maximale Anzahl an Kalorien zu sich nehmen, die sie sich leisten können. Wenn dem so wäre, würden sie durch eine bessere Bereitstellung von Nahrungsmitteln mehr essen, wären produktiver und würden einer effizienteren Arbeit nachgehen. Banerjee und Duflo sahen diese Hypothese in der Realität jedoch oft nicht bestätigt. Die meisten Menschen, welche mit weniger als 99 Cent am Tag auskommen mussten, zeigten nicht das von Hungernden erwartete Verhalten. Bei der Betrachtung von 18 Ländern hat sich herausgestellt, dass der Anteil des Nahrungsmittelkonsums an den Gesamtausgaben von extrem armen Menschen 45 bis 77 Prozent in ländlichen, beziehungsweise 52 bis 74 Prozent in städtischen Gebieten beträgt. Das ist erstaunlich wenig.

Das Kriterium der Maximierung von Kalorien oder  Mikronährstoffen scheint nicht entscheidend zu sein; nur rund die Hälfte der neu zur Verfügung stehenden Mittel werden für  Nahrungsmittel mit einer höheren Kaloriendosis ausgegeben, der Rest wird für den Kauf von schmackhafteren und teureren Nahrungsmitteln mit derselben Anzahl an Kalorien verwendet. So haben Robert Jensen und Nolan Miller in zwei Regionen Chinas die Grundnahrung subventioniert und dabei festgestellt, dass arme Haushalte durch die vergrösserte Kaufkraft weniger von den subventionierten Produkten konsumierten, dafür umso mehr Crevetten und Fleisch. In einer anderen Untersuchung haben Angus Deaton und Jean Dreze dasselbe Phänomen bei etwas reicheren Haushalten vorgefunden. Zudem hat sich die Anzahl an Menschen in Indien, welche Unterernährung angeben, zwischen 1983 und 2004 von 17 auf 2 Prozent merklich verkleinert.

Zumindest in Bezug auf das Nahrungsmittelangebot produzieren alle Länder zusammen genug Lebensmittel, um allen Menschen die notwendige Kalorienanzahl zur Verfügung zu stellen. Die Tatsache, dass auch heute noch Menschen trotzdem verhungern, liegt vor allem daran, dass die Verteilung noch nicht effizient genug (geschweige denn gerecht) ist und die westlichen Industrienationen übermässig viel konsumieren und verschwenden.

Banerjee und Duflo haben zu diesem Zweck die Philippinen untersucht und anhand der dortigen Preise die Kosten für die günstigste Ernährung ausgerechnet, welche 2400 Kalorien pro Tag entspricht. Die Ausgaben belaufen sich auf 21 Cent, was auch für eine alleinstehende Person mit nur 99 Cent Einkommen pro Tag gut bezahlbar wäre. Die Nahrung würde sich dabei aus Bananen und Eiern zusammensetzen. Wenn diese Menschen also bereit wären, auf den Konsum von schmackhafteren Lebensmitteln zu verzichten, wären sie in der Lage ihre Ernährung zu sichern.

Unterernährung beginnt  nicht erst in der Kindheit, sondern im Bauch der Mutter

Es ist eine Tatsache, dass die ärmsten Menschen in Indien kleiner sind als der durchschnittliche, im Westen lebende Mensch und dementsprechend weniger Kalorien verbrauchen. Während genetische Eigenschaften in Bezug auf Grösse und Schlankheit auf individueller Ebene eine wichtige Rolle spielen, sind sie auf gesellschaftlicher Ebene wenig relevant. Betrachtet man Kinder aus einer Familie, die vor zwei oder drei Generationen in den Westen immigrierten, so sind diesbezüglich keine Unterschiede vorzufinden. Es scheint deshalb naheliegend, dass beispielsweise indische Menschen deshalb klein sind, weil sie und deren Eltern während der Wachstumszeit nicht genügend Nahrung  und damit zu wenig essentielle Nährstoffe zu sich genommen haben. Im Durchschnitt sind Erwachsene, welche während ihrer Kindheit gut ernährt wurden, grösser und intelligenter und verdienen deshalb auch besser als diejenigen, die unter einer schlechten Ernährung zu leiden hatten. Natürlich gibt es viele kleine Menschen, welche sehr intelligent sind – grössere Menschen haben jedoch mit einer grösseren Wahrscheinlichkeit ihr genetisches Potential erreicht.

Diese Hypothese wird durch eine Untersuchung in Kenia unterstützt: Kindern, denen man während ihrer Schulzeit zwei Jahre lang Entwurmungstabletten zur Verfügung gestellt hat, gingen länger in die Schule und verdienten als junge Erwachsene 20 Prozent mehr als jene Kinder, welche in vergleichbaren Schulen nur über ein Jahr die selben Tabletten einnahmen. Weitere Studien auf diesem Gebiet haben gezeigt, dass unterernährte Kinder mit einer erhöhten Wahrscheinlichkeit kleiner sind, einen tieferen Ausbildungsgrad erreichen und selbst kleinere Kinder zur Welt bringen.

In Tansania wurden mit Hilfe eines Regierungsprogramms Jod-Kapseln an schwangere Mütter verteilt. Die Kinder dieser Mütter gingen zwischen einem Drittel und einem halben Jahr länger zur Schule als Kinder, deren Mütter diese Kapseln nicht erhalten hatten. In einem Land, in welchem die meisten Kinder nur vier bis fünf Jahre in die Schule gehen bedeutet dies eine Verkürzung der Schulzeit auf gut drei Jahre. Stellt man jeder Mutter diese Kapseln zur Verfügung, würden die schulischen Anwesenheiten der Kinder in Zentral- und Südafrika voraussichtlich um 7,5 Prozent steigen. Dies wiederum würde deren Produktivität in ihrem späteren Leben erhöhen.

Doch mit einer erhöhten Kaloriendosis ist es nicht getan, viel wichtiger ist die Bereitstellung und Aufnahme von wichtigen, oftmals fehlenden Nährstoffen. Ein wichtiger Nährstoff ist Eisen, welches Anämie vorbeugen kann. Die Supplementierung von Eisen ist keine teure Angelegenheit und könnte mit der notwendigen Aufklärung zu einer enormen Verbesserung der Gesundheit von vielen Menschen beitragen. Hunger an sich ist nicht zwangsweise die Todesursache vieler armer Menschen. Viel bedeutender ist die fehlende Nährstoffaufnahme in der Kindheit, die zu einem abgeschwächten Immunsystem und folglich zu einer erhöhten Krankheitsgefahr führt.

Viele arme Menschen sind sich des Nutzens einer nährstoffreichen Ernährung  gar nicht bewusst. Bis vor einiger Zeit war dieser auch unter WissenschaftlerInnen nicht anerkannt.
 
Abgesehen von fehlenden Informationen gibt es aber auch kulturelle und gesellschaftliche Gründe für eine fehlgerichtete Aufteilung des Haushaltsgeldes. So ist es weithin dokumentiert, dass arme Menschen in Entwicklungsländern einen nicht unbedeutenden Teil ihres Einkommens für Hochzeiten, Mitgiften, Taufen, Beerdigungen und andere Feste ausgeben. In Südafrika kostet eine Beerdigung zum Beispiel circa 40 Prozent des Jahreseinkommens eines Haushaltes. Auch Dinge wie ein Fernseher oder ein DVD-Spieler scheinen für viele arme Menschen manchmal wichtiger zu sein als eine gesunde Ernährung.

Auf quantitativer Ebene scheint es also keine auf Ernährung basierende Armutsfalle zu geben. Es lässt sich aber ein Zusammenhang finden zwischen dem Einkommen der Eltern und dem zukünftigen Einkommen deren Kinder. Der Grund dafür ist die schlechte Nährstoffbereitstellung während der Kindheit, wodurch sie später in ihren kognitiven und physischen Eigenschaften eingeschränkt sind und weniger verdienen. Es ist deshalb ausgesprochen wichtig, dass direkt in Kinder und schwangere Mütter investiert wird, indem man ihnen mit Nährstoffen angereicherte Nahrungsmittel zur Verfügung stellt; Kinder im Vorschul- und Schulalter entwurmen lässt oder indem man den Eltern Anreize gibt nährstoffreiche Supplemente zu kaufen.

In einigen Ländern werden diese Ideen schon umgesetzt. So ist die Regierung von Kenia daran so viele Kinder wie möglich in den Schulen zu entwurmen; in Kolumbien werden Tagesmahlzeiten von Vorschulkindern mit wichtigen Nährstoffen angereichert und in Mexiko werden Supplemente kostenfrei an Familien abgegeben. Mit Hilfe von Organisationen wie Micronutrient Initative und HarvestPlus, welche beispielsweise eine Auswahl an Süsskartoffeln, welche reich an Betakarotin sind, in Uganda und Mosambik eingeführt haben, können solche Ideen weiterverbreiten werden. Zudem wird in verschiedenen Ländern ein neues Salz erprobt, welches mit Eisen und Jod angereichert ist.

André Acosta und Jessica Fanzo konnten in ihrer Studie aufzeigen, dass ökonomisches Wachstum alleine das Hungerproblem nicht lösen kann. Damit für die Ernährungssicherheit in den entsprechenden Ländern gesorgt ist, braucht es verschiedene Interventionsmöglichkeiten wie zum Beispiel eine Verbesserung des Zugangs zu notwendigen Nährstoffen, ebenso wie eine vereinfachtere Nutzweise (z.B. in Tablettenform) und auch ein verstärktes politisches Engagement diese Probleme anzupacken. Die Länder müssen sich dabei vor allem auf die gefährdetsten Bevölkerungsgruppen konzentrieren und diese mit einer gleichberechtigten, menschenrechtskonformen Herangehensweise behandeln und ihnen die nötigen Hilfeleistungen zur Verfügung stellen.Wir sollten in Hilfsorganisationen und Politikmassnahmen investieren, welche auch tatsächlich am entscheidenden Punkt ansetzen: Bei (werdenden) Müttern und Kindern.